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Die Familie zwischen neuer Ideologie und gesell­schaft­li­cher Realität: Eine Polemik

vorgänge16009/2024Seite 77-85

Plötzlich war sie wieder da: Die „Familie“ wurde im Bundestagswahlkampf 2002 für alle Parteien zum zentralen Thema. „Kinder“ war bei allgemeiner Düsternis in Wirtschaft und Weltpolitik das einzige positive Stichwort, von dem sich die Parteistrategen Rührung der Wähler und Wählerinnen erhofften. Es handelte sich zwar genau genommen um eine weitere eigentlich verpönte Minderheitenpolitik – Vater-Mutter-Kind als eine bedrohte Art -, bediente aber menschliche Sehnsüchte. Es war nicht nur Werbegag, sondern politische Ansage zur Zeit.

Auch nach dem 22. September gehörte die Familienpolitik zu den wichtigen Stichworten bei Regierung und Opposition. Die rot-grüne Regierung nimmt sich im zweiten Anlauf Reformen vor: im Interesse unserer Wirtschaft zwar keine neue, aber mit Hartz eine effiziente und härtere Neuorganisation der noch vorhandenen Arbeit; fürs erste keinen weiteren Krieg, dafür aber nationalere Töne, das „Alle-in-einem-Boot“-Gefühl während der Flut noch im Gedächtnis; mit Wolfgang Clement soll Wirtschaft und Arbeit eine automatische Einheit bilden. Nachdem Rot-Grün in seiner ersten Periode vor allem die Auflösung bisheriger politischer Regularien und Programmatiken gelungen war, will man nun neue strukturelle Weichenstellungen. Familien soll es nun auch wirklich besser gehen, Kinderbetreuung wird zum Hit der Saison.

Familie in der Krise

Die dramatischen Meldungen hatten sich in jüngster Zeit überschlagen. Die Geburtenrate bewegt sich im Sink-, die Altenrate im Steigflug, Spitzenarbeitskräfte sind nicht mehr in Sicht, arme Kinder um so mehr. „Gedöns“ wurde unverhofft wichtig und veranlasste den Kanzler im Sommer 2002 erstmalig zu einer Regierungserklärung, um die Geborgenheit der Familie zu preisen. Diese sei zum „Wohlfühlen“ da, für „Zusammenhalt und Halt“, das „stabile Zentrum der Gesellschaft“. Kinder zu erziehen sei die großartigste und wichtigste Aufgabe, die Gerhard Schröder – so wie einst Helmut Kohl – sich denken konnte, weshalb er sich Zeit seines Lebens bekanntlich darum riss. Die Grünen machten Politik auf „Kinderhöhe“. Die CDU fühlte sich endlich wieder daheim und alle gaben ihr recht. Die SPD verkündete, mit einem neuen Gesellschaftsvertrag die Familie retten zu wollen, Großorganisator Franz Müntefering setzte plötzlich auf die „kleinen Einheiten“. Sollte die heilige Familie von Rot-Grün die letzte Ölung erhalten? Vorschläge reihten sich an Vorschläge: Die taz sprach von der Einbindung in den Generationenrhythmus und Feminismus durch die Hintertür. Die FAZ ließ das Abendland daran leiden, dass „Eltern und Kinder einander nicht mehr brauchen“. Für den Verfassungsrechtler Paul Kirchhof wurden Mütter zu „Garanten der Humanität“. Die Regierung grub in konservativen Ideen vom Humanvermögen und so darf die Familie getrost gesellschaftlichen Anspruch stellen, aber in privater Verfügung bleiben. Die regierungsamtliche Familien-Werbekampagne malte die Mutter zum Kanzler, die immer noch daheim sitzt, aber selbstredend ganz emanzipativ: ein Mütter-Matriarchat, das alle anderen zu Kindern macht, clean, adrett, wohlanständig, normal, versorgt, ohne eine Spur von Problemen, unerotisch, artig – die Bildästhetik der modernsten Werbung für eine Produkt wie einst von Dr. Oetker. Der Kanzler krönt das Werk mit der Ernennung Renate Schmidts zur – nach der „Frauen-“ nun wieder – „Familienministerin“, die rechtzeitig vor der Wahl SOS Familie gefunkt hatte.

