Der kühle Glanz des Charismas: Ein aktueller Literaturbericht
Wenn ein Begriff facettenreich und vieldeutig ist, dann ist ein Sammelband der beliebte pragmatische Weg, sich der Sache in „dichten Beschreibungen“ zu nähern. Am Anfang dieses Literaturberichts stehen deshalb zwei Bände dieser Gattung. Und siehe da, die Stärken dieses Konzepts überwiegen die Schwächen deutlich:
Wilfried Nippel (Hg.): Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, C.H. Beck: München 2000, 320 S., ISBN 3-406-46045-3; 24,90 Euro
Nach einer profunden Einleitung des Herausgebers, der den Stand der Weber-Exegese in Sachen Charisma nachzeichnet, folgen fünfzehn Fallstudien, in denen „Webers Kategorien als Interpretationsangebote genommen werden“. So untersucht Hans-Ulrich Thamer die persönlichen Qualitäten Napoleons, während Ludolf Herbst nach der Inszenierungskunst und der Struktur der Anhängerschaft bei Hitler fragt und Dietmar Rothermund am Beispiel Gandhis die Kommunikation zwischen Führer und Anhängerschaft analysiert. Behandelt werden nach diesem System die üblichen Charisma-Verdächtigen von Caesar über Lincoln bis Perón und Mao; bei den Autoren handelt es sich durchgehend um ausgewiesene Fachleute in ihrem Feld.
Churchill, Lady Di, Stalin und John Wayne auf das Cover zu bringen, zeugt von Chuzpe. Doch damit nicht genug. Der zweite Sammelband:
Walter Jacobs (Hg.): Charisma. Revolutionäre Macht im individuellen und kollektiven Erleben, Chronos: Zürich 1999, 232 S., ISBN 3-905313-36-7; 19,50 Euro
vermag auch so gegensätzliche Autoren wie den Heidelberger Soziologen M. Rainer Lepsius und einen Chefredakteur der Schweizer Boulevardpostille Glückspost zwischen zwei Buchdeckeln zu vereinen, letzterer als Experte für die „Prinzessin des Herzens“ und deren Wirkung zwischen Charisma und medialem Mythos. Lepsius steuert einen schon 1993 erschienenen und mittlerweile klassisch gewordenen Aufsatz zur charismatischen Herrschaft im Führerstaat Hitlers bei. Die übrigen sechs Autoren bedienen die ganze Spannbreite zwischen religiöser Erscheinungsform, filmischen Wirkungen (John Wayne) und den sowjetischen Herrschaftsvarianten.
Im Kontext der Charisma-Forschung eigentlich ein paradoxer Befund: die Politiker von heute seien weniger charismatisch als die vergangener Tage, gleichzeitig nehme aber die Personalisierung der Politik (Stichwort: Candidate-Voting) unaufhaltsam zu. Klarheit in diese Gemengelage bringt jetzt:
Frank Brettschneider: Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich, Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 2002, 256 S., ISBN 3-531-13722-0; Euro 29,90
Brettschneider kommt das Verdienst zu, die These von der zunehmenden Kandidatenorientierung der Wähler zu Lasten der (Partei-)Programme endlich einer empirischen Prüfung unterzogen zu haben. Dazu nutzt er die Resultate der insgesamt 32 nationalen Wahlen in den USA, Großbritannien und Deutschland von 1960 bis 2000 für eine Langzeitanalyse. Sein Fazit: „Die […] Personalisierungsbehauptung, wonach Kandidatenorientierungen in den letzten Jahrzehnten für das Wählerverhalten wichtiger geworden sind, ist falsch. In keinem der drei untersuchten Länder gibt es seit 1960 einen entsprechenden Trend. Allerdings variiert das Ausmaß des ,Candidate-Voting‘ von Wahl zu Wahl und es unterscheidet sich von Land zu Land.“ (207)
