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Herrschaft und Rhetorik bei Max Weber

vorgänge16009/2024Seite 59-67

Wohl kaum ein Denker des 20. Jahrhunderts hat die Sozialwissenschaften auf so vielfältige Weise inspiriert wie Max Weber. Ganze Forschergenerationen haben sich an seinem Werk abgearbeitet; die ,Weberologie‘ hat, vor allem seit dem Erscheinungsbeginn der Max-Weber-Gesamtausgabe, scheinbar alle Bereiche seines Denkens kanonisiert. Doch dieser Eindruck täuscht: Immer noch gibt es zentrale Aspekte zumal der politischen Theorie Webers, die auf ihre Entdeckung und Interpretation warten. Um einen von ihnen soll es hier gehen.

Schon Roland Barthes hat die Omnipräsenz der alten Rhetorik in der europäischen Kultur angedeutet (Barthes 1970). Die „rhetorische Wende“ ist parallel dazu international in die akademische Welt eingedrungen, nicht zuletzt in die Politikwissenschaft (z.B. Nelson 1998) und in die Geschichte des politischen Denkens (z.B. Skinner 1996). Erstaunlicherweise zeigen sich in der Max-Weber-Forschung aber nur wenige Spuren von beidem. In dem jüngst veröffentlichten Sammelband Max Webers Herrschaftssoziologie (Hanke/Mommsen 2001) etwa fehlen die Stichworte ‚Rhetorik‘ und „Rede“ im Sachregister.

Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht:

Der Titel seiner Habilitationsschrift (1891) verweist schon auf althistorische Themen bei Weber, die sich in späteren Werken bei ihm vielfach finden. Sie lassen sich, etwas überspitzt formuliert, bis in seine klassisch-humanistisch geprägte Schulzeit zurückverfolgen: Mit zwölf Jahren las er Machiavelli und kritisierte mit vierzehn „die schwache Politik Ciceros“ gegenüber Catilina (Weber 1936: 3, 12). Dieser Hintergrund zeigt sich später sowohl in seinen Begriffen, Klassifikationen und Unterscheidungen als auch im Gebrauch antiker Termini für moderne Verhältnisse. So zieht er zum Beispiel eine direkte Linie vom antiken Typus des demagogos zum modernen Berufspolitiker: „Der, Demagoge‘ ist seit dem Verfassungsstaat und vollends seit der Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident. Der unangenehme Beigeschmack des Wortes darf nicht vergessen lassen, dass nicht Kleon sondern Perikles der erste war, der diesen Namen trug.“ (Weber 1919: 54). [1]

Nach Weber bedeutet charismatische Herrschaft „Macht des Geistes und der Rede“ (Weber 1922: 481). Die explizite rhetorische Dimension ist demnach beim charismatischen Typus am stärksten. Jedoch die gesamte Legitimitäts- und Herrschaftsproblematik ist bei Weber vom rhetorischen Begriffsinstrumentarium geprägt. Davon wird im Folgenden die Rede sein.

Chancen der Herrschaft

Webers berühmte Definition der Herrschaft lautet: „Herrschaft soll heissen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 1921/22: 28, 122; Weber 1922: 475) Begriffsgeschichtlich gesehen neutralisiert Weber damit den obrigkeitsfixierten Herrschaftsbegriff (vgl. Koselleck 1979: 128). Diese Neutralisierung hängt mit Webers zentraler begrifflicher Innovation zusammen, wonach soziale Beziehungen immer Komplexe von Chancen sind. In dieser Perspektive ist Herrschaft weder ein Besitz noch eine bloße Relation von Über- und Unterordnung, sondern hängt von den Handlungen der in der Situation anwesenden Personen ab.

Im Unterschied zum amorphen Begriff der Macht verweisen Befehl und Gehorsam auf die Asymmetrie der Herrschaftschancen: auf eine eindeutige Unterscheidung zwischen denen, die in aktueller Hinsicht in der Lage sind, Befehle zu erteilen, und denen, die dadurch zum Gehorsam angerufen werden. Webers Pointe liegt darin, dass beide über besondere Chancen, über bestimmte Machtanteile (vgl. Weber 1919: 36) verfügen: Die Befehlenden haben die Chance der Initiative zur Veränderung der Situation, während die zum Gehorsam Aufgerufenen sowohl durch Gehorchen als auch durch Verweigerung über spezifische Chancen verfügen.