Freilich: Je liberaler der Markt, desto weniger Liberalität soll für die Familie gelten. Obwohl jede Partei den kulturellen Lebenswandel verinnerlicht haben will, die CDU-Vorsitzende gleich nach dem Wahltag ihrer Partei noch mehr praktische Übung darin verordnete, setzte mit der Ankündigung der „Abschmelzung“ des Ehegattensplittings durch die Grünen ein erneuter Glaubenskrieg ein, der postwendend zum Verzicht auf das Vorhaben führte. Was sich jenseits der geordneten Kleinfamilie befindet, sollte angeblich nur Notlösung mit garantierten lebenslangen Beschädigungen sein. Die oberen Mittelschichten sollten bis zur totalen Kinderlosigkeit der oberen Gesellschaftsetagen geschröpft werden. Nicht nur die Familie, auch die Ehe und die Freiheit ihrer inneren Ordnung, welche Frauen vor dem Hintergrund der äußeren Arbeits- und Werteordnung im Zweifel auf die inferiore Position verweist, sollten durch das GG unveränderlich geschützt sein. Für neue elterliche Erziehung und Ordnung ward schon lange gefochten und Singles wurden schwer in Verruf gebracht, unterstellte man ihnen doch die Verweigerung von sozialen Pflichten. Das Individuum war schon verabschiedet.

Die Gründe der jüngsten Familieneuphorie liegen in der Wirtschaftsflaute. Bis vor kurzem hieß es „Flexibilisierung“ allüberall, von Stund an sind via die Bande der Natur Sicherheit und Bestand an der Reihe. Vom Ich-Ego-Kult wechseln wir zum Aufgehobensein im Anderen. McKinsey Deutschland sagt, ihre wichtigsten Leute seien 32 Jahre, im Familiengründungsalter und die größte Reserve die Frauen. Inhuman sei es, diese alternativ zwischen Beruf und Familie entscheiden zu lassen. Wo beides zusammen sich doch erst rechnet. Geburtenrate und Wirtschaftsstandort oder, anders gesagt, die Suche nach der besten Humanressource treiben uns an und lassen nach „Reproduktion“ von Mensch und Gesellschaft fragen.

Bieten die Parteien deshalb nun neue Perspektiven? Die Grundbehauptungen und strukturpolitischen Ansätze bestehen in dieser Form seit dem 19. Jahrhundert, zusammengesetzt aus Industriegesellschaft, Kleinfamilie und Sozialstaat. Hat sich nichts wirklich geändert?

