Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 203: Religiöse Sonderrechte auf dem Prüfstand

Nachruf auf Dr. Helmut Simon (1.1.1922 – 26.9.2013)

Ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und Richter am Bundesverfassungsgericht

aus: vorgänge Nr. 203 (3-2013), S.146-148

„Ein Richter, ein Bürger, ein Christ“, so lautet der Titel der 1.100-Seiten-Festschrift für Helmut Simon aus dem Jahr 1987(4).Und das ist in der Tat die knappste und treffendste Beschreibung des Lebenswerks von Helmut Simon: als Richter am Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht, als persönlich engagiertes Mitglied der Gustav Heinemann-Initiative und als mehrmaliger Kirchentagspräsident. Mit 91 Jahren ist Helmut Simon am 26. September 2013 verstorben.

Der Richter

Als Richter am Bundesgerichtshof und später als Richter im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts hat Helmut Simon Rechtsgeschichte geschrieben. Es waren Verfahren, die ganz wesentlich durch Helmut Simons zentrale Rolle „den Bürgern der Republik zu mehr Freiheit verholfen haben,“ wie die Süddeutsche Zeitung feststellte(5).

Als Verfassungsrichter stammen aus seiner Feder insgesamt 95 Urteile und Beschlüsse, darunter zu Themen wie Mitbestimmung der Arbeitnehmer, Rundfunkfreiheit, Hochschulorganisation, Demonstrationsrecht, Gleichberechtigung, Rente als Eigentum, Ostverträge, lebenslange Freiheitsstrafe, wirtschaftliche Nutzung von Atomenergie oder auch zur Entführung Schleyers. Das Bundesverfassungsgericht hatte es damals abgelehnt, staatlichen Stellen vorzuschreiben, wie sie im konkreten Fall vorzugehen haben.
Helmut Simon selbst zählte zu seinen besonderen Verdiensten die Grundsatz-Entscheidung zum Demonstrationsrecht im Brokdorf-Beschluss von 1985, das staatliche Organe zu demonstrationsfreundlichem Verhalten verpflichtet. Und in der Tat enthält das Brokdorf-Urteil immer wieder als legendär zitierte Sätze: Demnach bieten Versammlungen „die Möglichkeit zur öffentlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest…; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftige Routine zu bewahren.“(6) Helmut Simon wollte gewaltfreien Ungehorsam gegenüber dem Staat nicht kriminalisiert wissen; Friedensblockaden waren für ihn allenfalls eine Ordnungswidrigkeit.

Der Bürger

Gemeinsam mit Erhart Eppler und Carola Stern sowie den Ehepaaren Dirks, Gollwitzer, Jens und anderen wählte Helmut Simon eine der einfachsten Formen gesellschaftlicher Partizipation: die Bürgerinitiative. 1978 gehörte Helmut Simon zu den Gründern der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI). In seinem Vorwort zur Gründungserklärung der GHI formuliert er hoffnungsvoll: „Die Bereitschaft nimmt zu, aus dem lähmenden Zustand von Perspektivlosigkeit, Resignation und Vereinsamung auszubrechen, wie er seit dem Umschlag der Aufbruchs- und Reformeuphorie Ende der sechziger/ Anfang der siebziger Jahre über uns gekommen ist.“(7)
Die friedenspolitischen Positionen der GHI sind durch Helmut Simon wesentlich geprägt worden und haben durch ihn öffentlich immer wieder starke Unterstützung erfahren. So argumentierte Simon in einem Spiegel-Interview vom Januar 2003, warum die Bundesrepublik im Sicherheitsrat einer Irak-Invasion nicht zustimmen darf: „Ein nicht mandatierter Alleingang außerhalb der Befugnis zur Selbstverteidigung gegen Angriffe ist rechtlich nichts anderes als ein verfassungs- und völkerrechtswidriger Angriffskrieg im Sinne des Art. 26 GG und des Gewaltverbots in Art. 2 Nr. 4 der UNO-Satzung. Das Grundgesetz schreibt in Artikel 26 das ‚Verbot des Angriffskriegs’ vor … Schon im Parlamentarischen Rat der Bundesrepublik wurde bemängelt, dass Angriffskriege gerne als Friedenssicherung frisiert werden. Im Zwei plus Vier-Vertrag zur deutschen Einheit ist die Verfassungswidrigkeit und Strafbarkeit von Angriffskriegen noch einmal ausdrücklich bekräftigt worden. Von Rechts wegen zu verwerfen ist schließlich jeder unverhältnismäßige kriegerische Gewaltgebrauch ohne vorherige Erschöpfung friedlicher Konfliktregulierungen, also ein Krieg, der nicht mehr als ultima ratio anzusehen ist.“(8)
Simon war, wie Heinemann und viele andere, Gegner der Wiederbewaffnung und der Atombewaffnung der Bundeswehr, ebenso wie er später gegen die Nachrüstung eintrat. Es dürfte für die Kriegsdienstverweigerer seinerzeit vertrauensbildend gewesen sein, dass ein Mann mit diesen Auffassungen nach seinem Abschied als Bundesverfassungsrichter jahrelang Präsident der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen gewesen ist.