Weber ist ein militanter Nominalist und nimmt auch gegen Kollektivbegriffe Stellung (z.B. Weber 1904: 210-212). Insofern singularisiert er auch die Rede von Macht-und Herrschaftsanteilen. In einem Brief an Robert Michels anlässlich des Erscheinens der Soziologie des Parteiwesens polemisiert Weber Ende 1910 gegen den diffusen Allerweltsbegriff der Herrschaft: „Alles in Allem: der Begriff ,Herrschaft‘ ist nicht eindeutig. Er ist fabelhaft dehnbar. Jede menschliche, auch: gänzlich individuelle Beziehung enthält Herrschafts-Elemente, vielleicht gegenseitige (dies ist sogar die Regel. so z.B. in der Ehe). Im gewissen Sinn herrscht der Schuster über mich, in gewissen anderen ich über ihntrotz seiner Unentbehrlichkeit u. alleinigen Competenz. Ihr Schema ist zu einfach […]“ (Weber 1994b: 761).

Damit verabschiedet sich Weber von der konventionellen staatlichen Herrschaftskonzeption und lässt Herrschaft als eine politisch bedeutsame Beziehung auch im privaten Bereich auftreten. Darüber hinaus verlangt jede Herrschaft bei Weber eine spezifische Rechtfertigung: Seine Konzeption entspricht so einer allgemeineren Tendenz, mit der im Laufe des 19. Jahrhunderts das Bedürfnis zur Legitimation der Herrschaft von einer Ausnahme zur Regel wurde (Hilger in: Koselleck u.a. 1982: 98).

Um die Asymmetrie der herrschaftlichen Machtanteile zu legitimieren, setzen also sowohl die Akzeptanz als auch die Verwerfung der jeweiligen Herrschaftsansprüche eine persuasive Aktivität hinsichtlich der zum Gehorsam Bestimmten voraus. In diesem Sinne ist bei Weber jede Herrschaft auf Rhetorik angewiesen, um als legitim verstanden zu werden. Dementsprechend beruft er sich auf den Chancen-Charakter der Legitimität der Herrschaft: „Die ,Legitimität‘ einer Herrschaft darf natürlich auch nur als Chance, in einem dafür relevanten Maße gehalten werden und praktisch behandelt zu werden, angesehen werden“ (Weber 1921/22: 123).

Der Verweis auf Chancen bedeutet, dass für Weber die Herrschaft rein formal ist, d.h. eine Ausnutzung der Chancen zu unterschiedlichen Zwecken ermöglicht – also sowohl die Etablierung eines bestimmten Anteils von Herrschaft als auch deren Verweigerung. Die bisherige Lektüre der Soziologischen Grundbegriffe, dem Anfangskapitel von Webers nachgelassenem Werk Wirtschaft und Gesellschaft (Weber 1921/22), ist von deren Narrative in Richtung des jeweils komplizierteren und ‚geordneteren‘ Charakters der Chancenkomplexe geprägt. Webers Formulierungen erlauben aber ebenso Chancen, die jeweiligen ,Ordnungen und Mächte‘ aufzulösen.

Legiti­mie­rung der Herrschaft

Der rhetorische Charakter der Legitimität wird durch ihre Glaubensabhängigkeit verstärkt: Jede Herrschaft „sucht […] den Glauben an ihre ,Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen“ (Weber 1921/22: 122; Weber 1922: 475). Es gibt für die Legitimität keine ,objektive‘ Grundlage; die rhetorische Glaubwürdigkeit der jeweiligen Legitimationsbasis entscheidet. Durch die Möglichkeit von Rede und Widerrede hat für Weber jede Herrschaft – unabhängig von ihrem Geltungsbereich – einen politischen Charakter. Die faktisch bestehenden Komplexe von Herrschaft sind mehr oder weniger unbeabsichtigte Resultate (vgl. Weber 1919: 80f.) vergangener politischer Kämpfe und können als solche keine besondere Berechtigung beanspruchen.

Obwohl jede Herrschaft der Legitimität bedarf, ist sie nicht darauf reduzierbar. Es gibt vielmehr ein bloß faktisches Vorhandensein unterschiedlicher Macht- und Herrschaftsanteile, die diese als labil erscheinen lässt. Trotzdem kann die bloße Faktizität politisch durchaus bedeutungsvoll sein.

