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Le Pens Wahlerfolg - nur ein Betriebs­un­fall? Das franzö­si­sche Partei­en­system steckt in der Krise

In diesem Jahr fanden in Frankreich zwei wichtige Wahlen statt: die Präsidentschaftswahlen am 21. April und am 5. Mai sowie die Parlamentswahlen am 9. Juni und am 16. Juni. Dabei kam es zu einer deutlichen Verschiebung der politischen Gewichte nach rechts. Die linken Parteien mussten drastische Einbussen hinnehmen, während die bürgerliche Rechte unter Chirac eine dominierende Stellung erlangen konnte. Darüber hinaus hat vor allem die extreme Rechte für Aufsehen gesorgt. Im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen musste der Amtsinhaber Chirac gegen den rechtsextremistischen Politiker Jean-Marie Le Pen von der Front National (FN) antreten. Die auf den ersten Wahlgang folgende Mobilisierung vor allem junger Französinnen und Franzosen sowie der Wahlaufruf der meisten linken Parteien zugunsten von Chirac haben diesem zwar einen haushohen Sieg verschafft. Gleichwohl war eine Konsolidierung des Ergebnisses der FN bei den Parlamentswahlen zu befürchten. Dieser Fall trat allerdings nicht ein: Trotz der geringen Wahlbeteiligung konnte die FN ihre Erfolgsserie nicht fortsetzen und verpasste sogar den sicher geglaubten Einzug in die französischen Nationalversammlung. Ist der demokratische ‚Alltag‘ in Frankreich nun wieder hergestellt oder sind langfristige Folgen unvermeidbar?

Die nachfolgende Analyse des politischen Systems in Frankreich und der dort statt findenden tektonischen Verschiebungen soll deutlich machen, dass sich in Frankreich in den letzten Jahrzehnten ein stabiles rechtsextremes Wählerpotenzial etabliert hat, welches die Erosion der tradierten Parteienlandschaft maßgeblich vorantreibt und zu weiteren Umbrüchen führen wird.

1. Der Wandel des politischen Systems in Frankreich

Das Wahljahr 2002 versprach für die etablierten französischen Parteien ein wirklicher Härtetest mit ungewissem Ausgang zu werden. Präsident Jacques Chirac war nicht gerade mit den besten Voraussetzungen in den Wahlkampf gegangen: Der 69jährige genoss zwar den Bonus des Amtsinhabers, galt aber trotzdem als politisch profillos und darüber hinaus affärenbelastet. Seit Jahren hängen ihm dubiose Finanzierungen seiner Partei, der gaullistischen RPR, aus seiner Zeit als Bürgermeister von Paris in den 1980er Jahren an. Nur sein Amt als Staatspräsident hat Chirac bislang davor bewahrt, vor Gericht erscheinen zu müssen. Dieses Faktum hatte allerdings keine sichtbaren Auswirkungen auf seine Umfragewerte. Schwerwiegender wog da die von ihm initiierte Auflösung der Nationalversammlung im Jahre 1997 – ein strategischer Fehler erster Güte. Die vorgezogenen Neuwahlen bescherten Chirac eine dramatische Niederlage und dem Sozialisten Lionel Jospin die Regierungsmehrheit.

Die Linke war damals, nach dem Abgang Mitterrands, geschwächt und auf einen offensiven Kampf um die Regierungsmacht nicht vorbereitet. Dennoch schuf Jospin nach dem Wahlsieg binnen kürzester Zeit eine stabile Regierung aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen sowie Linksnationalen und Linksliberalen. Darüber hinaus gelang ihm die Abgrenzung zum korrupten Personal der Mitterrand-Ära. Die Erfolge der Regierung konnten sich – auch im europäischen Vergleich – durchaus sehen lassen. So hat die Einführung der 35-Stunden-Woche rund 265.000 Arbeitsplätze geschaffen und durch Eingliederungshilfen für Jugendliche konnten 350.000 Auszubildende zumindest befristet in Lohn und Brot gebracht werden. Die gesamtwirtschaftliche Lage sah Frankreich mit 2,1 Prozent Wachstum im Jahr 2001 weit vor Japan, den USA und der Bundesrepublik Deutschland. Andererseits darf nicht unterschlagen werden, dass die neuen Beschäftigungsverhältnisse in der Regel im Niedriglohnsektor angesiedelt sind und z.B. das Verbot von Nachtarbeit für Frauen wieder aufgehoben wurde. Außerdem hat die Regierung der ,gauche plurielle‘ ein Privatisierungsprogramm betrieben, das deutlich über ihre konservativen Vorgängerinnen hinausging.

