Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 203: Religiöse Sonderrechte auf dem Prüfstand

Schwim­m­un­ter­richt als Integra­ti­ons­ver­an­stal­tung

aus: vorgänge Nr. 203 (3-2013), S. 85-87

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig lehnt die Klage einer muslimischen Schülerin auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht ab. Es setzt damit das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen durch und bewertet dieses höher als die Grundrechtsposition der Schüler _innen.

I. Schul­kon­flikte als Kultur­streit

Mit der inhaltlichen und organisatorischen Unterrichtsgestaltung in der Schule entscheidet der Staat darüber, was er allen Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern gleichermaßen zumutet und abverlangen will. Juristisch greift er damit in Grundrechtspositionen ein, die er als Schulgesetzgeber vor der Verfassung rechtfertigen muss. Im demokratischen Rechtsstaat werden deshalb kulturelle Konflikte, hinter denen oftmals religiöse Konflikte stehen, regelmäßig als Schulkonflikte vor Gericht ausgetragen. Aktuell ist dies der Fall bei der Klage einer muslimischen Schülerin gegen ihre Teilnahmepflicht am koedukativen Schwimmunterricht. Am 11. September 2013 entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, dass muslimische Schülerinnen nicht regelmäßig eine Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht verlangen können (BVerwG 6 C 25.12). Es wies die Revisionsklage einer muslimischen Schülerin als unbegründet zurück. Diese hatte in der Schule beantragt, sie vom Schwimmunterricht zu befreien, weil die gemeinsame Teilnahme von Jungen und Mädchen am Schwimmunterricht mit den muslimischen Bekleidungsvorschriften nicht vereinbar sei. Die Schule lehnte den Antrag ab, weil die Antragstellerin ja durch Tragen eines Burkinis, der den Körper weitgehend bedecke, auch im koedukativen Schwimmunterricht den muslimischen Bekleidungsvorschriften folgen könne. Die daraufhin erhobenen Klagen vor dem Verwaltungsgericht und dem Verwaltungsgerichtshof blieben erfolglos.

Mit seiner Zurückweisung der Revision bestätigte das Bundesverwaltungsgericht (BVG) die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Befreiung vom Schwimmunterricht und änderte seine eigene Rechtsprechung ausdrücklich. Im Urteil vom 25. August 1993 (BVerwG 6 C 6.12) hatte das Gericht zum koedukativen Sportunterricht noch anders entschieden. Damals wurde ein Anspruch auf vollständige Befreiung vom koedukativen Sportunterricht bejaht, weil der Glaubenskonflikt nur so vermieden werden könne. Es reiche nicht, so das Gericht 1993, der Klägerin anzubieten, mit entsprechend weit geschnittener Kleidung am Sportunterricht teilzunehmen – der Sportunterricht müsse nach Geschlechtern getrennt durchgeführt werden.

II. Die Integra­ti­ons­funk­tion der Schule als Begründung für den Vorrang des staatlichen Bestim­mungs­rechts vor der Glaubens­frei­heit

Das Bundesverwaltungsgericht begründete seine Ablehnung wie folgt: Zwar greife die Ablehnung des Befreiungsantrags durch die Schule in den Schutzbereich des Grundrechts der Glaubensfreiheit der Klägerin nach Art. 4 Abs. 1 GG ein, jedoch sei dieser Eingriff wegen des staatlichen Bestimmungsrechts im Schulwesen aus Art. 7 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht verletze die Glaubensfreiheit der Klägerin nicht. Aus Art. 7 Abs. 1 GG folge, dass der Staat das Schulwesen beziehungsweise den dort erteilten Unterricht planen, organisieren, leiten und inhaltlich didaktisch ausgestalten könne. Das bedeute, er könne auch festlegen, ob der Unterricht in koedukativer oder monoedukativer Form durchgeführt werde. Zwar sei die Glaubensfreiheit vorbehaltlos gewährt, sie werde jedoch auf Ebene der Verfassung durch das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen beschränkt. Demnach gibt es keinen prinzipiellen Vorrang individueller Glaubenspositionen vor dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen. Die Entscheidung über Inhalt und Modalitäten des Unterrichts sei vielmehr dem Staat überantwortet, der im Gegenzug bei Ausgestaltung des Unterrichts aber Neutralität und Toleranz in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht wahren müsse. Insbesondere müsse er jede Beeinflussung oder gar Agitation im Dienste einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Richtung unterlassen. Das Bundesverwaltungsgericht sieht im vorliegenden Fall diese Grenze als nicht überschritten an.