Interessanterweise benutzt Weber den Ausdruck ultima ratio für zwei unterschiedliche Phänomene, nämlich für die Gewaltsamkeit im Kontext des Staatsbegriffs (Weber 1921/22: 29) und in seiner Wahlrecht-Broschüre für die Zahl der Anhänger: Die „ultima ratio aller modernen Parteipolitik ist der Wahl- oder Stimmzettel“ (Weber 1917: 167). Die Gewaltsamkeit gilt für alle staatsförmigen politischen Verbände, während die Zahl der Stimmen für „moderne Parteipolitik“, d.h. für einen bestimmten Typus politischer Verbände, als ultima ratio auftritt. In beiden Fällen spezifiziert die ultima ratio den Charakter der Herrschaft: Sie verweist auf die Faktizität der Herrschaft, die zu einem gewissen Grad auch in modernen politischen Verbänden fortbesteht. Die Bestimmung des Staates durch „das Monopol legitimen physischen Zwanges“ (Weber 1921/22: 29) verweist auf den Unterschied zwischen der ultima ratio der Gewaltsamkeit als faktischem Machtanteil und der legalen Herrschaft des staatlichen Gewaltmonopols. Ähnliches zeigt sich bei der politischen Bedeutung der Zahl der Anhänger bei Wahlen im Vergleich zu ungeregelten Massenversammlungen.

Die spezifisch politische Pointe der Weberschen Legitimitätsgründe liegt nun darin, diese bloß faktische Basis der Herrschaft einzuschränken. Tradition, Legalität und Charisma verleihen der Herrschaft einen legitimen Grund, ohne sie einzuschränken. Hier wird der Unterschied Webers zu den herrschaftsablehnenden Positionen allerlei Prägung deutlich. Der rhetorische Charakter der Legitimierung von Herrschaft bedeutet zugleich ihre Umstrittenheit und geregelte Umkehrbarkeit.

Wenn Weber in seiner Wahlrecht-Broschüre Ende 1917 für die Zahl als ultima ratio eintritt, erteilt er der traditionellen und in Preußen-Deutschland vorhandenen Gesetzeslage eine Absage – auch der bloß legalen Herrschaft. Weber bestreitet vielmehr die Legitimität des „plutokratischen“ Dreiklassenwahlrechts und anderer Ansprüche, die Stimmen – ob sie nun Pluralstimmen, berufsständige Vertretung oder anders heißen – zu wiegen, anstatt zu zählen. Gegen eine derartige Vorgehensweise beruft er sich auf die grundsätzliche Gleichheit der Menschen und ihrer Handlungssituationen (Weber 1917: 167-172), um so die politische Berechtigung der bloßen „Zifferndemokratie“ (ebd.: 169) zu behaupten, die allen Staatsbürgerinnen eine politisch bedeutsame Chance gibt: „Gegenüber der nivellierenden, unentrinnbaren Herrschaft der Bureaukratie, welche den modernen Begriff des ‚Staatsbürgers‘ erst hat entstehen lassen, ist das Machtmittel des Wahlzettels nun einmal das einzige, was dem ihr Unterworfenen ein Minimum von Mitbestimmungsrecht über die Angelegenheiten jener Gemeinschaft, für die sie in den Tod gehen sollen, überhaupt in die Hand geben kann.“ (Weber 1917: 172)

Die Herrschaft im modernen Staat bedeutet nach Weber praktisch eine Herrschaft der Bürokratie, deren Universalisierung er als die größte zeitgenössische Gefahr für die individuelle und politische Freiheit sieht (Weber 1918: bes. 222f.). Um dieser legalen und unabdingbaren Herrschaft der Bürokratie entgegenzutreten, sucht Weber nach Gegengewichten, wie dem allgemeinen Wahlrecht als Ausdruck der Zifferndemokratie. Diese bedarf also keiner positiven Legitimation; die Entlegitimierung der sonstigen Herrschaftsgründe ist schon ausreichend.

Darüber hinaus verteidigt Weber das „parlamentarische Führertum“: „In jedem Massenstaat führt Demokratie zur bureaukratischen Verwaltung, und, ohne Parlamentarisierung, zur reinen Beamtenherrschaft.“ (ebd.: 186f.). Hier tritt die Rhetorik nun als ein Gegengewicht zur bloßen Zahl auf. Vor allem vermag „ein Parlamentarier im Kampf der Parteien zu lernen […], die Tragweite des Wortes zu wägen“ (ebd.: 187), also die Möglichkeiten und Grenzen des Wortes als Medium der Politik abzuschätzen.