In der Mediengesellschaft lässt sich persönliches Charisma von inszeniertem Starkult nur noch schwer trennen. Den vielfältigen Verbindungslinien zwischen beiden geht das folgende Bändchen nach:
Jürg Häusermann (Hg.): Inszeniertes Charisma. Medien und Persönlichkeit, Max Niemeyer Verlag: Tübingen 2001, 161 S., ISBN 3-484-34050-9; 44 Euro
„Inszeniertes Charisma“, schreibt der Herausgeber, „das ist Charisma in einem sekundären Sinn“. Denn Charisma operiert dann nicht mehr als Wirkungsmacht entfaltende Eigenschaft einer Person, sondern als quasi implementiertes Phänomen, das nur so lange zum Tragen kommt, wie die künstlich hergestellten und sorgsam konstruierten Bedingungen dies erlauben. Zwischen der Person und den ihr zugeschriebenen Eigenschaften besteht keine zureichende Deckung mehr. Genau diesen Inszenierungsstrategien gehen die Autoren nach: Hartmut Gabler schreibt über „Charismatische Persönlichkeiten im Sport“, Ute Bechdolf über „Marlene, Marilyn und Madonna als Heldinnen der Popkultur“ und Hans Norbert Janowski über die Rolle der Person bei der medialen Charismazuschreibung. Letztendlich wirft das Buch aber mehr Fragen auf, als es beantworten kann, denn die „Annahme, es gebe in der Wirkung einer Persönlichkeit einen Kern, der sich nicht inszenieren lasse, scheint an mehreren Stellen durch“. (9)
Auf die Suche nach neuartigen Charismaformen als gegenwärtigem Zeitgeistphänomen macht sich:
Malte Lenze: Postmodernes Charisma, Marken und Stars statt Religion und Vernunft, Deutscher Universitäts-Verlag: Wiesbaden 2002, 217 S., ISBN 3-8244-4495-X; 29,90 Euro
Das Buch ist durchweg anregend: Der Actionfilm Terminator und sein Star Arnold Schwarzenegger als moderner Charismatiker findet sich hier ebenso wie die Fetischisierung der Lebenswelt am Beispiel des Fernsehers. Der Leser ist Zeuge eines Parforceritts durch alle Spielarten moderner Medientheorie, bei dem selbst Weber schwindlig geworden wäre. Weiterführend sind in jedem Fall die Analysen Lenzes zur medialen Inszenierung von Charisma: Es geht dabei um das Wechselverhältnis von Sinnstiftung und Sinnsuche.
Auch in ganz anderen Bereichen wird dem Charisma nachgespürt: Ein durchherrschter Raum wie ein Unternehmen mit starken Vertikalstrukturen ist ein dankbares Objekt für eine Untersuchung von Machtbeziehungen. In einer betriebswirtschaftlichen Dissertation widmet sich:
Holger Daners: Charisma in Organisationen. Die Perpetuierung charismatischer Führung, Shaker: Aachen 1999, 281 S., ISBN 3-8265-5750-6; 47 Euro
charismatischer Führung in Unternehmen und Organisationen. Biographien von Unternehmerlegenden wie Lee Iacocca oder Jack Welch werden auch hierzulande gerne gelesen – doch aus ihnen erfährt man kaum etwas über die Binnenstrukturen innerbetrieblicher Herrschaft. Der Autor vermag es, Webersche Kategorien zu übertragen, von den Motivationswirkungen und der Effektivität charismatischer Führung zu sprechen – wenngleich er allzuoft in bloßer Literaturzusammenstellung stecken bleibt. Und es bleibt unklar, weshalb ein auf Rationalität und Bürokratie beruhendes System wie ein Unternehmen mit einer charismatischen Führung erfolgreicher sein sollte. Was für Krisenzeiten richtig sein kann, ist in alltäglicher Prosperität oft ineffektiv.
Die politische Rede ist quasi die Königsdisziplin des Charismatikers, mit der er seine Anhänger mobilisiert und seine Gegner bedroht bzw. zu überzeugen versucht, ob auf der Aktionärsversammlung, im Parlament oder auf einer Demonstration.