Tab. 1: Das französische Parteienspektrum vor den Parlamentswahlen 2002

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die seit 1997 die französische Politik prägende ,Kohabitation‘, also die Dualität von Präsident und Premierminister aus verschiedenen politischen Lagern, wurde von der Bevölkerung zunehmend als lähmend empfunden und schwächte auch den Wahlkampf des sozialistischen Herausforderers Jospin. Die immer wieder auftretenden Blockaden sowie der permanent bestehende Absprache- und Koordinierungsbedarf zwischen den beiden Lagern, verhinderte nicht nur flexible und schnelle Entscheidungen, sondern auch die politische Profilierung eines Lagers.

Politik­ver­dros­sen­heit in Frankreich

Diese schwierigen Ausgangsbedingungen für den Präsidenten und seinen Herausforderer korrespondierten mit erheblichen Erosionsprozessen in den französischen Parteistrukturen und im Elektorat. Die niedrige Wahlbeteiligung bei beiden Wahlen in diesem Jahr sowie das Phänomen, nach dem sich im vergangenen Jahrzehnt dauerhaft mehr als siebzig Prozent der Bevölkerung nicht durch eine Partei oder einen Politiker vertreten fühlten, geben davon Zeugnis.

Die etablierten Parteien sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße, in Parteispenden-und andere Finanzskandale verstrickt und haben damit erheblich moralischen Kredit eingebüßt. Der Trend der „Politikverdrossenheit“, in Frankreich als ,crise de la représentation‘ diskutiert, hat seine Basis darüber hinaus in der erheblichen Enttäuschung und Desillusionierung über die mangelnde Steuerungsfähigkeit der Links-Regierungen der 1980er Jahre. Der damalige Sieg der Linken um Mitterand war verbunden mit einem ambitionierten keynesianischen Wirtschaftsprogramm. Entgegen dem neokonservativen Mainstream in den OECD-Staaten – insbesondere in Großbritannien unter Thatcher und in den Vereinigten Staaten unter Reagan – versuchte die Links-Regierung den Strukturbrüchen seit der Wirtschaftskrise 1974/75 mit den Regulationsinstrumenten der Staatsintervention und der Verstaatlichung einzelner Industriezweige beizukommen. Diese versagten ebenso wie das System der staatlichen Beschäftigungsstrukturen und so gerieten beide zunehmend unter Legitimationsdruck. Die Links-Regierung unterwarf sich letztlich ’neoklassischen‘ Wirtschaftstheorien, nach denen die Selbstheilungskräfte des Marktes durch staatliche Intervention gestört werden. So setzte sich gerade unter der Ägide von Sozialisten und Kommunisten, die mit einem dezidiert staatsorientierten Wirtschaftsprogramm angetreten waren, die Erkenntnis durch, dass die ,Grande Nation‘ an nationalstaatlicher Steuerungskompetenz verliert. Durch die rasant zunehmende internationale Verflechtung der Wirtschaft und dem verstärkten Einfluss der internationalen Finanzmärkte, verringerte sich der direkte Spielraum des Staates in der Wirtschaftspolitik. Die fortschreitende „Europäische Integration“ schaffte zwar mögliche Kompensationen, reduzierte die direkten Einflussmöglichkeiten des einzelnen Staates aber weiter. Daraus resultierten Ohnmachts- und Entfremdungsgefühle, die gerade im Elektorat der Front National eine wichtige Rolle spielen.