Eine Parlamentarierin, also eine Person, die mit Worten operiert und deren Gewicht wägt, hat durchaus Chancen, mit dem Wort zur „Umkehrung der Zahlen“ im Parlament und in der Wählerschaft beizutragen. Die reine Herrschaft der Zahl würde die parlamentarische Diskussion a priori den Abstimmungen unterordnen und die Abgeordneten in bloße Delegierte der Wählerschaft verwandeln. Im Parlamentarismus steckt dagegen, bei der Überredung von Gegnerinnen zum Beispiel, ein Moment charismatischer Herrschaft – und gerade deswegen tritt Weber für ihn ein. Und nur deswegen vermag Weber für die Herrschaft der Stimmenzahl der Parteien in der parlamentarischen Politik zu plädieren: als Grenzsituation gegenüber dem Kompromiss, der als Entscheidungsmodus den Interessenverbänden eigen ist (Weber 1917: 166f.).

Gegen die Tendenz zur Bürokratisierung reicht allerdings der Typus des nebenamtlichen Parlamentariers nicht aus. In der Schrift Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (zu den Unterschieden zur Aufsatzversion s. Llanque 2000: bes. 247261) behauptet Weber, dass eine „parlamentarische Auslese der Führer“ nötig ist (Weber 1918: 227). Aus diesem Blickwinkel sieht er schon 1918 im Parlamentarismus eine Veränderung, die man in der Regel erst als neuere Entwicklung deutet (vgl. Beiträge in Burckhardt/Page 2000): Die Reden, „die ein Abgeordneter hält [sind] amtliche Erklärungen der Partei, welche dem Lande ,zum Fenster hinaus‘ abgegeben werden.“ (Weber 1918: 230). Weber bedauert diesen Zustand keineswegs. Er sieht in der parlamentarischen Parteiführerschaft vielmehr eine gesteigerte Chance zur Herausbildung von politischen Führern, die als Gegengewichte zur Bürokratie dienen könnten. Dies geschieht auch auf Kosten der internen Gleichheit der Abgeordneten (ebd.: 233).

Hieran schließt eine seiner Politik-Formeln an: Das „Wesen aller Politik ist […]: Kampf, Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft, – und dazu, sich in dieser schweren Kunst zu üben, bietet die Amtslaufbahn des Obrigkeitsstaats nun einmal keinerlei Gelegenheit“ (ebd.: 232). Rein performativ betrachtet, besteht also zumindest der nach ,innen‘ gerichtete Teil der Politik in der rhetorischen Aktivität der Werbung, in der Überredung von Menschen dazu, als Partner oder Anhänger eines politischen Führers tätig zu werden. Herrschaft innerhalb der Parteien oder der Parlamentsfraktionen ist eine Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt eine politische Führung ausbilden können. Diese freiwillige Führung kann aufgekündigt werden, wenn der Glaube an die Legitimation nicht mehr vorliegt. Hierauf zielt Weber auch mit seiner These von der „antiautoritären“ Umdeutung des Charismas, nämlich „dass die freie Anerkennung durch die Beherrschten ihrerseits die Voraussetzung der Legitimität und ihre Grundlage sei.“ (Weber 1922: 487) Umgekehrt verbinden Wahlen die Zifferndemokratie mit der charismatischen Herrschaft. In diesem Sinne kann man auch den politischen Vorteil der Legitimität durch eine große Anhängerzahl mit der Effektivität der politischen Führung durch das „Prinzip der kleinen Zahl“ (Weber 1918: 233) vereinbaren.

Max Weber verleiht somit der Rhetorik eine Schlüsselrolle bei der Ausübung politischer Herrschaft. Am Beispiel der politischen Praktiken des britischen Empire behauptet er: „Heute ist nun einmal nicht das eigene Dreinschlagen mit dem Schwert, sondern sind ganz prosaische Schallwellen und Tintentropfen: geschriebene und gesprochene Worte, die physischen Träger des leitenden (politischen und: militärischen!) Handelns. Es kommt nur darauf an, dass Geist und Kenntnisse, starker Wille und besonnene Erfahrung diese Worte: Befehle oder werbende Rede, diplomatische Noten oder amtliche Erklärungen im eigenen Parlament formen.“ (ebd.: 237).