Vom heilsamen Verlust einer Illusion

Die Politik wird von einer Notlage verfolgt, deren Ursachen weit zurück reichen und die sie selbst erst richtig geschaffen hat. Angezeigt vom Gott Geld, glaubt die Politik sie auch mit Geld lösen zu können. Was jedoch zum Scheitern verurteilt ist, denn Geld ist nicht da und wenn es da wäre – Kinder ließen sich damit nicht kaufen. Bleibt als Alternative noch der technisch gezüchtete Mensch, an dem zeitgleich laboriert wird. Doch auch er ist eine Illusion, so wie er es schon in den Jahrhunderten zuvor war. Aber der Mann hätte, ausgehend von seinem Lebensmodell, mit der üblichen Methode die Probleme wegdelegiert. Und die Protagonisten „produktiver Zerstörung“, die mit demokratieentzogener Globalisierung, Flexibilisierung und Individualisierung die schöne Zukunft versprachen, drückten sich vor der Verantwortung für die Folgen ihrer Eingriffe. Wo sie diese erstmals selbst zu spüren bekommen, zeigen sie lieber auf andere: Kinderlose, Alleinerziehende, Geschiedene, Doppelverdiener … – jene, die nur die Kehrseite der bis eben herrschenden Norm des autonom-rundum-verfügbaren Berufsmenschen nach altmännlicher Herrlichkeit darstellen. Kinderlose lebten auf Kosten der Familien und Kinder, heißt es. Dabei produzieren sie im jetzigen System das Geld für Kindergärten, Schulen, Universitäten, Sozialsysteme, landen Alleinstehende – mehrheitlich geringer verdienende Frauen – automatisch in Steuerklasse I, müssen sie für den Zugang zu geldwerten sozialen Machtnetzen weit mehr aufwenden etc. Dass „Nutzen sozialisiert, Kosten privatisiert“ werden, mag im Einzelfall passen. Das Problem der systemisch und durch gesellschaftliche Wertsetzungen geschaffenen Paradoxien, Diskrepanzen und Machtgefälle trifft es nicht: Wir sollen uns zwar auf eine globale Welt(markt)gemeinschaft einstellen, aber die Familie soll in ihrem sozialen Raum eng, arm und stupid bleiben. So viel die einen an Erwerbsarbeit zu viel auf einmal haben, so viel haben die anderen zu wenig und so viel unbezahlte und „unbezahlbare“ Arbeit bleibt gleichzeitig liegen. Eine Gesellschaft, die nur die Hochintelligenten zu brauchen glaubt, sitzt einem fundamentalen Irrtum auf. In Technik werden Milliarden investiert, Soziales wird einfach zum Fenster herausgeschmissen. Benutzt wird ein Bruchteil der Technik, Menschen finden zuhauf keinen Nutzen in ihrem Dasein. Während die Familie Wohlstandsattribut und Machtressource für die einen geworden ist, wurde sie den anderen zur einzigen Sinn- und Existenzbasis, Sozial- und Altersversicherung. Angebliche oder tatsächliche Selbstbehauptungsunfähigkeit vor einer veränderten Welt, das Altern und das Aussterben hierzulande stehen global „Überbevölkerung“ und „Geburtenüberschuss“ anderenorts gegenüber. „Familie“ funktioniert dort höchstens als Seilschaft von Eliten; namentlich junge Männer ohne jede gesellschaftliche Perspektive probieren sich zuhauf in Verwahrlosung, Gewalt und Terrorismus. Gibt es etwa doch wechselseitige Abhängigkeiten und Zusammenhänge, die aber nicht (an-)erkannt und „in Rechnung“ gestellt werden, es sei denn durch die Hintertür?

Wenn ja, wo liegen die Ursachen dafür? Und ist es so tragisch, dass es weniger Kinder gibt, die Einzelnen mehr Individualität leben und die klassische Kleinfamilie auf eine maximal 15- bis 20-jährige Lebensphase für jene geschrumpft ist, bei denen und solange die kollektive Beziehungsstiftung gewollt ist und gelingt? Ist genau das nicht ein Zeichen von Qualität und Wohlstand, der Überwindung schädlichen Zwangs, von Missbräuchen und Gewalt, des heilsamen Verlustes der Illusion von der Familienidylle und ergo nicht das eigentliche Problem? Und wenn Familie wieder ‚in‘ ist – handelt es sich um nostalgische Flucht, einen Trend vom Egoismus zum Altruismus, eine Nutzen-Kosten-Kalkulation oder eine positive Lebenserwartung und Emanzipation innerhalb der Familie?