Die etablierten französischen Parteien reagierten auf diese Entwicklung zögerlich lavierend und zugleich um die öffentliche Inszenierung des starken Staates bemüht. Der Hintergrund ist darin zu sehen, dass sich mit dem Übergang vom fordistischen Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat die Legitimationsgrundlage der staatlichen Akteure wie auch der politischen Eliten entscheidend veränderten. Die keynesianische Regulation, mittels derer durch staatliche Steuerung Wachstum, soziale Sicherung und Vollbeschäftigung gewährleistet werden konnten, stieß auf nationalstaatlicher Ebene an ihre Grenzen. Die politischen Eliten können für sich immer weniger in Anspruch nehmen, soziale Notlagen abzufedern, statt dessen reagieren sie auf das Diktat der internationalen Standortkonkurrenz mit Sparmassnahmen und der Privatisierung sozialer Risiken. Folglich werden korporative Verhandlungssysteme ausgebaut, die zwischen den Interessen von Staat, Kapital und Gewerkschaften vermitteln. Damit entziehen sich die politischen Eliten allerdings auch ihre eigene Legitimation. Materielle Verteilungspolitik wird teilweise zugunsten nationalistischer, autoritär-populistischer und teilweise rassistischer Politik aufgegeben, um die soziale Integration breiter Bevölkerungsmehrheiten und die Legitimation der eigenen politischen Klasse auch weiterhin zu gewährleisten. Mediale Kampagnen, die sich der Bekämpfung von „Kriminalität“ und Migration verschrieben haben, gewinnen dadurch einen immer stärkeren Stellenwert. Die Mobilisierung von latentem Rassismus und Nationalismus bietet funktional den Vorteil, durch langjährige Bearbeitung breite Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung zu finden und von ökonomischen bzw. sozialen Problemen abzulenken. Der rassistisch untermauerte Sicherheitsdiskurs sichert die gesellschaftliche Integration trotz Sozialabbau und konstruiert Feindbilder („Kriminelle“, „Ausländer“ und „Sozialschmarotzer“), die die eigentliche „Gefährdung des Gemeinwohls“ darstellen. Anstatt ihm das Wasser abzugraben, wird dadurch allerdings der Diskurs der extremen Rechten legitimiert.

2. Wie Phoenix aus der Asche? — Der Aufstieg der Front National

Im ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl errang Jean-Marie Le Pen seinen bislang größten Triumph. Von einem Überraschungserfolg zu sprechen wäre jedoch verfehlt. Seit vielen Jahren ist die Front National eine stabile Größe im politischen System Frankreichs. Wie es dazu kommen konnte, soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden.

Die Gründung der Front National wurde 1972 initiiert durch den Ordre Nouveau (ON), eine rechtsextreme Gruppe, die vor allem an den Universitäten aktiv war. Primäre Aufgabe der FN war es, eine Sammelbecken für die zersplitterte extreme Rechte bereit zu stellen. In der FN vereinigte sich zum einen eine Minderheit reaktionärer Katholiken, von denen viele der ,Action française‘ nahe standen, einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Charles Maurras gegründeten faschistischen Gruppe, die die französische Revolution ablehnte und in den 1940er Jahren das Regime von Vichy inspiriert hatte. Zum anderen fand hier eine Mehrheit von Nationalisten, die aus dem ON stammten, ihre neue politische Heimat. Im Jahr 1974 kamen die Nationalrevolutionäre um Francois Duprat hinzu; sie bilden den neofaschistischen Flügel der extremen Rechten. Führungsfigur der FN wird Jean-Marie Le Pen, der für den rechtsextremen Politiker Poujade in den 1950er Jahren schon einmal als jüngster Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung gesessen hatte.