Für eine Wiederbelebung der klassischen „republikanischen Rede“, die nicht nur überzeugen und gut ankommen, sondern zur wirklichen Klärung der Dinge beitragen will, plädiert in einem leidenschaftlichen Essay
Uwe Pörksen: Die politische Zunge. Eine kurze Kritik der öffentlichen Rede, Klett-Cotta: Stuttgart 2002, 200 S., ISBN 3-608-94055-3; 16 Euro
Folgt man den Thesen des emeritierten Freiburger Literaturwissenschaftlers, ist mit dem Niedergang der politischen Rede und ihrer Ersetzung durch Darstellungskunst auch ein Niedergang des Politischen an sich erfolgt. Gründe dafür sieht Pörksen viele: den zunehmenden Einfluss von Medien, Technik und Naturwissenschaft auf die Politik, den Verlust an Gestaltungsfreiheit, aber auch das Aufkommen eines neuen Politikertypus. Doch Pörksen gibt die Rede nicht verloren. Spätestens in periodisch wiederkehrenden Krisen oder Umbruchszeiten erlebe sie eine Renaissance. Und während man darauf wartet, kann man sich an Pörksens glänzend geschriebenen Analysen und Handreichungen für die „wahre“ republikanische Rede freuen.
Die gesprochene Geschichte Westdeutschlands – so könnte man die erste Auflage der „Reden, die die Republik bewegten“ auch nennen. Mit seiner Redensammlung deutscher
Politiker bot Herausgeber Horst Ferdinand 1988 einen Überblick zu den wichtigsten Stationen der Nachkriegsgeschichte. Nun also die zweite, erweiterte Ausgabe, die bis zum Jahr 1999 reicht:
Horst Ferdinand: Reden, die die Republik bewegten, Leske + Budrich: Opladen 2002, 662 S., ISBN 3-8100-3338-3; 18 Euro.
Die Denkmäler sind alle noch dabei: Erhard (Wohlstand), Strauss (Verteidigung), Brandt (Ostpolitik) und so weiter. Das ist interessant, oft lustig, aber im Grunde bekannt. Spannender ist es da, zu sehen, welches Konzentrat der (vielen, vielen) Worte, die dem Volk in den Jahren 1989 bis 1999 um die Ohren flogen, vom Herausgeber das Prädikat „republikbewegend“ erhielten. Peter Glotz‘ Plädoyer für Bonn als Regierungssitz etwa, insbesondere: Beifall und Zwischenrufe. Da wird sich manch einer ärgern.
Gleich zwei Bände widmen sich der wichtigsten Rede eines deutschen Bundeskanzlers, der großen Regierungserklärung:
Karl-Rudolf Korte (Hg.): „Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.“ Eine Analyse der großen Regierungserklärungen von Adenauer bis Schröder, Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 2002, 479 S., ISBN 3-531-13695-X; 34,90 Euro
und
Klaus Stüwe (Hg.): Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schröder, Leske+Budrich: Opladen 2002, 408 S., ISBN 3-8100-32204; 34,90 Euro.
Sämtliche in der Bundesrepublik abgegebenen Regierungserklärungen sind in beiden Bänden dokumentiert. Allerdings werden diese in dem Band von Stüwe nur durch eine 24-seitige, recht allgemein gehaltene Einführung sowie maximal halbseitige Kurzbiografien eingerahmt, während in dem von Korte herausgegebenen Buch zahlreiche quantitative und qualitative Analysen zur Regierungserklärung als solcher und den einzelnen Reden zu finden sind. Interessant ist vor allem die Studie von Antje Schwarze und Antje Walther über die Aufgaben und Arbeitsmethoden der Redenschreiber im Bundeskanzleramt. Allerdings bleiben die meisten Einzelanalysen zu sehr innerhalb des starren vorgegebenen methodischen Rahmens, als dass sie erklären könnten, was etwa Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 zu einer Besonderheit deutscher Parlamentsgeschichte macht.
Allen bekannt sind: Die Fliege und die Havanna. Vielen bekannt sind: die Verve für Empire und Freiheit. Dass die „britische Bulldogge“ auch ein literarisches Leben führte, wissen hierzulande indes Wenige. Klaus Körner hat nun eine Auswahl der von 1946 bis 1950 erschienenen siebenbändigen deutschen Übersetzung der Kriegsreden des Winston Churchill vorgenommen:
Klaus Körner (Hg.): Winston S. Churchill. Reden in Zeiten des Krieges. Europa Verlag: Hamburg 2002, 319 S., ISBN-Nr. 3-203-76021-5; 24,90 Euro.
