Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 203: Religiöse Sonderrechte auf dem Prüfstand

Kippt das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt das Kopftuch­verbot in Nordrhein-West­fa­len?

aus: vorgänge Nr. 203 (3-2013), S. 99-100

Beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sind seit 2010 zwei Verfassungsbeschwerden gegen das nordrhein-westfälische Schulgesetz, das das Tragen von Kopftüchern verbietet, anhängig. Beschwerdeführerinnen sind eine sozialpädagogische Mitarbeiterin einer Schule und eine Lehrerin für Türkisch als muttersprachlichen Ergänzungsunterricht. Beiden ist wegen ihres Kopftuchs gekündigt worden. Das Bundesarbeitsgericht bestätigte in beiden Fällen die Kündigung. Selbst eine Perücke, mit der die Sozialpädagogin zuletzt das Kopftuch ersetzt hatte, wurde von Schulbehörde und Bundesarbeitsgericht als religiöses Symbol angesehen und verboten.

In dieser neuen Entscheidung, für die bei Redaktionsschluss ein Verhandlungstermin noch nicht festgesetzt war, wird das BVerfG Gelegenheit haben, sein bereits 10 Jahre altes erstes Kopftuchurteil zu überdenken. 2003 entschied das BVerfG im Fall Fereshta Ludin, dass Lehrer_innen religiöse Symbole im Schuldienst zwar verboten werden dürfen, aber nur dann, wenn es dafür eine hinreichende gesetzliche Grundlage gibt. Die Länder dürften selbst entscheiden – so das BVerfG – wie viel Religionsausübung sie in Anbetracht der multireligiösen Gesellschaft in öffentlichen Schulen zulassen wollen. Allerdings müsste die Lösung für alle Religionen gleichermaßen gelten und gesetzlich ausgestaltet sein.

Die acht Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Saarland änderten daraufhin ihre Schul- bzw. Beamtengesetze so, dass sie das Tragen bestimmter religiöser Symbole oder Kleidungsstücke im Schuldienst (in Hessen und Berlin auch in anderen Bereichen des Staatsdienstes) untersagen. In den übrigen acht Bundesländern wird über religiöse Bekundungen von Lehrer_innen im Einzelfall entschieden.

Von den acht Bundesländern, die ihre Schul- bzw. Beamtengesetze reformiert haben, erließen Bremen, Berlin und Niedersachsen Verbote, die sich auf alle religiösen und weltanschaulichen Bekundungen beziehen. Die anderen fünf Länder haben eine Formulierung gewählt, durch die christliche und jüdische Bekenntnisse mehr oder weniger deutlich privilegiert werden. So nimmt zum Beispiel das nordrhein-westfälische Schulgesetz die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ von dem Verbot, als Lehrkraft in der Schule religiöse Bekundungen abzugeben, aus (§ 57 IV Schulgesetz für das Land Nordrhein- Westfalen).

Auf der Grundlage des geänderten Schulgesetzes wurde Lehrerinnen bzw. Lehramtsanwärterinnen in Baden-Württemberg, Bremen und Nordrhein-Westfalen das Tragen eines Kopftuches verboten. Aufgehoben durch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) wurde 2008 nur die Bremer Entscheidung, eine Frau mit Kopftuch nicht zum Lehramtsreferendariat zuzulassen. Die Begründung des BVerwG lautete: Wegen des staatlichen Monopols bei der Lehrerausbildung seien an die Referendarin geringere Anforderungen zu stellen als an eine dauerhaft tätige Lehrkraft. Hier reiche eine abstrakte Gefährdung des Schulfriedens durch das Kopftuch nicht aus, vielmehr müsse die Schulbehörde nachweisen, dass von der Frau eine konkrete Gefahr ausgehe. Im November 2013 entschied aber das Verwaltungsgericht Düsseldorf, dass der Kreis Meppmann in Nordrhein-Westfalen zu Unrecht die Übernahme einer Beamtendienstanwärterin in den allgemeinen Verwaltungsdienst wegen ihres Kopftuches abgelehnt habe. Das Gericht wies den Kreis ausdrücklich auf die grundgesetzlich geschützte Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot in der Verfassung hin. Anders als im Schuldienst gäbe es in der allgemeinen Verwaltung kein Kopftuchverbot.

Kopftücher beschäftigten die Gerichte auch außerhalb des Beamtendienstes: Das BVerfG entschied 2006, dass eine Zuschauerin im Gerichtssaal ein Kopftuch tragen dürfe. Das Kammergericht in Berlin gestattete 2012 einer Schöffin, ein Kopftuch im Gerichtssaal zu tragen. Das Arbeitsgericht Berlin gewährte 2012 einer Arzthelferin Schadensersatz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), weil sie wegen ihres Kopftuches eine Stelle nicht bekommen hatte. Das Landgericht Bremen verwehrte hingegen einer Frau, der ein Fitnessstudio wegen ihres Kopftuches den Nutzungsvertrag gekündigt hatte, Schadensersatz nach dem AGG.

Wie wird das BVerfG im Fall der nordrhein-westfälischen Lehrerin und Sozialpädagogin entscheiden? Im Grundsatz wird das BVerfG wohl sein Urteil von 2003 nicht revidieren: Die Länder dürfen religiöse Bezüge in der Schule zulassen oder sie – jenseits – des Religionsunterrichts verhindern. Das BVerfG hat wenig Anlass, diese Vorgabe zu ändern, weil die gesellschaftspolitischen Tatsachen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, sich seitdem nicht geändert haben. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist multireligiös und deswegen kommt es zu Konflikten, denen der Staat mit strikterer Trennung von Staat und Religion oder stärkerer Hereinnahme religiöser Bezüge in den öffentlichen Raum begegnen kann. Dennoch liegen Tatsachen vor, die das BVerfG motivieren könnten, die Kündigung der beiden Frauen für rechtswidrig zu erklären: Das nordrhein-westfälische Gesetz ist durch die Privilegierung christlich motivierter Bekundungen grob gleichheitswidrig. Zudem erfassen die Ländergesetze, die das Tragen religiöser Kleidung verbieten, bislang nur Frauen – diskriminieren also mittelbar wegen des Geschlechts. Zuletzt könnte das BVerfG auch berücksichtigen, dass die Verbotsgesetze Auswirkungen auf den privaten Arbeitsmarkt haben: Immer wieder verweigern Arbeitgeber_innen Frauen mit Kopftuch mit Verweis auf die Kopftuchverbote im Staatsdienst die Einstellung.

Rechtsprechung zum Kopftuch:

BVerfG, Urteil v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02
BVerfG, Beschluss v. 27.6.2006 – Az 2 BvR 677/05
BAG, Urteil v. 10.12.2009 – 2 AZR 55/09
BAG, Urteil v. 20.8.2009 – 2 AZR 472/01
Kammergericht (Berlin), Urteil v. 9.10.2012 – (3) 121 Ss 166/12 (120/12).
Arbeitsgericht Berlin, Urteil v. 28.3.2012, 55 Ca 2426/12.
Landgericht Bremen, Urteil v. 21.6.2013, 4 S 89/12.
Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil v. 8.11.2013, Az. 26 K 5907/12).

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