Obwohl in der Startphase keinesfalls erfolgreich, setzte die FN von jeher auf eine elektorale Strategie. Erst Anfang der 1980er Jahre, gut zehn Jahre nach der Parteigründung, konnte sie erste Wahlerfolge verbuchen. Im September 1983 wurde in Dreux der erste Kandidat der FN nach der Fusion der Listen mit den Gaullisten mit einem Stimmanteil von 16,7 Prozent gewählt. Bei den Europawahlen von 1984 kam die FN landesweit auf 10,9 Prozent. Bei den Präsidentschaftswahlen 1988 konnte Le Pen im ersten Wahlgang 14,4 Prozent erzielen. Obwohl die FN bei den anschließenden Parlamentswahlen ’nur‘ 9,7 Prozent erreichen konnte und damit leicht hinter ihr Ergebnis von 1986 zurück fiel, konnte sie bei den Europawahlen 1989 2,1 Millionen Wahlberechtigte gewinnen und kam damit auf ein Ergebnis von 11,8 Prozent. Die Front National greift demnach seit fast zwanzig Jahren auf ein stabiles Wählerpotenzial von rund zehn Prozent zurück und kann in bestimmten Situationen bis zu 15 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Eine neue Qualität erreichten die Wahlerfolge der FN, als sie es zwischen 1995 und 1997 schafften, die Bürgermeisterposten in vier mittelgroßen französischen Städten zu erlangen (Toulon, Orange, Marignane und Vitrolles). In diesen Städten wurden daraufhin linke Gruppen konsequent ausgegrenzt und MigrantInnen systematisch benachteiligt. Eine Geburtenprämie nur für französische Mütter wurde allerdings durch ein Gericht für nicht verfassungsgemäß erklärt.

Selbst die Spaltung, die vor drei Jahren stattfand, als der Stellvertreter und Schwiegersohn Le Pens, Bruno Mégret, nach heftigen Auseinandersetzungen versucht hatte, die Partei an sich zu reißen und schließlich mit einer großen Zahl an Funktionären eine neue politische Formation mit dem Namen Mouvement National Républicain (MNR) gründete, konnte die FN nicht dauerhaft schwächen. Nach einem kurzen Tief hat die FN schnell wieder die Stärke vor der Spaltung erreicht.

Neben der eigentlichen Partei betreibt die Front National eine Reihe von Satellitenorganisationen, die das Ziel haben, ein eigenes politisch-kulturelles Milieu zu schaffen und zu stabilisieren. Dazu gehören die Jugendorganisation Front National De jeunesse (FNJ), die Studentengewerkschaft Renouveau Étudiant (RE), verschiedene gewerkschaftliche Organisationen unter dem Dach der Entreprise Moderne Et libertés, sowie andere Organisationen für Bauern, Auslandsfranzosen und traditionelle Katholiken. Die Polizeigewerkschaft FPIP steht der Front National zumindest nahe. Eine wichtige Rolle spielen auch die Comités D’Action Républicaine (CAR), eine Art Denkzirkel für die Front National, die von Bruno Mégret ins Leben gerufen wurden. Als Sammelbecken für ehemalige Armeeangehörige und rechtsextreme Schläger der Organisation Armée Secréte (OAS), einer rechtsextremen Kampfgruppe aus den 1960er Jahren, die vor allem im Algerienkrieg aktiv war, fungiert der parteieigene Ordnerdienst Département Protection Sécurité (DPS), der wiederholt durch brutale Übergriffe auf Linke und Ausländerinnen aufgefallen ist.