Jahrzehnte vor der Sprechakttheorie verteidigt Weber also schon den Tatcharakter der Worte und den durchgehend rhetorischen Charakter der parlamentarischen Politik. Nun gilt dies nicht nur für die Politik der Minister und der Parteiführer, sondern auch für ihre politische Gefolgschaft, obwohl bei dieser eine geringere rhetorische Kompetenz ausreicht. Die zitierte Stelle verweist auf seine Absage nicht nur an die antiparlamentarische Kritik des „nur Redens“ (ebd.), sondern ließe sich durchaus ganz allgemein als Zurückweisung der Unterscheidung zwischen Worten und Taten, zwischen Reden und Handeln interpretieren.

Vertei­di­gung der Demagogie

Der wahrscheinlich provokativste Satz der Weberschen Verteidigung der parlamentarischen Demokratie lautet: „Demokratisierung und Demagogie gehören zusammen“ (ebd.: 265). So oft Weber selbst auch gegen die ,Demagogie‘ – etwa der antipolitischen „Literaten“ oder des Monarchen – Stellung nimmt, so ist er doch kein Gegner der demagogischen Macht der Rede. Vielmehr geht es um den Inhalt der Demagogie: Als Mittel zur Legitimierung der charismatischen Herrschaft ist sie in der modernen parlamentarischen und demokratisierten Politik unverzichtbar.

Eine andere, implizite Konsequenz liegt in der Verbindung von Demokratie und Rhetorik. Diese Implikation findet man schon bei den antiken Rhetorikern. Anders als z.B. dem aus Russland stammenden Moisei Ostrogorski, neben Michels der bedeutendste zeitgenössische Parteienforscher, der nach der amerikanischen Praxis die guten Bürger gegen die bösen Politiker stellt (Ostrogorski 1903/12), sieht Weber den Bürger als einen Gelegenheitspolitiker (Weber 1919: 41). Sowohl die Berufspolitiker als auch die sie kontrollierenden Gelegenheitspolitiker bedürfen, um überhaupt politisch handeln zu können, einer rhetorischen Kompetenz. Bei Weber wird die Kompetenz des Gelegenheitspolitikers durch gelegenheitspolitische Praxis erworben. Er begründet seine Kritik an der Bismarckschen Entpolitisierung des deutschen Bürgertums ja nicht mit Wahlrechtseinschränkungen. Vielmehr erkennt er die Zahl als Ausgangspunkt der demokratisierten Herrschaft an, die eben keinerlei Legitimität bedarf.

Die charismatische Legitimität gilt bei Weber für die Figur des Berufspolitikers. Diesen Begriff benutzt er, im Anschluss an Lord James Bryce, der Autor von The American Commonwealth (1889/1914), im Doppelsinn des für die Politik und von der Politik lebenden Politikers (vgl. schon Weber 1905). Ein weiterer Grund für die Legitimierung des Berufspolitikers liegt für Weber darin, dass der Idealtypus Politiker eben einen wesentlichen Aspekt des okzidentalen Sonderwegs bildet: „Dem Okzident eigentümlich ist aber, was uns näher angeht: das politische Führertum in der Gestalt des freien ,Demagogen‘, der auf dem Boden des nur dem Abendland, vor allem der mittelländischen Kultur, eigenen Stadtstaates, und dann des parlamentarischen ,Parteiführers‘, der auf dem Boden des ebenfalls nur im Abendland bodenständigen Verfassungsstaates gewachsen ist.“ (Weber 1919: 38; s. auch Weber 1922) Sofern eine Kontinuität im historischen Idealtypus des Politikers vorliegt, besteht diese in der rhetorischen Qualität, die auch allen einzelnen Typen, die Weber in Politik als Beruf präsentiert, eigen ist. Der amerikanische Boss oder der britische election agent z.B. kommen ohne Rhetorik nicht aus, obwohl ihre Eloquenz vom Typus des klassischen Parlamentariers abweicht.