Was auf den ersten Blick einleuchtet, ist bei näherem Hinsehen nicht ohne weiteres zu begründen. Wenn der Staat in der Schule koedukativen Schwimmunterricht als Pflichtfach anordnet, agitiert und indoktriniert er zwar nicht im Sinne einer Religion oder Weltanschauung, aber er unterwirft die Schüler und Schülerinnen verbindlichen Regeln, denen sie sich nicht entziehen können. Kollidieren diese Regeln mit den Vorgaben ihrer Religionen bzw. Weltanschauungen, kann der Staat sich nicht einfach nur neutral verhalten, er muss vielmehr seinen eigenen Anspruch durchsetzen. Damit dies gelingen kann, sieht das Bundesverwaltungsgericht die vorbehaltlos gewährte Glaubensfreiheit für die Schule als beschränkt an und begründet dies bereits auf der Ebene der Verfassung durch das Bestimmungsrecht des Staates. Diese verfassungsrechtliche Beschränkung der Glaubensfreiheit begründet das Gericht mit der Bedeutung der Schule für die Entfaltung der Lebenschancen der nachwachsenden Generationen und für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Schule solle unter den Bedingungen einer pluralistischen und individualistisch geprägten Gesellschaft dazu beitragen, die Einzelnen zu verantwortungsbewussten Bürger_innen heranzubilden und so eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen. Der Staat müsse sich deshalb nicht am kleinsten gemeinsamen Nenner der Vorstellungen der Beteiligten orientieren. Zwar sei die Schule nicht prinzipiell davon entbunden, auf religiöse Gebote Rücksicht zu nehmen, dieser Pflicht zur Rücksichtnahme seien aber wegen der Integrationsfunktion der Schule Grenzen gesetzt. Im konkreten Fall nimmt das Bundesverwaltungsgericht die Grenzziehung wie folgt vor: Im Hinblick auf das als verbindlich erachtete religiöse Gebot, den Körper gegenüber Angehörigen des männlichen Geschlechts weitgehend zu bedecken, sieht das Gericht in dem von der Schule unterbreiteten Angebot, während des Unterrichts einen so genannten Burkini zu tragen, eine ausreichende Ausweichmöglichkeit. Der Staat sei darüber hinaus nicht verpflichtet, monoedukativen Schwimmunterricht einzuführen. Im Hinblick auf das Glaubensgebot, sich nicht mit dem Anblick von Männern bzw. Jungen in knapp geschnittener Badebekleidung zu konfrontieren, stehe der Klägerin kein Anspruch zu, im Rahmen der Schule nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter, einschließlich auf dem Gebiet der Bekleidung, konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten beziehungsweise zu bestimmten Jahreszeiten im Alltag verbreitet sind.

Auch an dieser Stelle der Begründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Schule, neben ihrer Bildungsaufgabe, unter den Bedingungen einer pluralistischen und individualistisch geprägten Gesellschaft eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen soll.

III. Mehrheits­kultur und Minder­hei­ten­schutz

Vom Standpunkt der Mehrheitskultur in unserem Land ist diese Entscheidung gut nachzuvollziehen. Es fragt sich aber, ob damit dem Minderheitenschutz, den Grundrechte – hier die Religionsfreiheit – gewährleisten sollen, ausreichend Rechnung getragen wird. Dies lässt sich meines Erachtens mit Ja beantworten, denn in der Gesellschaft können Bekleidungssitten und Gebräuche nur noch ganz begrenzt durch den Staat dekretiert werden. Auch für die Schule dürfte das gelten. Solange der Gesetzgeber Möglichkeiten vorsieht, die Kompromisse ermöglichen, kann er auch darauf bestehen, dass die Grundrechtsträger_innen von diesen Angeboten Gebrauch machen.

Ob man dazu, wie es im Urteil geschehen ist, die Schule zum Ort gesellschaftlicher Integration erklärt, was zur Folge hat, dass das staatliche Bestimmungsrecht für die Schule einen prinzipiellen Vorrang vor Grundrechtspositionen von Schülerinnen und Schülern genießt, muss hingegen kritisch bewertet werden. Ein solch weitgehendes Integrationskonzept ist anfällig für ideologische Aufladungen aller Art und darf deshalb nicht zum Einfallstor für das Unterlaufen von Grundrechtspositionen werden.

ROSEMARIE WILL   Jahrgang 1949, wurde nach ihrer juristischen Ausbildung 1989 als ordentliche Professorin für Staatsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin berufen; seit 1993 hat sie dort einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie inne. Von 1993 bis 1995 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht im Dezernat von Prof. Dr. Grimm, ab 1996 für zehn Jahre Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg. Rosemarie Will war von 2005 bis 2013 Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, in deren Bundesvorstand sie derzeit für bioethische Fragen zuständig ist. Sie ist Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des Rechtsstaats und des Grundrechteschutzes vorzuweisen.

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