Program­ma­tisch autoritär, rassistisch und natio­na­lis­tisch

Ein einheitliches, geschlossenes, programmatisches Verständnis existiert innerhalb der FN aufgrund ihres Charakters als rechtsextreme Sammlungsbewegung nicht. Statt dessen bestehen mehrere weitgehend autonome ideologische Pole, die aber alle dem FN-Chef untergeordnet sind. Dies entspricht der starken Zentrierung auf die Person Le Pens, der weitgehend unumschränkt und autoritär die FN leitet. Ähnlich wie die Republikaner in Deutschland betreibt die FN ein kluges Doppelspiel zwischen inszenierten, offen antisemitischen und rassistischen ,Ausfällen‘ und der Bespielung der gesamten thematischen Klaviatur der Neuen Rechten. Während der ehemalige FN-Chefideologie Mégret für die Kontakte und den inhaltlichen Austausch mit dem rechten Rand der bürgerlichen Parteien zuständig war, gerät Le Pen immer wieder mit eindeutig faschistischen Äußerungen in die Medien. Im Jahre 1988 nannte er den damaligen Verwaltungsminister Durafour „Durafour-Crématoire“, was als eindeutig antisemitisches Wortspiel zu verstehen ist, denn „four-crématoire“ ist die französische Vokabel für die Gaskammern in den Konzentrationslagen. Nur einige Jahre später äußerte Le Pen sich geschichtsrevisionistisch, in dem er den Holocaust als „ein Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ bezeichnete.

Bezogen auf einzelne zentrale Themenfelder positioniert sich die FN als autoritäre, rassistische und nationalistische Partei mit neoliberalen wirtschaftspolitischen Positionen (Tab. 2).

Tab. 2: Übersicht der programmatischen Aussagen der FN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Grundsätzlich lässt sich der programmatische Kitt der FN auf die drei zentralen Begrifflichkeiten „Identität“, „Stärke“ und „Ethnozentrismus“ bringen. Letzterer geht von einer „naturgegebenen Andersartigkeit der Rassen“ aus und schlussfolgert daraus die Legitimität entsprechender Hierarchien. Diese können nur aufrecht erhalten werden, wenn die Nation ihre Identität behält. Bruno Mégret bekennt sich ganz offen zum Sozialdarwinismus: „Ohne Stärke gibt es kein Überleben, weil alle Nationen – wie jeder lebende Organismus – entweder wachsen oder schrumpfen“. Als roter Faden zieht sich durch die programmatischen Aussagen der Front national die rassistische „Préference nationale“, die Bevorzugung von Franzosen bei staatlichen Leistungen. Da aufgrund des liberalen Staatsbürgerschaftsgesetzes viele Migrantinnen einen französischen Pass haben, soll diese nationale Bevorzugung nur für die von der FN so genannten „Francais de souche“, die eingeborenen Franzosen, gelten. Generell wird die Immigration für fast sämtliche Probleme Frankreichs verantwortlich gemacht. Das Junktim von Xenophobie und neoliberaler Wirtschaftspolitik verbindet die FN mit anderen rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien in Europa.

Präsi­dent­schafts­wahlen 2002: Protest­phä­nomen oder struk­tu­reller Rechts­ex­tre­mis­mus?

Die soziodemographische Zusammensetzung der WählerInnenschaft der FN zeichnet sich durch eine schichtenübergreifende Zusammensetzung aus. Die FN kann als „Volkspartei en miniature“ bezeichnet werden. Dennoch ist, wie bei fast allen rechtsextremen Parteien, der Anteil von jungen Männern unter den WählerInnen besonders hoch. Auch der Anteil von ArbeiterInnen ist überproportional. Bei der Präsidentschaftswahl 1995 war Le Pen im ersten Wahlgang der bei den Arbeiterinnen erfolgreichste Kandidat.

Das Votum für Le Pen wird insbesondere als Protestwahl gegen die etablierten Parteien interpretiert. Dies deckt sich auch mit dem Selbstverständnis Le Pens. Seiner Meinung nach sind die etablierten Parteien verantwortlich für Korruption und Misswirtschaft, die letztlich zu einer Implosion des erstarrten Systems führen werden. Sein „tous pourris“ (alle gleich verdorben) fällt bei einer entpolitisierten und frustrierten Bevölkerungsschicht auf fruchtbaren Boden. Hinzu kommen Veränderungen in der Positionierung der vier großen französischen Parteien zur internationalen Einbindung Frankreichs. Der Bedeutungsverlust der ,Grande Nation‘ in Bezug auf die europäische Währungspolitik und Abgabe von Kompetenzen an die EU waren Wasser auf die Mühlen des aggressiven Nationalismus von Le Pen. Den typischen Ohnmachtsgefühlen der rechtsextremen FN lieferte dies weitere Nahrung.

