Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 203: Religiöse Sonderrechte auf dem Prüfstand

Zur aktuellen Lage des Religi­ons­ver­fas­sungs­rechts in Deutschland

Fragen an Christoph Möllers und Hermann Weber

aus: vorgänge Nr. 203 (3-2013), S. 5-15

PROF. DR. CHRISTOPH MÖLLERS   (Jahrgang 1969) ist seit dem Wintersemester 2004/2005 Professor für Öffentliches Recht. Gegenwärtig hat er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Im zweiten Hauptamt arbeitet er als Richter am Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Seit April 2012 ist er zudem Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er leitet die Programme Recht im Kontext und Rechtskulturen. 2007 referierte er auf der Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zum Thema „Religionsfreiheit als Gefahr?“ 2010 kommentierte er bei den Verhandlungen des Deutschen Juristentages das Gutachten zum Thema „Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?“.

PROF. DR. HERMANN WEBER   (Jahrgang 1936) arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin und ist Honorarprofessor für Öffentliches Recht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 1974 bis 2001 war er Schriftleiter der Neuen Juristischen Wochenschrift. Seit seiner Dissertation 1966 in Tübingen zu den Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes ist das Religionsrecht eines seiner Hauptarbeitsgebiete geblieben. 1970 veröffentlichte er eine Schrift zu den Grundproblemen des Staatskirchenrechts. Als Rechtsanwalt vertrat er die Zeugen Jehovas in dem Verfahren über die Erlangung des Körperschaftsstatus vor dem Bundesverfassungsgericht.

Welche Bezeichnung ist für die deutsche Rechtslage zutreffend: Religionsverfassungsrecht oder Staatskirchenrecht?

Hermann Weber: Die Bezeichnung Religionsverfassungsrecht ist präziser. Noch besser ist der Begriff „Religionsrecht“: Er macht deutlich, dass staatskirchenrechtliche (bzw. religionsrechtliche) Regelungen nicht nur auf der Verfassungsebene, sondern auch unterhalb dieser Ebene auf der Ebene des einfachen Rechts existieren. Der Begriff trägt der Tatsache Rechnung, dass das – traditionell als Staatskirchenrecht bezeichnete – staatliche Religionsrecht schon immer nicht nur das Verhältnis des Staates zu den (christlichen) Kirchen, sondern auch zu allen anderen Religionsgemeinschaften regelt.

Christoph Möllers: Die Zweitgenannte hebt die Staatskirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung, die Erstgenannte die Religionsfreiheit des Art. 4 GG systematisch hervor. Das Problem des Ausdrucks „Staatskirchen“ liegt weniger in seinem Bezug auf den Staat, der indiziert, dass es ein Religionsrecht jenseits der Grundrechte gibt, als im dem Bezug auf „Kirche“; denn eine Beschränkung auf christliche Religionsgemeinschaften kennt das Grundgesetz nicht.

Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für den Bezeichnungsstreit bzw. für den Wandel in der Bezeichnung?

HW: Hauptursache für die neue Terminologie ist die wachsende Bedeutung der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere des Islam. Sie ist insofern zu begrüßen, weil sie den sozialen Veränderungen Rechnung trägt. Man sollte jedoch vermeiden, mit den Begriffen unterschwellig bestimmte Inhalte zu transportieren, damit meine ich zum Beispiel „Staatskirchenrecht“ als Kurzformel für ein traditionelles, vor allem die großen Kirchen begünstigendes Verständnis des Religionsrechts, oder „Religionsverfassungsrecht“ als Sammelbegriff für ein stärker laizistisches Verständnis.

CM: Bei den Bezeichnungen geht es um einen Richtungsstreit in der Sache, insofern erfüllen sie eine sinnvolle Funktion im Kontext einer wissenschaftlichen Polemik, obwohl sie in der Sache natürlich verkürzend sind. Die wachsende Bedeutung der Grundrechte unter der Bedingung einer pluralisierten Religionslandschaft hat dazu geführt, dass die Rückwirkungen der Grundrechte auf die Angebote der WRV zu einer zentralen Frage wurden.

Warum kommen die Weltanschauungsgemeinschaften bzw. die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses dennoch auch in der neuen Bezeichnung nicht vor?