Kriegsreden? Well, während der Brite seine Bücher diktierte, schrieb er seine Reden stets vorher nieder. Wenn nicht der eigentliche Kern, so sind sie doch zweifelsohne ein fester Bestandteil seines literarischen Werks. Die Lektüre lohnt nicht wegen des Pathos, sondern vor allem wegen der Scharfsinnigkeit und des historischen Weitblicks.
Häufig wird Churchills Gegenspieler, Adolf Hitler, als Typus des Charismatikers schlechthin beschrieben. Eine buchlange Deutung des Aufstiegs von Hitler aus der Weberschen Charisma-Terminologie heraus hat aber bislang nur ein Autor unternommen, dessen Studie jetzt zum Glück in einer aktualisierten Neuauflage vorliegt:
Ian Kershaw: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2001, 267 S., ISBN 3-423-30757-9; 10 Euro.
Die aus dem Jahre 1992 stammende Erstfassung war noch eine Vorstudie des Autors zu seiner großen Hitler-Biografie, nun in der überarbeiteten Fassung ist das Bändchen eher als Ergänzung zu verstehen. Im Zentrum steht die Frage, wie es zur Ausbildung von Hitlers Charisma kam und wie dies zur Machterlangung und -erhaltung der Nationalsozialisten eingesetzt werden konnte. Dabei läuft das Buch keinen Moment Gefahr, die sozialen und mentalen Großstrukturen, in die Hitlers Aufstieg eingebettet war, aus den Augen zu verlieren. Es geht nicht darum, wie Hitler mittels seines Charismas Geschichte machen konnte, sondern darum, wie sein Charisma zu einem bestimmten historischen Moment zur Entfaltung kam und Wirkungsmacht zeigte.
Noch zwei weitere Bücher können – wenn auch nicht unter der Charisma-Fragestellung verfasst – zur Erhellung des Phänomens Hitlers aus einer neuen Perspektive beitragen:
Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Deutsche Verlagsanstalt: Stuttgart 1999, 396 S., ISBN 3-421-05285-9; 21 Euro.
Auch hier handelt es sich um die Neuauflage eines Klassikers. Denn so wie Kommunikationsforschung ohne Wirkungsanalysen nicht denkbar ist, kann auch Charisma nicht ohne den Resonanzboden der Rezeption des Führers durch seine Anhänger und Gegner erforscht werden. Und Kershaws große Studie aus dem Umfeld des berühmten Bayern-Projekts von Martin Broszat und Peter Hüttenberger ist nach wie vor die elaborierteste Arbeit über die Decodierung des Hitler-Mythos‘ in einem deutschen Teilstaat. Einen ganz anderen Weg geht:
Barbara Zehnpfennig: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, Wilhelm Fink Verlag: München 2002 (2. Aufl.), 348 S., ISBN 3-7705-35333-2, 25,20 Euro
Hier geht es nicht um die Außenbetrachtung oder Rezeption Hitlers, sondern um die Innenanalyse auf Grundlage von Hitlers berüchtigter Bekenntnisschrift, die halb Programm und halb Autobiografie ist. Mit dem Ansatz, Mein Kampf als ernst zu nehmende Quelle für die Hitler-Forschung fruchtbar zu machen, werden auch Aussagen über Hitlers
„charismatische Selbstwahrnehmung“ und seine Vorstellungen vom politischen Führer möglich: So wird deutlich, dass Hitler sich seiner Ausstrahlung wohl bewusst war, an ihrer ständigen Schärfung arbeitete und über deren Einsatz intensiv nachdachte.
Auf drei Fallbeispiele von Charisma will sich:
Georg Eickhoff: Das Charisma der Caudillos: Cárdenas, Franco, Péron, Vervuert: Frankfurt/Main 1999, 320 S., ISBN 3-89354-873-4; 28,80 Euro
konzentrieren. So ist ein gut lesbares Buch entstanden, mit Sinn für pittoreske Szenerien, in denen die Wirkung der Caudillos in den iberoamerikanisch-katholischen Ländern im Zeitalter des Weltbürgerkriegs deutlich wird. Manches Mal hat man allerdings den Eindruck, dass der Autor selbst den auratischen Wirkungen der Caudillos erliegt und mit seiner schwelgerischen Sprache über die Stränge schlägt; die sezierende Herrschaftsanalyse ist seine Sache leider nicht. Gerade im Kapitel über Rolle und Funktion Evita Perons für das charismatische Regime ihres Mannes wünschte man sich, mehr als bloße dramatisierende Form der Nacherzählung ihres Schicksals. Was die Caudillos von ihren Pendants Hitler oder Mussolini unterschied, bleibt unklar.