Allerdings ist es nicht ausreichend, die konstanten rechtsextremen Wahlerfolge schlicht als Proteststimmen zu kennzeichnen. Entscheidendes Bindeglied der heterogenen FN-Wählerinnen ist eine autoritäre Weltsicht und das Gefühl politischer Machtlosigkeit. Trotz konjunkturell variierender Präferenzen herrscht in der FN-Anhängerschaft eine stabile Wertorientierung. An erster Stelle steht die „innere Sicherheit“. Abweichend von der Agenda des Bevölkerungsdurchschnitts setzen die Wählerinnen der FN die Themen der Immigration und Sicherheit auf Platz eins. Vor dem Hintergrund der FN-Programmatik kann diese Fixierung als autoritäre Variante der postmaterialistischen Sorge um Identität, demnach als Identitätsstabilisierung durch aggressive Abgrenzung verstanden werden.

FN-Wählerinnen sprechen sich also vor dem Hintergrund existentieller Verunsicherung für eine kulturelle und soziale Abschottung Frankreichs aus, verstehen Migrantlnnen als Bedrohung der Gemeinschaft von außen und empfinden liberale Freiheitsrechte als dekadent. Vor dem Hintergrund dieser Verunsicherung optieren sie für das, was Le Pen ihnen als traditionelle französische Werte verkauft. Die Stimmabgabe für die Front national ist damit in hohem Maße identitär geprägt.

Tab.3: WählerInnen der Front National (Nachwahlbefragungen)

 

3. Perspek­tiven für das franzö­si­sche Partei­en­system

Nach dem Ende des Wahlmarathons sind auf den ersten Blick wieder normale demokratische Verhältnisse eingekehrt: Eine Regierung wurde abgelöst, ein Präsident im Amt bestätigt; es gibt keine Kohabitation mehr und die extreme Rechte ist im Parlament nicht vertreten. Unter der Oberfläche dieser Normalität vollzieht sich allerdings ein tiefgreifender Strukturwandel des französischen Parteiensystems. Am Besten sieht es zur Zeit noch für die bürgerliche Rechte aus. Sie konnte nicht nur die Präsidentschaftswahlen, sondern auch die Parlamentswahlen eindeutig für sich entscheiden. Mit der Gründung der Union Pour La Majorité Présidentielle (UMP – Union für die Mehrheit des Präsidenten) hat sie die Chance, die traditionelle Zersplitterung der bürgerlichen Rechten zu überwinden. Die Regierungsbildung, mit der Chirac den eher unbekannten Jean-Pierre Raffarin von der Partei Démocratie Libérale (DL) beauftragt hatte, ist in weiten Kreisen auf Beifall gestoßen. Die Verbindung von erfahrenen Kadern und talentierten Nachwuchspolitikern sowie die Öffnung zur Zivilgesellschaft wurden allgemein gelobt. Vor allem die Ernennungen des Philosophen Luc Ferry zum Bildungsminister und der Wissenschaftlerin und ehemaligen Astronautin Claudie Haigneré für das Ressort Forschung sorgten für Aufsehen.