HW: Der Grund dürfte in der Verfassung selbst liegen, die die entsprechenden Regelungen in direktem Zusammenhang mit Religionsgemeinschaften und Religionsfreiheit trifft. In der Sache ist freilich unbestritten, dass für Weltanschauungsgemeinschaften und weltanschauliches Bekenntnis im Grundsatz nichts anderes gilt als für Religionsgemeinschaften und religiöses Bekenntnis. Ob man das auch terminologisch in der Bezeichnung des Rechtsgebiets zum Ausdruck bringen muss (denkbar wäre „Religions- und Weltanschauungsrecht“), mag bezweifelt werden. Wo im Folgenden von Religionsfreiheit und von dem Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften die Rede ist, sind jedenfalls die Weltanschauungsfreiheit und der Rechtsstatus der Weltanschauungsgemeinschaften stets mit gemeint.

CM: Dies ist eine begriffliche Ungenauigkeit, die aber auch gesellschaftliche Relevanzen abbildet: anders als christliche, jüdische, muslimische u.a. Religionsgemeinschaften spielen andere Weltanschauungsgemeinschaften für die öffentliche Diskussion keine große Rolle und taten dies auch nicht zur Zeit der Kodifikation der in Frage stehenden Normen. Weltanschauungen werden zudem im Grundgesetz anders verarbeitet, namentlich durch politische Parteien.

Trifft die Feststellung, dass Religion Privatsache ist, die deutsche Rechtslage?

CM: Sicherlich nicht, sonst gäbe es keinen öffentlichen Körperschaftsstatus und keinen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in staatlichen Schulen. Sie trifft auch keine mir bekannte Religion.

HW: In meinen Augen nur bedingt: Religion ist zwar nicht Sache des Staates, wohl aber obliegt diesem der Schutz der in der Verfassung grundrechtlich und institutionell gewährleisteten Religionsfreiheit und Freiheit der Religionsgemeinschaften.

Hat die negative Religionsfreiheit verfassungsrechtlich das gleiche Gewicht wie die positive Religionsfreiheit?

HW: Im Grundsatz ja. Zu beachten ist freilich, dass es bei der negativen Religionsfreiheit um die Freiheit vor ungewollten religiösen Beeinflussungen und Zwängen durch den Staat geht – eine Freiheit, deren Schutz naturgemäß anders ausgestaltet sein muss als der Schutz der positiven Freiheit zu religiösen Betätigungen.

CM: Die Unterscheidung ist dogmatisch nicht hilfreich: Grundsätzlich müssen alle Eingriffe eine Bagatellgrenze überschreiten. Nicht jede Störung durch Religion verletzt die negative Religionsfreiheit. Grundsätzlich dürfen umgekehrt Ansprüche aus der Religionsfreiheit nicht auf Kosten der Rechte anderer ausgeübt werden. Zwischen beiden Schwellen besteht kein qualitativer Unterschied.

Was bedeutet verfassungsmäßige Gleichbehandlung von Religionsgemeinschaften?

HW: Wesentlicher Inhalt ist, dass alle Religionsgemeinschaften ohne Wertung ihres religiösen Bekenntnisses vom Staat in gleicher Weise behandelt werden. Der religiöse Grundstatus, also Religionsfreiheit und religionsgemeinschaftliches Selbstbestimmungsrecht, steht allen Religionsgemeinschaften in gleicher Weise zu. Bei den darüber hinausgehenden, etwa den mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Rechten sind Unterscheidungen schon in der Verfassung angelegt. Auch die für die Verleihung dieser Rechte nach dem Grundgesetz maßgeblichen Kriterien sind freilich neutral, also ohne Wertung des religiösen Bekenntnisses der antragstellenden Gemeinschaft, anzuwenden.

CM: Die Rechtsordnung muss alle Gemeinschaften nach gleichen Standards schützen, und sie muss allen gleiche Angebote machen, freilich keine Angebote, die von allen gleich gut wahrgenommen werden können. Unterschiede in der Anlage der Religionsgemeinschaften erzeugen Unterschiede in der praktischen Brauchbarkeit der institutionellen Angebote, die als verfassungsunmittelbare nicht dem Gleichheitssatz unterfallen.

Welche Rechtsprobleme gibt es bei der staatlichen Anerkennung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Scientology, Bahá’í, Humanistischer Verband)?