Einen Person gab es in Deutschland nach 1945 zum Glück nicht. Das deutsche Regierungssystem ist gerade unter Rot-Grün immer mehr zu einer Ministerpräsidentendomäne geworden, allen Warnungen z.B. von Wilhelm Hennis zum Trotz. Die Wechsel von Lafontaine, Schröder, Klimmt, Eichel und jetzt Stolpe und Clement ins Bundeskabinett sprechen eine deutliche Sprache. Grund genug, sich diesem Amt einmal politikwissenschaftlich zu nähern:
Herbert Schneider: Ministerpräsidenten. Profil eines politischen Amtes im deutschen Föderalismus, Leske+Budrich: Opladen 2001, 434 S., ISBN 3-8100-3030-9; 36,90 Euro.
Das Buch bietet umfassende Informationen in systematischer und historischer Perspektive, mit einer Fülle von Beispielen und statistischem Material. Die Unterschiede im Amtsverständnis, variierend mit den einzelnen Länderverfassungen geraten in den Blick, die soziale Herkunft, Karrierewege, die Organisation der Staatskanzleien und die länderübergreifende Zusammenarbeit. Auch dreißig Seiten allein über das Selbstverständnis der Ministerpräsidenten (u.a. als Landesvater, Manager und Kommunikator) gibt es. Implizit wird ein ganzes Forschungsfeld politischer Karrieren in Deutschland abgesteckt: politisches Charisma diesseits der nationalen Politik.
Die „Geschichte eines Landes im Spiegel der Biographien seiner Kanzler“ erzählen – dieser Aufgabe stellen sich zwei nicht sonderlich „strukturstarke“ Historiker:
Arnulf Baring/Gregor Schöllgen: Kanzler, Krisen, Koalitionen, Siedler Verlag: Berlin 2002, 318 S., ISBN 3-88680-762-2; 24,90 Euro
Als Begleitbuch zu einer RTL-Fernsehreihe geschrieben, entspricht der Band dem Geschmack eines breiten Publikums. Geschichte wird in Geschichtchen erzählt, allenfalls in der Außenpolitik kommt es mal zu systematischeren Überlegungen. Nun darf man nicht den Maßstab einer Habilitationsschrift anlegen. Doch die Einsicht, dass sich die personelle „Innenausstattung der Macht“ (Peter Glotz) und eben auch das Charisma im Politischen nicht ohne Sinn für das Überpersönliche, mithin gesellschaftliche Strukturen, beschreiben und vermitteln lassen, ignorieren beide Autoren souverän. Darüber vermögen auch die gute Lesbarkeit, brillante Porträts und die intime Kenntnis deutscher Nachkriegsgeschichte, die beide Autoren demonstrieren, nicht auf Dauer hinwegzutrösten.
Wenn einem deutschen Politiker dieser Zeit charismatische Fähigkeiten nachgesagt werden, so ist das Willy Brandt (vgl. auch den Beitrag von Wolther von Kieseritzky in diesem Heft). Zehn Jahre nach seinem Tod hat er in Peter Merseburger den sicher für lange Zeit definitiven Biografen gefunden:
Peter Merseburger: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist, Deutsche Verlags-Anstalt: München 2002, 927 S., ISBN 3-421-05328-6; 32 Euro
Gewiss kann man darüber streiten, ob jede Randepisode in Brandts Vita so breit hätte reflektiert werden müssen, wie das bei Merseburger fast durchweg der Fall ist. Die drei Jahre Arbeit des Autors, verbunden mit umfangreichen Archivstudien, haben sich jedenfalls gelohnt: Das Leben des Emigranten und Triumphators der „Willy-Wahlen“ 1972 wird allumfassend dargestellt. Auch der Charismatiker Brandt wird hier den Nachgeborenen erklärlich: Brandt eignete sich in seiner „inspirativen Verschwommenheit“ (Timothy Garton Ash) ideal zur Projektionsfläche für Sehnsüchte und Wünsche, sei es beim Kniefall in Warschau, sei es mit der legendären Geste im Erfurter Hof oder noch einmal kurz nach dem Mauerfall 1989 für viele DDR-Bürger.
