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Was es bedeutet, Jude zu sein - Ein Zwischenruf aus Prag

vorgänge16011/2024Seite 115-116

Das zwanzigste Jahrhundert brachte für die Geschichte der Zivilisation die Erkenntnis der Relativität. Diese Bereicherung verdanken wir beileibe nicht nur Albert Einstein. Seine Überlegungen gehören in den Raum der Theorie. In der Praxis setzte sich für den Aufstieg der Relativierung am meisten der Gang der Ge-schichte selbst ein. Mit dem bisschen Abstand, das wir jetzt schon gewinnen konnten, kann man sagen, dass es in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts kein Ereignis gibt, das nicht irgendwann einmal relativiert und dadurch in Zweifel gezogen wurde. Die einzige Ausnahme in dieser Beziehung bildete bis-lang der Holocaust. Der kaltblütige und gnadenlose Mord an sechs Millionen Juden blieb auch von Seiten der „originellsten“ Denker unter den Geschichtstheoretikern von neuen Auslegungen ausgespart.

Das bedeutet aber keinesfalls, dass mit dem Phänomen des Holocaust nicht auch zweckgerichtet umgegangen würde. Allerdings wird der Holocaust als historisches Faktum dabei nicht verleugnet. Wenn von einem Erbe des Holocaust für heutige Gesellschaften gesprochen wird, dann geht es in der Regel um ein Nachdenken über menschliche Würde vor dem Hintergrund des Schicksals von Angehörigen der jüdischen Nation.

Jude zu sein war und ist ohne Zweifel nie einfach. Nicht nur im zwanzigsten Jahrhundert. Die trostlose Bilanz unserer neueren Geschichte erlaubt aber auch einen anderen Blickwinkel. Dafür ist wohl das schlechte Gewissen der heute Lebenden verantwortlich. Denn die erdrückende Mehrheit der Weltgemeinschaft der Demokraten legitimiert sich bis heute gerade durch eine prinzipielle — wenn auch nicht selten abstrakte — Haltung gegenüber dem Holocaust, beziehungsweise dem Antisemitismus. „Jude zu sein“ kann heute verkürzt bedeuten, „außer Zweifel zu stehen“. Wie dramatisch freilich der Abgrund zwischen einer ähnlich abstrakten Ansicht und der eigenen Realität sein kann, belegt am besten das tagtägliche Drama der Bewohner Israels — nicht selten Nachfahren von Opfern des Holocaust. Wer würde sich in solchen Umständen wünschen, „Jude zu sein“? Aber auch aus einem solchen Dilemma findet der neuzeitliche Aufgeklärte einen Ausweg. Mit Hilfe einer gehörigen Dosis von Abstraktion gelingt es, zwischen „Juden“ (zu denen man sich angesichts des schlechten Gewissens auch weiterhin bekennt) und „Israelis“ (die aus denselben Gründen bequem kritisiert werden) zu unterscheiden.

Etwa auf diese Art und Weise funktionierten die zurückliegenden Antisemitismus-Diskussionen in Deutschland, dem Land unserer aufgeklärten Nachbarn. Sei es nun, dass es sich um Polemiken auf der politischen Ebene handelte, wo zweifelhafte Praktiken einiger Repräsentanten der liberaldemokratischen FDP ins Visier öffentlich Diskutierender genommen wurden oder um Geplänkel im literarischen Bereich, bei denen sich die kritische Öffentlichkeit auf die Bewertung des Romans Tod eines Kritikers von Martin Walser konzentriert: in beiden Fällen ging es zwar um Juden, aber vor Augen hatte man vor allem die moralische Eignung der Diskutierenden. Eine solche Verbindung muss nicht unheilvoll wirken. Im Gegenteil. Vor allem in dem Land, das vor einiger Zeit der Holocaust betrieb. Um was es geht, ist die Art und Weise der Argumentation. Oder, besser gesagt, ob das Zitieren des „jüdischen Schicksals“ nicht der einen oder der an-deren Seite zur Legitimation für ein zweckgerichtetes, dafür aber um so kompromissloseres Vorgehen gegenüber einem Widersacher dient. Als Beispiel einer solchen Manipulation kann man die Denkweise des erwähnten Schriftstellers Walser anführen. Dieser hatte schon früher in einem Interview mit der Hamburger Zeit — und dies, ohne sich dabei hinter der Romanfigur zu verstecken, die erst später kam — bemerkt: „Die Autoren sind Opfer und er ist der Täter. Jeder Autor, der ihm in die Hände fiel, kann sagen: Herr Reich-Ranicki, in unserer Beziehung bin ich der Jude.“

In der heutigen Zeit benimmt sich aber nicht einmal der härteste Gegner von Walser, die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung, viel besser. Diese Zeitung war vor nicht allzu langer Zeit ein Fürsprecher von Walser. Für wie viele nur von dessen früheren intel-lektuellen Provokationen fand sie Verständnis? Nun aber attackierte die Zeitung ihren treuen Autor für ein Buch, das der Redaktion für einen eventuellen Vorabdruck gewährt wurde, und das bis zu der Zeit von keinem Unbefugten gelesen werden konnte. Anstatt einer persönlichen Rücksprache hat einer der Herausgeber einen Skandal als adäquate Reaktion gewählt und Walser öffentlich als einen Antisemiten bezeichnet. Über die Gründe für diese Strategie kann man nur spekulieren. Doch eine Art Grundmuster des Diskurses ist hinter allen Debatten zu erkennen: Die deutsche Gesellschaft geht mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dar-an, eine neue, selbstbewusstere Form des heimischen Konservatismus zu definieren. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spielt dabei eine bedeutsame Rolle. Die Causa „Walser“ und besonders die Art und Weise ihrer Darstellung kann so unter bestimmten Umständen der Zeitung zu einer solchen Position verhelfen, in der nicht nur sie, sondern vor allem der deutsche Neokonservatismus — trotz der Härte einiger politischen Postulate — „außer Zweifel“ bliebe. Für diese Erklärung würde im übrigen auch die relativ kühle Haltung der Redaktion zu der politischen „Causa Möllemann“ sprechen. Angesichts dessen, dass es im Falle dieser Persönlichkeit um einen evidenten Fall von politischem Populismus ging — Möllemann testete dabei die Kritisierbarkeit von Israel einschließlich der seiner jüdischen Mitbürger vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts — und keineswegs um das Faktum eines „moralischen Fehl-griffs“, überlässt die Plattform für den deutschen Neokonservatismus „ihre Juden“ deren Schicksal.

Unterschiedliche Maßstäbe? Ohne Zweifel. Der Anfang vom Ende des Holocaust als letzte Insel, die von jedweder Relativierung ausgespart bliebe? Kaum. Oder besser gesagt: hoffen wir. Eines steht aber außer Zweifel: Juden selbst zögerten in beiden Streitfällen, obgleich sie im Zentrum beider Diskussionen standen, kategorische Urteile auszusprechen. Im Unterschied zu den „nichtjüdischen“ Teilnehmern an der Diskussion, und das auf beiden Seiten der Auseinandersetzung, stellte sich keiner von ihnen als eine moralische Autorität hin, die „außer Zweifel steht“. Im Unterschied zu den „nichtjüdischen Teilnehmern der Diskussion“ wissen sie nämlich, was es heißt, Jude zu sein.

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