Die Folgen veränderter Geschlech­ter­ver­hält­nisse

Von den Frauen (und Männern), die im Zweifelsfall Familien gründen, ist auffallend wenig die Rede. Obwohl es zunächst noch immer um sie geht, die mit dem bürgerlichen Zeitalter zur Hauptsache in die Kleinfamilie verpflanzt worden sind. Die bisherige „weibliche“ Arbeit, die Hingabe und Sorge für das Wohlergehen anderer und für menschliche Bindung, „füllt“ Frauen nicht mehr „aus“; sie stellt keine (wenigstens mittelbare) Existenzsicherung mehr dar. Die Frauenbeschäftigung wächst so oder so unaufhaltsam weltweit, oft schon sind Frauen die Haupternährerinnen. Frauen wie Wirtschaft wünschen dies so sehr wie sie es müssen, weil die ökonomischen Ressourcen für beide nicht reichen. Noch immer denken alle, alles andere könne mehr oder weniger so bleiben wie es war. Damit sind für den Tag zwar ein paar Reserven gewonnen. Doch die Wirtschaft verliert ihre bisherige Voraussetzung, treibt Individualisierung auf absurde Spitzen und frisst ihre eigene Existenzgrundlagen. Und was die Frauen gegenüber Männern im neueren sozialen Wandel begehrt macht, soziale Kompetenz und Multidimensionalität im Weltbild etwa, setzen diese aufs Spiel, indem sie es nur verbrauchen lassen. Beide Bewegungen ergeben einen negativen Synergieeffekt, der die Sache unproduktiv macht und einen gravierenden Qualitätsverlust bringt. Sie vernichten soziales Kapital, von dem sie beide leben. Beide übergehen, unterschiedlich in Vorzeichen und Massen, im vermeintlich privaten Lebensort die Produktionsstätte des Sozialen und der dazugehörigen „betrieblichen“ Haushalte, einschließlich der Arbeit, die für sie gemacht, und der Kosten, die dafür aufgebracht werden müssen. Weil die Arbeit am Menschen nichts kostet, ist sie auch nichts wert – also wird sie weit unter Preis gehandelt, verschleudert und stirbt aus, weil ihre Produktionsbedingungen peu a peu entfallen – sofern es keinen Ersatz für sie gibt.

Gleichberechtigung aber gibt es mitnichten: Die Ungleichheit liegt heute nur in abstrakten sozialen Strukturen der Existenzsicherung bzw. der ungleichen Verteilung von Geld, Zeit, Macht, also von Freiheit, auf deren Unterseite Arbeit am Mensch und an konkrete Menschen gebundene Kreativität ausgebeutet werden. Sie liegt in gesellschaftlichen Denkparadigmen von Wirtschaft, Arbeit, Leben, Familie, die aus dem vorigen Jahrhundert stammen. Außerdem liegt sie in politischen Machtverhältnissen, die anonymisiert dem (führenden) Mann die gesellschaftliche Definitionsmacht von Werten und Mitteleinsätzen lässt, mit der er über Geld und Technik, ein historisches Amalgam, die Gesellschaft kontrolliert. Gegen diese Ungleichberechtigung streiken viele, namentlich die gebildeteren Frauen heimlich oder unbewusst: Sie versagen sich ihre eigenen Kinderwünsche, kündigen die „Umsonst-Arbeit“ auf und betreiben mit durchaus eigenen Methoden erfolgreich ihre Selbstbehauptung auf dem Markt. Singles, Kinderlose, anspruchsvolle Frauen, bei denen Beruf und Privates Hand in Hand gehen, die mit einem „Männersystem“ nicht mehr kompatibel sind, zeigen epochale Veränderungen an.

Auf dieser (Problem-)Ebene aber reagier(t)en die normsetzenden Männer selten und wenn, dann meistens zu spät. Sie bevorzugen es bis heute, die Marktkriege um ein weiteres zu verschärfen, und sei es mit Terror. Noch die letzte (systemische) soziale Verantwortung in Gestalt paternalistischer Fürsorge haben sie abgeworfen, für sich selbst weder mündig noch demokratiefähig. Nur dem führenden Wirtschaftsmann, dem Gewinner schlechthin, wird’s langsam brenzlig, denn die Grenze dieser Methode ist erreicht. Derweil schreitet der soziale Wandel munter weiter voran. Von der neuen Arbeit wird die alte Familie unterwandert, von den Folgen des damit beförderten demographischen Wandels werden neue Arbeit und anderes Leben nur beschleunigt. Unter der Hand haben Frauen die Männer als gesellschaftlich führende Norm längst abgelöst.