Über Brandts momentanen Amtsnachfolger lässt sich gleiches kaum sagen, allen Flut-und sonstigen Katastrophen zum Trotz. Gleichwohl werden ihm oft mediencharismatische Fähigkeiten zugeschrieben. Nun haben gleich zwei Kenner der politischen Szenerie Biographien verfasst; beide wurden zum Teil heftig kritisiert. Der Spiegel-Redakteur:
Jürgen Hogrefe: Gerhard Schröder. Ein Porträt, Siedler: Berlin 2002, 223 S., ISBN 388680-757-6; 19,90 Euro
macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für das Hannoveraner political animal. Entstanden ist ein Porträt, das von einer Fülle von Anekdoten seiner Interviewpartner und selbst beobachteter Details lebt. Das liest sich schnell und locker-flockig, doch wer mehr darüber wissen möchte, warum Schröder und nicht man selber im Kanzleramt sitzt, der bleibt nach der Lektüre ratlos. Das Ganze ist eben auch im Falle Schröder mehr als die Summe seiner Teile, doch um dieses zu erfassen, bräuchte es mehr Abstand, den Hogrefe nicht hat. So jagt eine Begebenheit die nächste, und sei sie noch so unwichtig: denn fast immer ist der Autor dabei. Auch der Charisma-Abschnitt (127ff.) enttäuscht, denn außer der knappen Feststellung, dass Schröder „es“ nicht hat (begleitet von mittlerweile ermüdenden Beschreibungen, wie sich der Kanzler durch irgend einen Journalistenpulk zu kämpfen hat) findet sich da nichts.
Reinhard Urschel, Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen, spielt dagegen seinen Heimvorteil aus: In der weitaus umfangreicheren Biographie:
Reinhard Urschel: Gerhard Schröder. Eine Biographie, Deutsche Verlags-Anstalt: München 2002, 399 S., ISBN 3-421-05508-4; 22 Euro
findet der Leser all das, was er über das legendäre Hannoveraner Umfeld des Kanzlers und dessen dortigen Werdegang wissen möchte. Des Autors intime Kenntnis dieses Milieus gereicht dem Buch oft zum Vorteil: Schröders soziale Beziehungen, die äußere Struktur seiner Existenz wird sichtbar. Natürlich sind Urschels persönliche Erinnerungen an Moderatorin X, die irgendwann mal etwas Falsches in die Kamera sagte, völlig unwichtig und dokumentieren allenfalls das aufgeräumte Korrespondenten-Archiv mit eigenen Artikeln sowie Eitelkeit. Jedoch vermag der vorgebildete Leser sich aus dem von analytischer Schärfe nicht gerade angekränkelten Text ein genaueres Bild vom Kanzler zusammenzusetzen.
Schröder zum dritten: Eine Studie des Kanzlers, die Spaß macht, hat ein junger Münsteraner Politikwissenschaftler vorgelegt (vgl. auch den Beitrag des Autors in diesem Heft):
Werner Dieball: Gerhard Schröder. Körpersprache. Wahrheit oder Lüge? Prewest: Bonn 2002, 206 S., ISBN 3-9808302-0-9; 17,90 Euro
In einer unorthodoxen Mischung aus sozialpsychologischen und kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen rekonstruiert Dieball eine für jedermann ersichtliche Seite des „Medienkanzlers“: seine Körpersprache und all das, was seine Gestik und Mimik uns verrät. Im ersten, allgemeinen Teil erfährt man alles über Funktionsweisen und Mechanismen der Körpersprache, im zweiten wird deren Beeinflussung durch die Medien thematisiert und danach, im Hauptteil, der körpersprachliche Werdegang des Politikers Schröder von seinen Juso-Zeiten 1978 bis heute anhand von Filmausschnitten (Reden, Auftritte, Fernsehdiskussionen usw.) analysiert. Treffende Fotos untermauern die Beschreibungen – was wohl der Kanzler zu dieser Art der „Ausforschung“ sagen würde?