HW: Eine staatliche Anerkennung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kennt das deutsche Recht nicht. Gemeint ist wohl die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Zu fragen ist bei einem solchen Antrag, ob es sich bei der antragstellenden Gemeinschaft wirklich um eine Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft handelt (was etwa für Scientology im Hinblick auf angeblich überwiegende wirtschaftliche Betätigungen von manchen bezweifelt wird), ob sie nach ihrer Verfassung und der Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bietet und ob sie darüber hinaus – so das BVerfG im Urteil zu den Zeugen Jehovas – die Gewähr dafür bietet, dass sie das geltende Recht beachten und in ihrem künftigen Verhalten fundamentale Verfassungsprinzipien nicht gefährden wird.

CM: Grundsätzlich bedürfen sie keiner förmlichen Anerkennung. Wie bei jedem Grundrecht stellt sich die Frage nach der Bestimmung des Schutzbereichs und nach der Internalisierung von Rechten anderer unter ein beanspruchtes Recht. Wenn das gesichert ist, stehen auch dem Körperschaftsstatus keine Bedenken im Wege. Die Frage, wie sich eine Religionsgemeinschaft als solche juristisch bestimmen lässt, betrifft ein altes grundrechtsdogmatisches Problem. Der Staat hat sich zunächst am Selbstverständnis der Gemeinschaft zu orientieren, muss diese freilich nicht einfach beim Wort nehmen, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass andere, sagen wir wirtschaftliche Interessen oder ausdrücklich verfassungsfeindliche Ziele wie expliziter Antisemitismus von der Gemeinschaft verfolgt werden.

Welche Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beziehungsweise die Werte der Bundesrepublik werden den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch das Grundgesetz zugedacht und dürfen ihm nach dem Grundgesetz zugedacht werden?

HW: Das Wirken der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist wie jede andere Tätigkeit im Bereich grundrechtlicher Gewährleistungen eine eigene Grundrechtsverwirklichung und zunächst keine Tätigkeit im Auftrag des Staates. Das schließt nicht aus, dass eine solche Grundrechtswahrnehmung zugleich im Interesse des Staates liegen mag, der nur beschränkt eigene Werte schaffen kann und insoweit zumindest unterstützend auf vielfältige Kräfte der Gesellschaft, unter ihnen die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und deren Glieder, zurückgreifen darf (Böckenförde). Man sollte allerdings vermeiden, diese Kräfte, insbesondere die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, in die Rolle „beliehener Unternehmer für Wertschöpfung“ zu drängen.

CM: Offensichtlich gingen die Autoren des Grundgesetzes von einem spezifischen Wert der Gemeinschaften für das gesellschaftliche Leben aus – eine alte These, die wir seit Tocqueville kennen. Man kann die Regeln aber andersherum lesen: die besonderen Institutionen der „Nähe“ zum Staat – durch Körperschaftsstatus, Schule und Universität – sind auch Mittel der Domestizierung der Religionsgemeinschaften in den demokratischen Rechtsstaat hinein. Sie entschärfen die Gefahren des Religiösen, und richten sie auf freiwilliger Grundlage aber durchaus wirksam auf den Bedarf eines demokratischen Rechtsstaats aus.

Sprechen wir über Herausforderungen, die die in Deutschland agierenden islamischen Gemeinden oder Verbände an das deutsche Rechtssystem stellen und umgekehrt. Welche sind das Ihrer Ansicht nach?

HW: Anders als die christlichen Kirchen und die herkömmlichen europäischen Religionsgemeinschaften, an deren Bild sich das deutsche Religionsrecht orientiert, bildet der Islam traditionell keine religionsgemeinschaftliche Organisation heraus. Vom Islam wird man also zumindest verlangen müssen, dass er mit dem deutschen Recht einigermaßen kompatible Rechtsstrukturen schafft; die Anforderungen hierfür dürfen auf der anderen Seite nicht zu hoch angesetzt werden. Ansätze für solche Anpassungen finden sich etwa in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anerkennung islamischer Dachverbände als Partner eines vom Staat veranstalteten islamischen Religionsunterrichts.

CM: Die zentrale Herausforderung für die Verbände, der eigenen internen Pluralität ein organisationsfähiges Format mit definierter Mitgliedschaft und Vertretungsstruktur zu geben, an welches die Institutionen, die das Grundgesetz anbietet, dann anschließen können, ist freilich kein ausschließlich islamtypisches Problem. Auch Teile des Protestantismus und das Judentum sind nicht in dieser Weise organisiert.

Halten Sie das Agieren des Bundesinnenministers in der Islamkonferenz für rechtlich korrekt und sachlich angemessen?