Die Familie als solche existiert natürlich wie eh und je, wo und wie es passt, abhängig von den Zwängen, unter denen sie sich bewegen muss. Aufgekündigt wurden und werden nur ihre alten Formen und Regeln: Die Leute schlugen sich ins Freie. Nun versucht die Politik den Prozess mit vereinten Kräften wieder einzufangen – entsprechend den neuen sozialen und politischen Machtverhältnissen, die sich zwischenzeitlich eingestellt haben. Das wird zur neuen Klientelpolitik in dieser oder jener Variante – aber an der Lage der Familien wird dies noch nichts Wesentliches verändern: Die Frauen werden sich nicht heimholen lassen. Keine noch so schöne Väterkampagne konnte Männern vormachen, dass es sich lohnte, ihren Platz einzunehmen, obwohl Männer als (moderne) Väter wirklich gebraucht würden. Von ihrer Leidenschaft, Kinder zu bekommen und das Dasein mit ihnen zu teilen, ganz zu schweigen. Die traditionelle Kleinfamilie kann weder die individuellen noch die gesellschaftlichen Bedürfnisse mehr befriedigen, ihre Kinderziehung ist unprofessionell und ihre häuslichen Arbeitsweisen sind unproduktiv. Die Delegation des Problems der „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ an Frauen ist undemokratisch, sie macht die Arbeitsbürger unmündig und unselbständig.

Das Kapital: der neue Zusam­men­halt

Es geht längst zurück zu den Anfängen, und das ganz von allein. Dennoch wird es Familie als autonome Produktionseinheit bzw. heile Erwerbs- und Versorgungsgemeinschaft (wenn es sie denn je gab) nicht mehr geben. Davor steht das globale Kapital, das die Familie viel zu sehr braucht und sich deshalb längst eine entsprechende Last aufgebürdet hat. Kollektiven Zusammenhang und Einheit stiftet nicht mehr die Nation, der Staat, die Klasse, die Tarifpartner, die Familie o.ä., sondern das Kapital, das sich und die Menschen mehr oder weniger komplett von den bisherigen Spielregeln freigesetzt hat. Das Leben organisiert sich da herum. Das Kapital will die beste Arbeitskraft. Die beste ist nicht eine, die Kummer hat, „lern- oder leistungsgestört“ ist. Also bezahlt es für die, auf die es nicht verzichten kann, die Kreativen. In dem, was Gesellschaft ausmacht, stehen sich Mensch und Kapital mehr und mehr sehr direkt gegenüber – und sehen, was sie miteinander aushandeln können. Je wertvoller die Arbeitskraft, desto mehr gibt es für ein reichhaltiges soziales Leben als neuer Ressource statt Konsum und Freizeit. Menschen verbinden sich, wo sie sich treffen. Das geschieht vornean im ökonomischen Austausch, denn da sind sie wer. Ehen werden gestiftet werden, weil es gut für die eigene Arbeitskraft, die Gesundheit, das „Selbstunternehmen“ ist. Auch für dieses gilt es, die beste Rendite durch umfassende Eigenkapitalentwicklung zu sichern. Jede, jeder wird auf die Selbstvermarktung angewiesen sein. Es gibt keine extraordinären Strukturen oder Inseln mehr, die konträr zur Wirtschaftsgesellschaft funktionieren. Nischen gibt es nur jenseits einer normalen Existenz – einzeln oder in neu pauperisierten Regionen. Ehe und Familie werden Teil der „Firma“, in der der Unterschied zwischen privater und öffentlicher Arbeit aufgehoben ist, in der Intimität, Privatheit, Liebesideal als Grundlage und Sozialstaat als äußerer Rahmen entfallen. Kapital wird Familien (inkl. sexueller Reproduktion) vernetzen, flexibilisieren, restlos offen kapitalisieren und vergesellschaften und zu einem untrennbaren Teil von Wirtschaftsgesellschaft machen. Deshalb wird das Kapital im eigenen Interesse Familie auch ökonomisch und politisch eingemeinden müssen. Von den inneren Wertbezügen und Spielregeln der Wirtschaftsgesellschaft wird alles abhängen.