Vor allem aber profitiert die bürgerliche Rechte von dem desolaten Zustand der Linken. Die derzeitige Verfassung der ,gauche plurielle‘ kann man gut daran ablesen, dass von ihren ehemaligen Führungsfiguren Lionel Jospin (PS), Robert Hue (PCF), Dominique Voynet (Verts), Jean-Pierre Chevènement (MDC) und Jean-Michel Baylet (PRG) keiner in der Nationalversammlung vertreten ist. Die ehemaligen Regierungsparteien haben es nicht geschafft, die massive Mobilisierung der Bevölkerung zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentschaftswahlen bei den Parlamentswahlen für sich zu nutzen. Die niedrige Wahlbeteiligung lässt vermuten, dass viele Wählerinnen und Wähler der Linken zu Hause geblieben sind. Die PS leidet zudem stark unter dem Rückzug ihrer Integrationsfigur Jospin aus der Politik. Es droht die Gefahr, dass die Partei nun beginnt, sich in Richtungskämpfe zu verstricken, deren Vorboten schon spürbar sind. So trat die Fraktion um Henri Emmanuelli aus dem Parteivorstand aus, um gegen die Nominierung des eher zum rechten Flügel zählenden Laurent Fabius zur Nummer zwei der Partei zu protestieren. Fabius hatte zuerst Parteisprecher werden sollen, was die ehemalige Arbeitsministerin Martine Aubry mit einer Rücktrittsdrohung verhindert hatte. Im Moment ist die PS noch damit beschäftigt, ihre Niederlage zu verarbeiten und sich neu zu positionieren.

Bei den Kommunisten kommt zu der Demütigung ihres Vorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten, Robert Hue, der bei den Präsidentschaftswahlen nur 3,3 Prozent erhalten hatte, ein finanzielles Problem. Die vorher schon verschuldete Partei bekommt durch ihre schlechtes Abschneiden erheblich weniger Wahlkampfkostenerstattung, als erwartet und steht finanziell vor dem Ruin. Den Kommunisten hat vor allem geschadet, dass es ihnen nicht gelungen ist, als Regierungspartei ein eigenes Profil gegenüber der PS zu entwickeln. Auch hier stehen nun strukturelle Entscheidungen zum Umbau des traditionell großen Parteiapparats sowie die inhaltliche Modernisierung auf der Tagesordnung.

Von den drei kleinen Parteien der ,gauche plurielle‘ haben es nur die Grünen geschafft, wieder in die Nationalversammlung einzuziehen. Mit nur drei Abgeordneten statt bislang sieben und ohne ihre Vorsitzende Voynet werden sie aller Voraussicht nach aber in der Opposition neben PS und Kommunisten marginalisiert sein. MDC und PRG sind erst einmal von der politischen Landkarte verschwunden.

Doch auch die Front National wird als Verliererin der Wahl gehandelt. Das ist insofern richtig, als dass sie den Einzug in die Nationalversammlung verfehlte und auch gegenüber ihrem Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen ungefähr 4,5 Prozent verlor. Allerdings lag sie nach dem ersten Wahlgang bei 12,5 Prozent der Stimmen und ist damit unangefochten drittstärkste Kraft im Land. Nur das französische Mehrheitswahlrecht verhinderte ihren Einzug in das Parlament. Selbst bei einem leichten Rückgang gegenüber den Parlamentswahlen von 1997 machte die Front National deutlich, dass sie eine dauerhaft verankerte Partei mit einer stabilen Anhängerschaft darstellt und regelmäßig über zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann. Von einer Rückkehr zur demokratischen Normalität kann daher keinesfalls gesprochen werden.

Das französische Parteiensystem steht insgesamt vor einem Umbruch. Einen der wenigen stabilen Faktoren – und hierin besteht eine erhebliche Gefahr – stellt die rechtsextreme FN dar. Ansonsten steht einer geeinten bürgerlichen Rechten eine stark ramponierte Linke gegenüber, die sowohl ihren neuen Kurs als auch neue Vorleute erst noch finden muss. Beide politische Lager müssen zudem eine Antwort auf die seit Jahren zu beobachtende Rechtsentwicklung in der französischen Wählerschaft finden. Der Versuch, aus den Verschiebungen politisches Kapital zu schlagen – wie im Vorwahlkampf geschehen – schadet letztlich der Demokratie und damit ihnen selbst.

Literatur

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Osterhoff, André 1997: Die Euro-Rechte. Zur Bedeutung des europäischen Parlaments bei der Vernetzung der extremen Rechten, Münster

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