HW: Im Grundsatz ist ein solches Vorgehen solange rechtlich korrekt und angemessen, wie sich die Konferenz auf die Strukturierung der hier bestehenden Probleme beschränkt, keine verbindlichen Regelungen trifft und die Teilnahme freiwillig bleibt, eine Nichtteilnahme also keine rechtlichen Nachteile zur Folge hat. In der zweiten Tätigkeitsperiode der Konferenz dürften unabhängig von alledem Sicherheitsaspekte eine zu starke Rolle gespielt haben.

CM: Die Islamkonferenz war zunächst der Versuch, wechselseitige Erwartungen des Staates und islamischer Religionsgemeinschaften ausdrücklich zu machen, wie wir sie gerade besprochen haben. Da alle Beteiligten freiwillig agierten, wäre ich hier allerdings vorsichtig, Äußerungen nach Rechtskriterien zu beurteilen. Insgesamt scheint mir die Idee richtig gewesen zu sein, während die Ausführung deutlich nachließ, namentlich weil beide Seiten damit begannen, mehr mit der Öffentlichkeit als miteinander zu sprechen.

Teilen Sie den Vorwurf an die deutschen staatlichen Stellen, dass sie den Islam verstaatlichen wollen?

HW: Nein, ein gewisser Druck zur Organisation auf den Islam in Deutschland ist unvermeidlich, wenn die Muslime auf Dauer die institutionellen Vorrechte des deutschen Religionsrechts, das heißt Körperschaftsstatus, Religionsunterricht, theologische Ausbildung an den Universitäten, in Anspruch nehmen wollen.

CM: Wenn mit Kirche hier „Organisation“ gemeint ist und nicht „christliche Organisation“, teile ich die Beobachtung, würde sie aber nicht als Vorwurf verstehen. Die organisatorischen Angebote, die das deutsche Recht macht, kommen manchen Religionsgemeinschaften eher entgegen als anderen. Man kann das als Verkirchlichung des Islam oder als Katholisierung des Protestantismus bezeichnen. Das ändert aber nichts daran, dass man organisationsförmige Angebote nur organisierten Gruppen machen kann.

Wie beurteilen Sie verfassungsrechtlich die Bemühungen um Einführung eines islamischen Religionsunterrichts?

HW: Auch die Muslime haben nach dem Grundgesetz den Anspruch auf Religionsunterricht, das heißt, islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Die laufenden Bemühungen zu Einführung eines solchen Unterrichts sind daher zu begrüßen. Rechtlich einwandfreie Lösungen sind schwierig, mir schiene es akzeptabel, für eine – freilich nicht allzu großzügig bemessene – Übergangszeit verfassungsrechtlich nicht voll überzeugende Lösungen hinzunehmen. Das kann zum Beispiel die Heranziehung staatlich besetzter Beiräte als Ersatz für die Mitwirkung klar organisierter islamischer Religionsgemeinschaften oder die Kooperation mit der weitgehend vom türkischen Staat beeinflussten DITIB sein.

CM: Ich halte diese Bemühungen für verfassungsrechtlich geboten. Die Grundentscheidung für einen Religionsunterricht steht, ob man sie für richtig hält oder nicht, im Grundgesetz. Die Unterscheidung zwischen echten Religionsgemeinschaften und bloßen Beiräten oder Dachorganisation erscheint mir, solange ein fundierter religiöser Hintergrund besteht, überschätzt, ja gerade ein Punkt zu sein, in dem das Organisationsrecht zugunsten grundrechtlich geschützter religiöser Vielfalt relativiert werden muss.

Halten Sie die weitgehend exklusive vertragliche Festlegung der Kooperation des Staates mit bestimmten Religionsgemeinschaften für verfassungsrechtlich legitim und sachlich angemessen? Wie sind die abgeschlossenen Verträge nach Gleichheitsgesichtspunkten zu beurteilen? Braucht es rechtlich eine öffentliche parlamentarische Diskussion solcher Verträge? Müssen diese Verträge befristet sein und kündbar?

HW: Staatskirchenverträge haben sich als Regelungsform für das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland im Prinzip bewährt. Zum Gleichheitsbedenken: Die heute flächendeckend mit den jüdischen Gemeinden abgeschlossenen Verträge sowie die ersten Verträge mit muslimischen Gruppierungen in Hamburg und Bremen machen die Richtung deutlich, die mit Entschiedenheit weiter verfolgt werden sollte. Eine öffentliche parlamentarische Diskussion der Verträge ist selbstverständlich erforderlich – von Verfassung wegen im Gesetzgebungsverfahren. Die Verträge mit den Muslimen in Hamburg und Bremen, auch wenn ihnen keine Gesetzeskraft zukommt, sind sinnvollerweise von den Landesparlamenten öffentlich diskutiert worden.