Stand­ort­faktor Indivi­du­a­lität

Die gravierendste Veränderung im sozialen Wandel zur Dienstleistungs-, Informations-, Wissens- und Mediengesellschaft sind nicht die neuen Techniken als solche. Sie machen materielle Produktionen nicht überflüssig, sie verändern sie jedoch. Sie führen auch nicht in eine virtuelle Welt, die die Wirklichkeit außer Kraft setzt, sie bringen aber eine zusätzliche Spiegelungsebene. Entscheidend ist die „Flüssigkeit“ und Komplexität der neuen Arbeitsverhältnisse und -mittel. Sie machen die Orte, Zeiten, Rhythmen und Einteilungen der Arbeit beweglich. Sie machen wertmäßige, definitorische, räumliche etc. Trennungen und Hierarchien zwischen Familien- und Berufsarbeit, (wertlosem) Privatem und (statusförderlichen) Öffentlichem, unbezahlt-Reproduktiven und bezahlt-Produktiven, Kopf und Hand, Technik und Mensch überflüssig, sogar unmöglich. Sie lassen diese Arbeitsteilungen verfließen, verflachen und anders verschmelzen. Der weitere Ersatz körperlicher Arbeit durch Technik stärkt noch einmal mehr die Bedeutung des Faktors Mensch. Vor allem löst sich die geschlechtliche Arbeitsteilung, in der sich die Teilungen gebündelt haben, bis in ihre Restbestandteile auf. In ihr sind die Teilung zwischen Ober- und Unterbau der Gesellschaft, das gespalten-verzerrte Menschsein und die halbierte Demokratie am offenkundigsten kontraproduktiv geworden. Bewegliches Arbeiten, bewegliches Leben, bewegliche und komplexe Sozialbeziehungen werden die Zukunft bestimmen. Familien als fruchtbare Sozialgefüge und Lebenseinheiten werden von der Stabilität, der Verbindungsfähigkeit und Beweglichkeit von Kapital in jeder Form abhängig sein. Und der Mensch ist umso mehr sein eigenes Kapital, je weniger er andere Kapitalien hat. Halt findet der oder die Einzelne nur in seiner eigenständigen Existenzbasis, Selbsterfindung und Selbstorientierung innerhalb eines sozialen Gefüges, in seiner Einbindung in Gesellschaft durch ein (Lebens-)Werk. Familie wird, wenn sie ihre Funktion erfüllt, hierarchielos um den Einzelnen herum stattfinden oder bei jenen, die sich am meisten Familie kaufen können. Wer Familien stützen will, muss den Einzelnen in seinem Lebenswerk und seiner Beziehungsfähigkeit, das Hineinwachsen in eine offene und entwicklungsfähige Welt stützen.

Neue Heraus­for­de­rungen für Staat und Gesell­schaft

Diese fundamentale Veränderung fordert Gesellschaften als Kollektive und den Staat als Medium des Politischen heraus, sofern sie nicht alles dem Kapital allein überlassen wollen.