Dass der lange Lauf zu sich selbst für den derzeitigen Außenminister noch nicht zu Ende ist, meinen die beiden Berliner Journalisten:
Matthias Geis/Bernd Ulrich: Der Unvollendete. Das Leben des Joschka Fischer, Alexander Fest: Berlin 2002, 252 S., ISBN 3-8286-0175-8; 24,90 Euro
Aus der Vielzahl enttäuschender biographischer Arbeiten zu Fischer (vgl. vorgänge 157 „Rot/Grün eine Bilanz“: 115f.) ragt dieses opulent bebilderte Buch über einen, von dem man fast alles weiß und der doch ein Rätsel bleibt, sprachlich und analytisch heraus. Chronologisch in der Anlage, liegen die Stärken des Buches vor allem in der Darstellung der Sponti-Zeit des Grünen sowie seiner Rolle in den grünen Wirrnissen der 1980er Jahre. Schwächer werden die Regierungsjahre seit 1998 durchdrungen; der fehlende Draufblick macht sich bemerkbar. Die angestrebte ‚Kühle‘ im Blick auf den Gegenstand (12) erreichen die Autoren auf keiner Seite: die Nähe des Objekts zwanzigjähriger Beobachtung ist immer präsent. Gleichwohl ist das Buch eine eminent kluge Beobachtung desjenigen, der „sich und andere von fast allem überzeugen und für fast alles begeistern kann. Und für dessen Gegenteil.“ (233)
Zum Schluss zwei ästhetische Annäherungen: Was Macht mit den Gesichtern von Politikern anrichten kann und wie sie sich über die Jahre in Gesichtszüge einbrennen kann (um dann freilich vielfach unter dicken Speckwülsten zu verschwinden), dass zeigt der üppig aufgemachte Fotoband:
Herlinde Koelbl: Spuren der Macht. Die Verwandlung des Menschen durch das Amt. Eine Langzeitstudie, Knesebeck Verlag: München 2000, 400 S. mit 120 Fotografien, ISBN 3-89660-135-0; 29,90 Euro
Die Autorin hat über acht Jahre hinweg Spitzenpolitiker (unter ihnen Angela Merkel, Joschka Fischer und Gerhard Schröder), Wirtschaftsführer und einen hochkarätigen Journalisten (Frank Schirrmacher) einmal im Jahr interviewt und fotografiert. Herausgekommen sind dabei intime Einblicke in den Narzissmus und das unbedingte Machtstreben, aber auch in die Verletzlichkeit der deutschen Politiker-Seele oder – wie Joschka Fischer sagt: „Politiker sind die Menschen mit den schmalen Lippen, weil sie so viel runterschlucken.“ Im Langzeitverlauf dokumentieren die Bilder den Verschleiß des politischen Führungspersonals – das Schwinden des Leuchtens aus den Augen, das langsame Senken der Mundwinkel, das Erschlaffen der Körper – aber auch gewonnenes Selbstbewusstsein, Selbstzufriedenheit und, zumindest bei einigen, die Entstehung charismatischer Wirkungen.
Fotografien dominieren auch den Band von:
Gabriele Kahnert: Bühnen der Macht. Bilder aus Bonn, Hamburger Edition: Hamburg 1999, 79 S., ISBN 3-930908-55-7; 18 Euro
Erstaunlich rasch ist Bonn seit dem Regierungsumzug aus dem Bildgedächtnis der Deutschen verschwunden. Fosters Reichstagskuppel hat Wasserwerk und Behnisch-Bau erfolgreich verdrängt. Umso wichtiger ist dieser Fotoband, 1998 enstanden, der dem Ort, an dem fünfzig Jahre lang bundesdeutsche Politik gemacht, inszeniert und durchlitten wurde, ein kleines, feines Denkmal setzt. Menschenleer werden Kanzleramt (Helmut Schmidts „Kreissparkasse“), Ministerien und Parlamentsgebäude außen und innen gezeigt, Blumenrabatten und Kanzlersessel. Passenderweise gilt das letzte Foto dem ARD-Studio, aus dem der Bericht aus Bonn kam. Beim Betrachter stellt sich Melancholie und auch schon Fremdheit beim Blick auf diese vergangene Epoche ein. Es könnte sein, dass sich in diesen Bildern die Erklärung findet, warum in der zivilen Bonner Republik kaum Raum für Charisma war. Soll man dies bedauern?