Verfassungsrechtliche Probleme liegen eher in den beschränkten Einflussmöglichkeiten der Parlamente, die von der Exekutive ausgehandelten Verträge zu verändern, und in der Bindungswirkung der Verträge für künftige Gesetzgeber. Diesen Problemen sollte in Zukunft durch stärkere Beteiligung der Parlamente bereits an der Aushandlung der Verträge, durch klarere Revisionsklauseln, aber auch durch Befristungen und Kündigungsmöglichkeiten für die Verträge als ganze oder für einzelne Vertragsklauseln Rechnung getragen werden.

CM: Die Vertragsform ist aus demokratietheoretischer Sicht problematisch, sie ist in keinem Fall verfassungsrechtlich geboten, sondern ein Überbleibsel. Ihr Vorteil liegt nicht zuletzt darin, dass Zuwendungen intensiver geregelt werden als dies in Gesetzesform der Fall wäre, wo die eigentlichen Leistungen zumeist untergesetzlich oder bloß haushaltsrechtlich ausgestaltet werden. Parlamente am Aushandlungsprozess zu beteiligen, scheint mir dagegen im parlamentarischen System, in dem die Regierung das Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit genießt, wenig sinnvoll. Es hat sich im Übrigen auch beim Abschluss internationaler Verträge nur begrenzt bewährt.

Wie beurteilen Sie den immer noch schwelenden Streit um den Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas verfassungsrechtlich?

CM: Als sehr unangemessen, da die Rechtslage vom Bundesverfassungsgericht eindeutig zugunsten der Zeugen Jehovas entschieden wurde (Urteil vom 19. Dezember 2000 – 2 BvR 1500/97). Es handelt sich hier um einen selten eindeutigen Rechtsbruch.

HW: Nach mehr als 20 Jahre lang geführten Gerichtsverfahren kann kein berechtigter Zweifel daran bestehen, dass die Ablehnung der Zweitverleihung der Körperschaftsrechte an die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas durch drei Länder (Baden-Württemberg, Bremen, Nordrhein-Westfalen) gegen das Grundgesetz verstößt und die Rechte der Religionsgemeinschaft verletzt. Unabhängig davon sollte das Verfahren Anlass bieten, die gesamte derzeitige Verwaltungspraxis bei der Zweitverleihung der Körperschaftsrechte auf den Prüfstand der Verfassung zu stellen.

Können nach der Anerkennung des Ahmadiyya-Muslim-Jamaat-Verbandes als KdöR in Hessen weitere muslimische Religionsgemeinschaften als Körperschaften anerkannt werden?

HW: Wenn sie – wie der genannte Verband – die Anforderungen des Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV erfüllen und insbesondere eine ausreichende religionsgemeinschaftliche Organisation aufweisen.

CM: Warum nicht?

Wir werden in der Ausgabe der vorgänge, in der Ihr Gespräch erscheint, mehrere kritische Auseinandersetzungen mit dem kirchlichen Sonderarbeitsrecht finden. Ist dieses Ihrer Ansicht nach noch zeitgemäß? Sind die Sonderregelungen mit dem Grundsatz aus Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung vereinbar?

CM: Die Krise des kirchlichen Arbeitsrechts kommt sowohl von innen und als auch von außen. Sonderregeln bedürfen in jedem Fall einer Rechtfertigung, die sich aus den Anforderungen der jeweiligen Arbeitspraxis ergeben muss. Intern stellen sich die Religionsgemeinschaften aber oftmals als Arbeitgeber wie jeder andere dar. Hier sind die Grenzen schwerlich kategorisch neu zu bestimmen, sondern nur über die einzelne Fallgestaltung, die in der Tat in vielen Fällen nach einer Zurückdrängung von Sonderregeln verlangt. Grundsätzlich bleibt es aber dabei, dass jede Religionsgemeinschaft das Recht hat, im Bereich ihrer Verkündigung von Mitarbeitern mehr und anderes zu verlangen als in anderen Bereichen, und ihre interne Organisationsstruktur nach eigenen religiösen Grundsätzen zu gestalten.

