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Der Fehler liegt im System

Nebenklagevertreter_innen im NSU-Verfahren kritisieren Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Bundestages als inkonsequent

aus: vorgänge Nr. 203 (3-2013), S. 131-133

Kurz vor Ende der Legislaturperiode, am 22. August 2013, legte der Bundestags-Untersuchungsausschuss zum NSU seinen vorläufigen Abschlussbericht vor. Auf 1.357 Seiten werden die Verbrechen des NSU, der Gang der Ermittlungen und die zahllosen Pannen minutiös dokumentiert. Der Ausschuss und sein Bericht markieren eine Premiere: Erstmals wurde ein Untersuchungsausschuss nicht nur einstimmig von allen Abgeordneten eingesetzt, auch der Abschlussbericht wurde von allen Ausschussmitgliedern einstimmig verabschiedet. Der parlamentarische Konsens mündet in 47 gemeinsamen Empfehlungen, wie die Arbeit von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und anderen Sicherheitsbehörden verbessert werden müsse, um eine vergleichbare Blindheit gegenüber einer rassistischen Mordserie zu verhindern.

Die Ergebnisse des parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurden nach ihrer Präsentation von verschiedenen Seiten kritisiert. Wir dokumentieren hier stellvertretend eine Stellungnahme von Vertreter_innen der Nebenklage im NSU-Mordprozess am OLG München.

„Sie dürfen nicht den Fehler machen, die Dinge aus heutiger Sicht zu beurteilen. Damals hatten wir keine Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund“, erklärt der pensionierte Kriminaloberrat Wilfling am 11. Juli 2013 bei seiner Aussage im Prozess gegen Beate Zschäpe u.a. vor dem Oberlandesgericht München. „Jetzt tun Sie mal nicht so, als würde es keine türkische Drogenmafia geben“.

Wilfling ist als Münchener Mordermittler langjährig erfahren. Er hat Bücher über seine Arbeit veröffentlicht und würde sich nie als Rassist sehen. Und doch verdeutlicht seine Aussage das Problem: Das katastrophale Versagen der Ermittlungsbehörden bei der Aufklärung der Verbrechen des NSU ist keine Summe der Fehler von Einzelnen. Der Fehler liegt im System. Vorurteile werden nicht hinterfragt. „Ausländer“ müssen von „Ausländern“ ermordet worden sein. Hintergründe sind selbstverständlich im Bereich Organisierter Kriminalität zu suchen.

Mangelndes Engagement kann man den Ermittlungsbehörden dabei freilich nicht vorwerfen. Hunderte Zeuginnen und Zeugen wurden selbst in der Türkei verhört, Drogenhunde eingesetzt, fingierte Dönerbuden eröffnet, verdeckte Ermittler als Journalisten eingesetzt, Steuerbanderolen auf Zigarettenschachteln überprüft; selbst ein Wahrsager wurde befragt. Über elf Jahre fahndeten hunderte Ermittler in die falsche Richtung. Alle Zeugen, alle Analysen, alle Beweismittel, die auf rassistisch motivierte Anschläge hindeuteten, wurden konsequent ignoriert.

Heute wird dazu der Bericht des Untersuchungsausschusses des Bundestages veröffentlicht. Genau das entscheidende Problem wird darin in der gemeinsamen Wertung nicht benannt: institutioneller Rassismus.

Unabhängig von der persönlichen Einstellung und den Absichten der Beamten, folgen die Ermittlungsbehörden einer inneren Logik, Normen und Werten, deren rassistische Konsequenzen sich unter anderem in den Ermittlungen zur Mord- und Anschlagsserie des NSU wiederfinden.

Hochgelobt für das parteiübergreifende Engagement der Obleute, schafft es (nun) zu Zeiten des Wahlkampfs gerade der Untersuchungsausschuss nicht, das Problem so zu bezeichnen, wie es sich uns präsentiert. Wir sind RechtsanwältInnen und NebenklagevertreterInnen im so genannten NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Wir haben die Akten gelesen. Wir haben Zeuginnen und Zeugen gehört. Wir haben aber vor allen Dingen von unseren Mandantinnen und Mandanten erfahren, wie sie nach den Taten jahrelang selbst im Fokus der Ermittlungen stehen mussten.