Die rhetorische Kompetenz ist es auch, mit der Weber seine berühmte Formel über die „Führerdemokratie“ einleitet: „Aber es gibt nur die Wahl: Führerdemokratie mit ,Maschine‘ oder führerlose Demokratie, das heißt: die Herrschaft der ,Berufspolitiker‘ ohne Beruf, ohne die inneren, charismatischen Qualitäten, die eben zum Führer machen.“ (ebd.: 72) Berufspolitiker ohne Beruf sind diejenigen, denen es an charismatischer Legitimität mangelt, die – was leicht zur „Herrschaft des ‚Klüngels“‚ führt – selbst ein Teil der bürokratischen Maschine sind (ebd.). Weber erkennt die Notwendigkeit eines politischen Apparats mit „Gefolgschaft“ an, aber nur insofern, als dieser durch charismatische Politiker geleitet wird. Dabei kann man Weber auch in gänzlich anderer Perspektive interpretieren: Die charismatischen Berufspolitikerinnen sind für die Bürgerinnen sichtbarer und können deswegen durch Wahl und durch andere. Formen öffentlicher Kontrolle in Schach gehalten bzw. entlegitimiert werden. Eine an sich legale bürokratische Parteimaschine kann dagegen auch kein politisches Gegengewicht zu den Verwaltungs- und Betriebsmaschinen darstellen.

Eine nachträglich berüchtigt gewordene Zuspitzung, die Weber in der im Sommer 1919 erschienenen Buchversion von Politik als Beruf vornimmt, ist seine Verteidigung der Volkswahl des Reichspräsidenten. „Das einzige Ventil für das Bedürfnis nach Führertum könnte der Reichspräsident werden, wenn er plebiszitär, nicht parlamentarisch, gewählt wird.“ (ebd.). An dieser Stelle sollte man keine Wirkungsgeschichte dieses Satzes betreiben, sondern den zentralen Punkt des Weberschen Satzes als einen politischen Sprechakt in seinem zeitgenössischen Kontext bestimmen. Keinesfalls darf man bei der Lektüre dieses Satzes die Webersche Geschichtsauffassung vergessen, nach der die Bürokratisierung, die zur Stagnation führt (vgl. Weber 1909: 277f.), die primäre entpolitisierende Gefahr darstellt. Wenn parlamentarische Parteiführer entgegen Webers früherer Meinung im nunmehr demokratisierten Deutschland nach 1918 doch als machtlos erschienen, dann sollte das fehlende charismatische Element durch die plebiszitäre Wahl des Präsidenten erweitert werden. Dies böte, so Weber, den einzelnen Bürgerinnen auch eine direktere Chance zur Entlegitimierung des gewählten Präsidenten bei der Neuwahl.

Webers rhetorische Politik

Die Rhetorik ist, ganz allgemein formuliert, mit der Anerkennung und Ausnutzung der Kontingenz verbunden. Sie steht dabei in engem Zusammenhang mit dem im 19. Jahrhundert entstandenen Handlungsbegriff der Politik (vgl. Palonen 1985, 1998) sowie mit der damit verbundenen zeitlichen Begrenzung der Herrschaft, der Parlamentarisierung der Herrschaftskontrolle und der Verallgemeinerung des Wahlrechts. Die Berufung auf die Macht der großen Zahl allein reicht nicht gegen die traditionelle und legale Begründung der Herrschaft. Sie verlangt als Komplement auch die charismatische Herrschaft. Aber auch für die eingeführte „Zifferndemokratie“ ist nach Weber die rhetorische Legitimation einer zeitbedingten charismatischen Herrschaft nötig, um gegen die allzu leicht vollzogene Unterordnung unter die Bürokratisierung anzukämpfen.

Für uns ist es heute leichter als für Webers Zeitgenossinnen, den rhetorischen Charakter der Herrschaft und der Politik überhaupt anzuerkennen. Heute hat sich die Politik als Aktivität gegenüber der Wissenschaft oder den Ideologien verselbständigt und zugleich einen größeren Spielraum für die Kontingenz, für die Chancen, anders zu handeln, eröffnet (z.B. Greven 1998, 1999; Palonen 1998, 2002a). Aus dieser Sicht stellt sich die übliche Beschimpfung der Politikerinnen als nostalgische Furcht vor der Offenheit der Geschichte und vor der Omnipräsenz der Kontroversen dar. Es gibt immer noch keinen besseren Verteidiger der Politikerinnen als Max Weber (vgl. Palonen 2002b). Dazu gehört auch seine Absage an diejenigen, die die Herrschaft als solche pauschal verwerfen, entweder populistisch oder akademisch-kritizistisch, denn: Eine „führerlose Demokratie“ wäre gegenüber der alltäglichen Herrschaft der Bürokratie machtlos (Weber 1919: 72).