HW: Ich denke, beim kirchlichen Arbeitsrecht handelt es sich um eine besonders neuralgische Materie, die sorgfältige Abwägungen zwischen dem Recht der Religionsgemeinschaften auf religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmung einerseits, den berechtigten Belangen der Arbeitnehmer im kirchlichen Dienst andererseits verlangt. Pauschale Antworten verbieten sich. Richtig ist aber, dass bei dieser Abwägung in der Vergangenheit die Belange der Arbeitnehmer oft allzu sehr hinter vermeintlichen Erfordernissen des kirchlichen Dienstes haben zurücktreten müssen. Ansätze für erste Korrekturen insbesondere im Individualarbeitsrecht der Kirchen ergeben sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Obst (EGMR, 23. September 2010 – 425/03), Schüth (EGMR, 23. September 2010 – 1620/03) und Siebenhaar (EGMR, 3. Februar 2011 – 18136/02).

Wie ist Ihre Position hinsichtlich der derzeit 481 Millionen Euro, die die beiden christlichen Kirchen jährlich aus staatlichen Zuwendungen erhalten? Diese sogenannten Staatsleistungen werden nicht zweckgebunden, sondern den Kirchen zur freien Verwendung überlassen. Seit 1919 existiert ein Verfassungsauftrag zur Ablösung respektive Einstellung dieser Zahlungen (Art. 138 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG), der nicht eingelöst wird. Haben wir deshalb einen verfassungswidrigen Zustand?

HW: „Ablösung“ bedeutet nicht schlicht „Einstellung“ der Zahlungen, sondern einseitige Aufhebung der Leistungen gegen Entschädigung. Die Grundsätze für diese Ablösung stellt nach Art. 138 Abs. 1 Satz 2 WRV das Reich (heute: der Bund) auf. Ein – hierfür nach allgemeiner Meinung erforderliches – (Bundes-)Gesetz ist niemals ergangen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die unterbliebene Ablösung der Staatsleistungen den Intentionen der Verfassung widerspricht. Sie wäre allerdings für die Länder mit erheblichen finanziellen Lasten verbunden. Sollte auch in Zukunft – wie zu erwarten – kein Gesetz über die Grundsätze der Ablösung zustande kommen, könnte an einvernehmliche Regelungen zwischen Staat und Kirchen in den einzelnen Bundesländern gedacht werden. Die Kirchen sollten sich solchen Regelungen nicht in den Weg stellen.

CM: Wir haben keinen verfassungswidrigen Zustand, denn die Ablösung ist nicht eindeutig als Pflicht definiert, sie ist eben ein – im Übrigen vorkonstitutioneller – Verfassungsauftrag, dessen Erfüllung nur zwingend erscheint, wenn eine oder alle Seiten mit dem bestehenden Zustand fundamental unzufrieden erscheinen. Dies müssen sich beide Seiten gut überlegen. Für den Staat würde es kurzfristig zusätzliche Kosten bringen, die er sich zweifelsohne wiederholen würde, indem er andere Leistungen, die sachbezogen gegeben werden, überprüfen würde. In einem auf Kooperation angelegten System ist dies nicht unbedingt die bessere Lösung. In jedem Fall werden wegen der kommenden Schuldenbremsen die Staatsleistungen in ihrem bisherigen Ausmaß nicht bleiben, zumal zugunsten von Religionsgesellschaften, die nicht willens sind, ihre eigene Finanzlage transparent zu machen.

Ist der Einzug der Kirchensteuer durch staatliche Finanzämter vor allem für die beiden Kirchen eine Ungleichbehandlung verschiedener Religionsgemeinschaften? Wie bewerten Sie den Umstand, dass alle Bürgerinnen und Bürger für den Kirchensteuereinzug ihre (Nicht-)Religions- bzw. Weltanschauungszugehörigkeit gegenüber den Finanzbehörden und den Banken offenlegen müssen?

HW: Ich denke, der Kirchensteuereinzug ist unvermeidlich eine Ungleichbehandlung steuerberechtigter und nicht steuerberechtigter Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Sie wird verfassungsrechtlich legitimiert durch Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 5, 6 WRV. Problematischer als die Offenbarung gegenüber den Finanzbehörden sind die Offenbarungspflichten gegenüber Arbeitgeber und Banken. Obwohl diese laut Rechtsprechung mit dem Grundgesetz vereinbar sind, sollten sie zumindest so einschränkend wie möglich ausgestaltet werden.