  1. Wo der einst zur privaten Liebessache erklärte Hauptort der Produktion des Sozialen ausfällt, soziale Ressourcen nicht mehr einfach da sind, muss vom Geboren-werden bis zum Sterben die Arbeit am Menschen Teil des Gesellschaftlichen werden. Dann stellt sich die Frage: Wer macht diese Arbeit künftig? Welche Leistung steckt in ihr? Wer bezahlt sie?
  2. Wo die Marktwirtschaftsgesellschaft so sehr die „Humanressource“ nachfragt, werden deren Verbraucher für sie einen Preis bezahlen müssen, mit dessen Ertrag sie hergestellt werden kann. Deshalb wird jede/r und jede Wirtschaftseinheit für soziale Bildung, Sozialkapitalbildung und Gesellschaftsfähigkeit künftig mehr Geld auf den Tisch legen müssen.
  3. Wo die Hierarchien und Dichotomien der Arbeit entfallen, entfallen auch ihre dazugehörigen gesellschaftlichen dichotomen Einheiten und Hierarchien von Mann zu Wirtschaft, Staat, Familie, Gesellschaft, Frau etc. Deshalb ist die Wahl zwischen anarchistisch-autoritärer Regierungsweise durch Charismatiker oder neuer Demokratisierung zu treffen.
  4. Wo der Wandel der Geschlechterverhältnisse, die vielleicht tiefgreifendste gesellschaftliche Veränderung überhaupt, von den Parteien damit beantwortet wird, dass sie etwas mehr dafür zahlen wollen, dass es in „erleichterter“ Weise bleibt, wie es ist, werden die gesellschaftlichen Probleme der „Zweiten Moderne“ verkannt. In der nahen und mittleren Zukunft werden sich die neuen Arbeitstätigkeiten und -weisen, die Erwerbstätigkeit von Frauen, die Reintegration von Alten in die Arbeits-und Gesellschaftswelt, Bildung und frühes Tätigsein von Kindern ausbreiten. Die „Frau“ wird als einzelne spezifische Ressource, als Teil eines Ganzen und als Synonym für die Arbeit am Mensch gebraucht. Die Ignoranz gegenüber dem humanen Faktor, soziale Spaltung, Ausbeutung und Ungleichheit tragen ökonomisch nicht mehr, am wenigstens den traditionellen Mann. Für ihn ist es in der neuen Welt eng geworden, er verschrumpft in sich selbst. Seine Krise belastet die Gesellschaft schwer. Herauskatapultiert aus „produktiver Funktion“, Haupternährerrolle, nicht nötig als der, der die wichtigste Arbeit macht, nicht mal nötig als Erzeuger, erst recht bar eines neuen Bildes vom Mann und bar entwickelter sozialer Fähigkeiten, ist es mit seiner Exklusivität und seinem Vorrang vorbei. Dass die einen fürsorgen und verbinden, die anderen trennen und Macht ausüben, ist mittlerweile passé. Eine neue Rolle findet er nur – wie sie – als selbstbestimmter Bürger, Multi-Produzent, Sozialwesen und Lebewesen, fähig zu vielfältigen, netzförmigen, komplexen demokratischen Beziehungen auf gleicher Wechselseitigkeit, sei es zwischen Menschen, Lebensbereichen oder Daseinsweisen. Unerlässlich ist nun also eine Umgestaltung, die neue allgemeine Spielregeln hervorbringt.
  5. Der Staat kann weder Übervater noch Übermutter mehr sein, die Familie nicht seine Keimzelle. Auch kann er der Frau nicht den paternalistischen Mann und beiden nicht die traditionelle Kleinfamilie ersetzen. Er muss vielmehr Instrument einer kollektiven, reziproken, offenen Verhandlung und Garant deren Verhandlungsergebnisse werden — und zwar bezogen auf drei gesellschaftlich existentielle Aufgaben:
  • a) Er muss für die notwendigen allgemeinen Verkehrsregeln sorgen. Und er muss als allgemeine Grundlage ein Minimum an freien und gleichen, sozialen und politischen Bürgerrechten gründen, die so beschaffen sind, dass sie Selbständigkeit und Selbstversorgung der Bürger in Kooperation mit anderen und demokratische Gemeinfähigkeit ermöglichen.
  • b) Er muss die Steuer- und Sozialpolitik, also den Bereich abgeleiteter Wertbeziehungen und sozialer Rechte, neu gestalten und hierbei insbesondere für Kinder und Alte bzw. alle Nicht-Selbstversorgungsfähige das Solidarprinzip garantieren, um individuelle Freiheit erst zu schaffen.
  • c) Er muss für Demokratisierung und Gleichheit in gesellschaftlichen Strukturen und in der Rechtssetzung sorgen, um nachhaltige Produktivität zu sichern. In der Vergangenheit wurde das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit und damit die Ausgestaltung der Erwerbsarbeit als ausschlaggebend betrachtet und behandelt. Künftig wird der Ort, an dem über diese Änderungen entschieden wird, die Wirtschaft in ihrer ganzen Komplexität und ihren Wertbezügen sein. In diesem Sinne sind – nach der Atomisierung der Gesellschaft – die Orte, an denen „Gesellschaftsstiftung“ künftig stattfindet, neu zu erfinden. Auch wenn der Gang durch eine „reaktionäre“ Phase ob zu geringen Leidensdrucks uns nicht erspart bleiben sollte, wird dieser Weg zwar teurer, aber dennoch unausweichlich bleiben.