Das heißt:

  1. Hinterbliebene und Verletzte fordern die Anerkennung auch in der Politik, dass das systematische Versagen der Ermittlungsbehörden auf institutionellem Rassismus beruht. Das Problem muss klar benannt werden. Alles andere wäre Augenwischerei. Morde hätten verhindert werden können.
  2. Wir fordern eine Neueinsetzung des Untersuchungsausschusses in der nächsten Legislaturperiode. Eine lückenlose Aufklärung der Taten des NSU und der möglichen Verwicklungen der Ermittlungsbehörden und des Verfassungsschutzes ist lange nicht abgeschlossen.
  3. Bei jedem Gewaltverbrechen muss in Zukunft frühzeitig und nachvollziehbar in den Akten vermerkt und begründet werden, wenn die Ermittlungsbehörden der Auffassung sind, dass eine rassistisch oder neonazistisch motivierte Tat ausgeschlossen werden kann.
  4. Wir fordern eine Ausbildung und stetige Qualifikation aller Polizeibeamten, die institutionellem wie individuellem Rassismus entgegenwirkt. Zudem müssen gut ausgebildete und szenekundige Abteilungen bei den Landespolizeien neu aufgebaut und neu besetzt werden, die sich spezifisch mit rechter Gewalt beschäftigen und allgemeine Abteilungen für „Staatsschutzdelikte“ ersetzen. Diese Ermittlungsgruppen müssen zukünftig immer dann zwingend an den Ermittlungen beteiligt werden, wenn ein rechter Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann.
  5. Bei den Staatsanwaltschaften müssen Abteilungen gebildet werden, die für rechte Gewalttaten gesondert zuständig und ausgebildet sind. Abteilungen, die allgemein für „politisch motivierte“ Taten oder gar zusätzlich für Delikte von und gegen Polizeibeamte zuständig sind, genügen dafür keinesfalls.
  6. Es muss verstärkt darauf hingewirkt werden, dass BeamtInnen mit Migrationshintergrund auch in Führungspositionen geworben werden. Weil dies bislang offensichtlich nicht gelungen ist, sollte zur Umsetzung zunächst eine verbindliche Quote festgesetzt werden. Rassistischen Tendenzen innerhalb der Ermittlungsbehörden muss konsequent – auch disziplinarisch – entgegengewirkt werden.
  7. Das V-Mann-System der Verfassungsschutzbehörden hat versagt und gehört aufgelöst. Es fördert rechtsradikale Entwicklungen mehr, als dass es sie verhindert. Der Verfassungsschutz hat gerade im Hinblick auf den NSU bewiesen, dass enorme Ressourcen in V-Leute gesteckt wurden, die nur bekannte, zu wenige oder gar bewusste Falschinformation geliefert haben. Das Geld der V-Leute ist teilweise in den Aufbau von Neonazi-Strukturen geflossen. Ein Verbotsverfahren hinsichtlich der NPD scheiterte auch an der weitgehenden Integration von V-Leuten in der Partei bis in die Führungsspitze. Es bleibt grundsätzlich zu diskutieren, inwieweit die notwendige Aufklärung über neonazistische Aktivitäten ausschließlich die Polizeibehörden besorgen können.
  8. Opfer rechter Gewalt seit 1990 sind lückenlos entsprechend der Liste der Amadeu Antonio Stiftung, der „Zeit“ und des „Tagesspiegels“ als solche anzuerkennen.
  9. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt müssen erhalten, flächendeckend ausgebaut und gefördert werden.
  10. Es sind auf Landes- und Bundesebene Kontrollgremien einzuführen, die als unabhängige Ansprechpartner für Betroffene von institutionellem oder persönlichem Rassismus durch die Ermittlungsbehörden oder für „Whistleblower“ in solchen Fällen zur Verfügung stehen. Diese sollten mit effektiven Kontrollbefugnissen ausgestattet und durch das Parlament eingesetzt werden.

Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Antonia von der Behrens, Dr. Mehmet Daimagüler, Dr. Björn Elberling, Berthold Fresenius, Alexander Hoffmann, Carsten Ilius, Detlef Kolloge, Stephan Kuhn, Angelika Lex, Stephan Lucas, Ogün Parlayan, Jens Rabe, Eberhard Reinecke, Aziz Sariyar, Sebastian Scharmer, Reinhard Schön und Peer Stolle.

Literatur

Der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses ist erschienen als:
Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes des 17. Deutschen Bundestages, BT-Drs. 17/14600 v. 22.8.2013, abrufbar unter http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/ua/2untersuchungsausschus s/Vorl __ufer_Bericht/Vorl__ufiger_Bericht.pdf.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat am 20.8.2013 ein Hintergrundpapier zum NSU-Abschlussbericht vorgelegt, abrufbar unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de.

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