CM: Die Religionsgemeinschaften zahlen für den Einzug der Steuern eine Gebühr, die über der Kostendeckung liegen dürfte. Daher liegt keine Ungleichbehandlung vor. Solange der Körperschaftsstatus allen Religionsgemeinschaften offensteht, bleibt auch die Unterscheidung zwischen steuerberechtigten und anderen Religionsgemeinschaften ein Problem.

Die zweite Frage scheint mir noch nicht ausgelotet. Grundsätzlich gibt es ja auch ein Recht, seine Religionszugehörigkeit nicht zu äußern, auch wenn es nur einer schwach gerechtfertigten gesetzlichen Regelung bedarf, um eingeschränkt werden zu können. Aber ich sehe hier im Kontext der allgemeinen Grundrechtsdogmatik auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit kein ernsthaftes verfassungsrechtliches Problem.

Wie kann bei der staatlichen Veranstaltung bzw. Religions- und Weltanschauungsunterricht die Gleichbehandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gewährleistet werden?

HW: Durch gleichmäßige Ermöglichung eines Religions- bzw. Weltanschauungsunterrichts an staatlichen Schulen für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bei Erfüllung bestimmter, vor allem formaler Voraussetzungen – heißt ausreichende Schülerzahl, aber auch Rechtstreue.

CM: Mir scheint die Herausforderung heute praktisch eher auf Seiten der Gemeinschaften zu liegen, die eine Struktur ausbilden müssen, die es gestattet, das staatliche Angebot auf Religionsunterricht wahrnehmen zu können.

Wie beurteilen Sie die Verfassungsmäßigkeit eines gemeinsamen religionskundlichen Lehrfaches für alle Schüler_innen öffentlicher Schulen, in dem ethische und religionskundliche Kenntnisse in den Weltreligionen und wichtigen Weltanschauungen vermittelt werden?

CM: Grundsätzlich steht es dem Gesetzgeber frei, ein neues Lehrfach einzuführen, das dann aber in der Methode auf Philosophie, Geschichte oder Soziologie hinauslaufen dürfte, also gerade nicht religionsspezifisch ist.

HW: Ein solches Lehrfach ist auch neben einem bekenntnisgebundenen Religions- oder Weltanschauungsunterricht verfassungsrechtlich zulässig. Verfassungswidrig wird es freilich dann, wenn der Unterricht nicht religionsneutral gehalten wird, ihm also entweder eine missionierende Haltung zugunsten oder zulasten einzelner der behandelten Religionen oder aber eine allgemein religionskritische Haltung zugrunde liegt.

Können nach dem Grundgesetz christliche Gemeinschaftsschulen wie in Nordrhein-Westfalen und andere Formen staatlicher Schulen mit religiöser Ausprägung weiterhin zulässig sein?

HW: Ja, wenn sich die religiöse Ausrichtung auf die Berücksichtigung des Christentums als eines „prägenden Kultur- und Bildungsfaktors“ (BVerfG) beschränkt. Weitergehende religiöse Ausrichtungen staatlicher Schulen (wie der in Nordrhein-Westfalen noch existierenden katholischen oder evangelischen Konfessionsschulen2) setzen voraus, dass für eine solche Ausrichtung ablehnende Eltern und Schüler ausreichend alternative Schulen existieren.

CM: Konfessionsschulen sind im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen, jedoch kann niemand durch die Schulpflicht dazu gezwungen werden, diese auch zu besuchen. Grundsätzlich muss eine staatliche Schule ihren Schülern die Gelegenheit geben, eine einschüchternde oder missionierende Konfrontation mit Religion zu vermeiden, das bedeutet aber nicht, dass auf alle Bezüge auf Religion verzichtet werden muss. Religiöse Symbole können auch in einer staatlichen Schule verwendet werden, wenn dies die in einem lokalen Kontext vorherrschende religiöse Überzeugung zum Ausdruck bringt.

Halten Sie staatlich finanzierte theologische Fakultäten für rechtmäßig? Wie kann/soll dabei die religiös/weltanschauliche Neutralität des Staates von den Religionsgemeinschaften gewahrt werden?