In der heutigen Politik ist alles legitimationsbedürftig, aber keine Form der Legitimation hat in sich unüberwindbare Kraft. Vielmehr gibt es gemäß der rhetorischen Tradition des Arguments in utramque partem jederzeit Chancen, gute Gründe gegen jeden Legitimationsanspruch zu finden. Nicht einmal die für die Demokratisierung so zentrale Faktizität der Zahl besitzt – anders als Weber noch voraussetzte – ohne weiteres den Charakter der ultima ratio. Dies steigert das Bedürfnis nach charismatischer Herrschaft und vermindert zugleich die Chancen, eine derartige Herrschaft zu erreichen oder sie zumindest über eine Wahlperiode hinaus überzeugend zu legitimieren.

Anmerkungen

1 Die Literaturangaben im Text zu Max Weber folgen ausnahmsweise den ursprünglichen Erscheinungsdaten: Dadurch sind bestimmte Entwicklungen im Denken Webers genauer nachvollziehbar. Dem Prinzip der ursprünglichen Chronologie entspricht auch die Anordnung der Texte Webers im Literaturverzeichnis.

Literatur

Barthes, Roland 1985 [1970]: L’ancienne rhétorique. Aide-mdmoire; in: Ders.: L’aventure sémiologique, Paris , S. 85-165

Bryce, James 1995 [1889/1914]: The American Commonwealth I-II, Indianapolis

Burckhardt, Armin/Page, Kornelia (Hgg.) 2000: Die Sprache des deutschen Parlamentarismus, Wiesbaden

Greven, Michael Th. 1998: Die politische Gesellschaft, Opladen

Greven, Michael Th. 1999: Kontingenz und Dezision, Opladen

Hanke, Edith/Mommsen, Wolfgang J. (Hgg.) 2001: Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen

Koselleck, Reinhart 1979: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main

Koselleck, Reinhart et. al. 1982: Herrschaft; in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart, S. 1-102

Llanque, Marcus 2000: Demokratisches Denken im Kriege, Berlin

Nelson, John S. 1998: Tropes of Politics, Madison/Wisconsin

Ostrogorski, Moisei 1993 [1903/1912]: Demokratie et les partis politiques, Paris

Palonen, Kari 1985: Politik als Handlungsbegriff. Horizontwandel des Politikbegriffs in Deutschland 1890-1933, Helsinki

Palonen, Kari 1998: Das ‚Webersche Moment‘. Zur Kontingenz des Politischen, Wiesbaden

Palonen, Kari 2002a: Eine Lobrede für Politiker. Ein Kommentar zu Max Webers ‚Politik als Beruf‘, Opladen

Palonen, Kari 2002b: Rehabilitating the Politician. On a neglected genre in political theorizing; in: Archives européennes de sociologie, 53, S. 132-153.

Skinner, Quentin 1996: Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge

Weber, Max 1973a [19041: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis; in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, S. 146-214

Weber, Max 1999 [1905]: Bemerkungen im Anschluss an den voranstehenden Aufsatz; in: Max-Weber-Studienausgabe 1/8, Tübingen, S. 69-72

Weber, Max 1988a [1909]: Agrarverhältnisse im Altertum; in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen, S. 1-288

Weber, Max 1988b [1917]: Wahlrecht und Demokratie in Deutschland; in: Max-Weber-Studienausgabe 1/15, Tübingen, S. 155-189

Weber, Max 1988c [1918]: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland; in: Max-Weber-Studienausgabe 1/15, Tübingen, S. 202-302

Weber, Max 1994a [1919]: Politik als Beruf; in: Max-Weber-Studienausgabe 1/17, Tübingen, S. 35-88

Weber, Max 1980 [1921/22]: Wirtschaft und Gesellschaft, hg. v. Johannes Winkelmann, Tübingen Weber, Max 1973b [1922]: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft; in: Ders.: Gesammelte Auf-sätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, S. 475-488

Weber, Max 1936: Jugendbriefe, hg. v. Marianne Weber, Tübingen

Weber, Max 1994b: Briefe 1909-1910, hgg. v. M. Rainer Lepsius u. Wolfgang J. Mommsen; in: Max-Weber-Gesamtausgabe 11/6, Tübingen

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