Das Ideal einer neuen Großfamilie

Die Ursachen der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie liegen in fehlender und verfehlter Kinderbetreuung, in überholten Berufsstrukturen, in unzureichender, weil zu wenig und nicht existenzsichernder Teilzeitarbeit, in der Unterbezahlung sozialer Arbeit, im Sozialrecht, im Machtanspruch von Männern, im Mangel an erwerblicher Haus- und Familienarbeit und einem rückwärtsgewandten Familienbild sowie in falscher inhaltlicher und methodischer Politik, die mit Bürokratie und Gesetzeszwang zu operieren versucht, anstatt neue Entwicklungen durch positive Anreize freizusetzen. Der Mensch ist in seiner Ganzheit zu sehen und Gesellschaft auf ihn auszurichten. Wenn ein Menschenleben heute länger dauert, so braucht eine Gesellschaft auch weniger Menschen zu ihrer eigenen Reproduktion. Natürlich müssen, können und wollen Menschen länger arbeiten, wenn sie älter werden, vorausgesetzt, sie werden nicht schon zwischen dem dritten und fünften Lebensjahrzehnt bis zum letzten Tropfen ausgepresst. Nun ist auch für Familien die Zeit gekommen, in der Begegnungen frei und freiwillig werden müssen, das wird sie beleben. Natürlich ist es vernünftig und human, Fremde aufzunehmen, die am Sozialprodukt mitarbeiten und neue Impulse in eine Gesellschaft bringen. Ob Frauen und Männer die Kinder in die Welt setzen, die sie sich wünschen, hängt, neben Unberechenbarem, von ihren eigenen und der Kinder Zukunftsperspektive ab. Schutzbedürftig sind die Rechte der Kinder und all derer, die von anderen abhängig sind. Das künftige Ideal wird eine Großfamilie neuer, offener und freierer Art sein, die sogar noch Freundinnen und Mitarbeiter mit einschließen kann, die jedoch nicht unter einem Dach, sondern selbständig und miteinander verknüpft leben. Familie ist so in der Tat eine soziale Ressource und Quelle von Reichtum.

Wer eine solche Familie stützen will, darf nicht Wunschdenken und Kitsch folgen, sondern der ergreift im großen Stil folgende Maßnahmen:

  1. Er muss – neben einem guten öffentlichen Bildungswesen – ein fallweise privatwirtschaftliches, zivilgesellschaftliches, betriebliches, konfessionelles oder staatliches, jedenfalls öffentliches Kinderwesen schaffen, das rundum Lebensorte schafft und jene Bildung wie menschlichen Beziehungen ermöglicht, die Kinder brauchen, vom erreichbaren Vater bis zu Gefährten, erwachsenen Sippschaften, Erziehern und Lehrern- und das für/über den ganzen Tag.
  2. Er muss eine Dienstleistungswirtschaft schaffen, die bisherige private Haus- und Familienarbeit in allen Facetten und Qualitätsanforderungen durch neue Erwerbsmöglichkeiten auf dem Markt ersetzt.
  3.  Er muss „Arbeit für Andere“, Kinder, Alte, Kranke, und soziale Beziehungsverantwortlichkeit steuerlich fördern.
  4. Er muss Löhne für traditionell „weibliche“ Arbeiten, ob in der Familie oder sonstwo, sowie die Entgelte für soziale und kreative Leistungen radikal erhöhen.
  5. Er muss ein eigenständiges Existenzminimum bzw. steuerfreies Grundeinkommen und konsequent eigenständige Sozialsicherungsstrukturen für jede und jeden – egal welchen Alters und welchen Erwerbsstandes – garantieren.
  6. Er muss auf eine Lebenslänge neue Arbeitszeitsysteme mit neuen durchschnittlichen Mindest- und Höchstgrenzen an Entgelten und Zeitverausgabungen schaffen, die im übrigen für jede und jeden Zeit für soziale Beziehungspflege und soziales Lernen schaffen.
  7. Demjenigen muss vollkommen egal sein, welche Verbindungen Menschen eingehen und in welcher Form sie leben, während er die Übernahme sozialer Verantwortung belohnen muss.
  8. Er muss sich an neuen sozialen Werten und Normen orientieren – an einem Halbe-Halbe zwischen den Geschlechtern wie generell zwischen sich selbst und anderen. Dann kommen neben Müttern auch Väter heraus.
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