HW: Sie sind rechtmäßig. Die religiös/weltanschauliche Neutralität des Staates sollte in erster Linie dadurch gewährleistet werden, dass eine theologische (bzw. weltanschauliche) Ausbildung an staatlichen Universitäten für alle eine Mindestgröße erreichende (und damit gesellschaftlich relevanten) Religionen und Weltanschauungen ermöglicht wird, die eine solche Ausbildung ihrerseits wünschen. Für die jüdische und die muslimische Theologie sind Ansätze hierfür bereits erkennbar. Im Übrigen muss sichergestellt werden, dass der Inhalt der theologischen Ausbildung nicht vom Staat, sondern von der jeweils betroffenen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft definiert wird.

CM: Der Staat muss sie nicht, aber er kann sie vorsehen. Die Einrichtung kann, muss sich aber nicht nach Bedarf richten. Niemand würde nach weltanschaulicher Neutralität des Staates fragen, wenn an einer philosophischen Fakultät nur Kant und an einer anderen nur Hegel gelehrt würde, beides sind nicht-neutrale philosophische Modelle. Gleiches gilt auch für die Theologie.

Wie sollen – unter der Voraussetzung, dass zunehmend auch der Islam als ordentliches Lehrfach unterrichtet werden kann – muslimische Religionslehrer_innen ausgebildet werden?

HW: Vorzugsweise an islamisch-theologischen Einrichtungen an staatlichen Universitäten, auch wenn hier zumindest für eine Übergangszeit immer wieder mit Problemen – wie zuletzt im Zusammenhang mit dem Lehrstuhlinhaber für islamische Religionspädagogik an der Universität Münster – gerechnet werden muss.

CM: Die Ausbildung sollte wissenschaftlich erfolgen, das heißt an entsprechenden Einrichtungen einer Universität, die ihre eigene Freiheit bei der Ausgestaltung des Studiums und bei der Bestimmung ihrer Methoden hat. Die Befreiung der Theologie aus Priesterseminaren und Gebetsschulen hat sowohl der Gesellschaft als auch der Religion gut getan.

In verschiedenen Bundesländern (z.B. in Bayern, Baden-Württemberg, NRW) haben Kirchenvertreter_innen noch ein Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung von nichttheologischen Professuren an staatlichen Universitäten (abgeleitet aus alten Staatskirchenverträgen bzw. Konkordaten). Wie beurteilen Sie dies unter Gleichheitsgesichtspunkten?

HW: Solche „Konkordatsprofessuren“ stehen meines Erachtens nicht nur im Widerspruch zu deutschem Verfassungsrecht, sondern sind auch europarechtlich problematisch. Neue Entwicklungen lassen allerdings vermuten, dass die kirchlichen Mitwirkungsrechte bei der Besetzung dieser Professuren in nächster Zeit im Einvernehmen mit den Kirchen entfallen können.

CM: Ich halte diese Konkordate ebenfalls für verfassungsrechtlich höchst problematisch, allerdings unter Freiheitsgesichtspunkten. Die Universitäten müssen solche Stellen unabhängig vom Einfluss anderer Akteure besetzen können.

Zum Abschluss: Wie beurteilen Sie die zahlreichen Steuererleichterungen und -befreiungen und Gebührenbefreiungen für die christlichen Kirchen? Gelten diese wirklich nur für die christlichen Kirchen oder auch für andere Körperschaften des öffentlichen Rechts?

HW: Sowohl die gesetzlich geregelten Steuererleichterungen und -befreiungen als auch die Gebührenbefreiungen beziehen sich in ihrer Mehrheit nicht auf die christlichen Kirchen, sondern auf alle öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften. Soweit das nicht ausdrücklich geregelt ist, sind sie in diesem Sinne auszulegen. Fraglich ist allerdings, ob dies nicht eine verfassungswidrige Benachteiligung der lediglich privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften darstellen kann.

CM: Grundsätzlich ist das deutsche Steuerrecht voller Befreiungen für alle möglichen Tatbestände. Eine Befreiung, die spezifisch Religionsgemeinschaften betrifft, kann zulässig sein, das lässt sich in dieser Abstraktheit nicht beantworten. Es gibt keine Pflicht des Gesetzgebers, alle unter ein bestimmtes Grundrecht (Art. 5, 8) fallenden Grundrechtsträger unter allen Umständen steuerlich gleich zu behandeln. Die Anknüpfung an den Körperschaftsstatus ist dann zulässig, wenn dieser Status selbst allen Religionsgemeinschaften offen steht und wenn sich eine andere Form der Anknüpfung nicht rechtssicher typisieren lässt.

Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Rosemarie Will.

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