Der Christ

„Vom Bauernbub zum Verfassungsrichter und Kirchentagspräsidenten“, so lautet der Untertitel seiner Lebenserinnerungen. Helmut Simon stammt aus einer pietistisch geprägten Bauernfamilie im Oberbergischen Kreis in Nordrhein- Westfalen; sein Geburtsort ist Waldbröl. Seine Weigerung, der SA und NSDAP beizutreten, hat er später mit Hinweis auf die geistige Unabhängigkeit seines bäuerlichen Elternhauses erklärt. Simons theologisches Denken ist von Karl Barth, der zur Bekennenden Kirche gehörte, geprägt worden. Barth war es auch, der Simon vom Theologie-Studium abriet und meinte, das Nachkriegsdeutschland brauche gute Juristen. Auch wenn er dann tatsächlich die Juristenlaufbahn wählte, blieben ihm Theologie und Kirche nah. Pastor Heinrich Albertz schrieb in der Festschrift zu Simons Verabschiedung als Verfassungsrichter 1987: „Er weiß von der politischen Dimension des Evangeliums mehr als die meisten Theologen.“
1977 und 1989 war Helmut Simon Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags, oftmals nahm er an Debatten auf den Kirchentagen teil. Legendär sei die Rolle gewesen, heißt es, die er auf dem Kirchentag in Hamburg 1981 spielte, als die leidenschaftliche Debatte über die Nachrüstung aus dem Ruder zu laufen drohte. Simon schickte die mit Schildern zum Schutz der Podiumsteilnehmer_innen angerückten Polizisten von der Bühne und machte dann den Vorschlag, als Unterbrechung solle jeder in den nächsten 15 Minuten mit seinem Nachbarn oder der Nachbarin im Plenum weiter diskutieren. Der Kunstgriff funktionierte, die Debatte kam wieder in zivile Bahnen.
Die „politische Dimension des Evangeliums“ dürfte auch im Hintergrund gestanden haben, wenn Simon an das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes große Erwartungen richtete. Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe, sie unterliegen in bestimmtem Umfang auch der Weiterentwicklung und Ausgestaltung des Gesetzgebers. Dies gilt zum Beispiel für die unter maßgeblicher Beteiligung von Helmut Simon gefassten Grundsatzentscheidungen zum Numerus-Clausus oder auch zum Teilhaberecht im Bildungsbereich. Der Sozialdemokrat Simon hat betont, dass es im Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes um die Herstellung der materiellen Bedingungen für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten geht. Er trat sogar dafür ein, „aus dem Sozialstaatsgebot ein grundsätzliches Verschlechterungs- und Rückschrittsverbot herzuleiten.“(9) Nur dort solle dem Gesetzgeber ein Abbau von Sozialleistungen erlaubt sein, wo dies mit überwiegenden Gemeinwohlbelangen gerechtfertigt werden könne. Im Blick auf die elementare Bedeutung der Sozialstaatsidee für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten und im Blick auf „seine ethische Verankerung in der Gerechtigkeitsidee spricht viel für ein solches Verbot“, meinte Simon.(10)
„Wer wenig im Leben hat, soll viel im Recht haben“(11) – aus dieser Haltung heraus hat sich Helmut Simon für die Schwachen und die Minderheiten in der Gesellschaft eingesetzt. Die Stunden des Klavierspiels und seine besondere Liebe zur Musik Mozarts mögen ihn entschädigt haben für die Kritik und Zumutungen derjenigen, die dem Richter an den höchsten Bundesgerichten sein über die Ämter hinausgehendes politisch-gesellschaftliches Engagement in den großen Debatten der Bundesrepublik übel nahmen. Wer das Lebenswerk eines wahrhaften Demokraten kennenlernen will, muss sich mit Helmut Simon beschäftigen.

WERNER KOEP-KERSTIN ist Bundesvorsitzender der Humanistischen Union und war zuvor viele Jahre in der Gustav Heinemann-Initiative aktiv, zuletzt als deren Vorsitzender.

(4) Ein Richter, ein Bürger, ein Christ: Festschrift für Helmut Simon. Baden-Baden 1987.
(5) Süddeutsche Zeitung v. 28. 9.2013.
(6) Brokdorf-Entscheidung zum Demonstrationsreccht: BVerfGE 69, 315ff.
(7) Vorwort von Helmut Simon zur Erklärung zur Gründung der Gustav-Heinemann-Initiative, in: Bekommen wir eine andere Republik? Hrsg. v. Gustav-Heinemann-Initiative. Stuttgart 1978, S. 9ff.
(8) Spiegel online: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ex-verfassungsrichter-helmut-simon-plaedoyer-gegen-einen-frisierten-angriffskrieg-a-232070.html
(9) Helmut Simon: Recht bändigt Gewalt. Eine autorisierte Biografie. Berlin 2011, S. 292.
(10) Ebenda, S. 292.
(11) Ökumenische Rundschau 1967 (16), S. 338-357

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