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Krise, Charisma und Führungs­kraft: Zum Verhältnis von Persön­lich­keit, Regie­rungs­system und politischem Wandel am Beispiel Margaret Thatchers

vorgänge16009/2024Seite 28-36

Die Times hatte es schon drei Tage vor der Wahl gewusst: „Charismatic Schröder turns tide in his favour“, überschrieb sie am 19. September 2002 ihre Analyse des deutschen Bundestagswahlkampfes. Diesem Diktum schlossen sich nach der Wahl unzählige Kommentatoren an. Der überraschende Endspurt der deutschen Sozialdemokraten wurde vom publizistischen Mainstream nicht nur mit der ostdeutschen Flutwelle und dem Appell an pazifistische Emotionen erklärt, sondern auch auf den Gegensatz zwischen dem ausstrahlungsstarken Amtsinhaber und seinem überraschend blassen Herausforderer zurückgeführt. Die Umfragen, die meist die Union weit vor den Sozialdemokraten, stets aber den SPD-Kanzler vor dem CSU-Kandidaten gesehen hatten, scheinen diese Lesart zu belegen.

Keine Frage: Der Kanzler war in diesem Wahlkampf präsenter, agiler und vielfach auch schlagfertiger als sein Herausforderer. Aber Charisma? Ergeben Schröders unbestreitbare Qualitäten – persönlicher Charme, telegenes Auftreten und ein sicherer machtpolitischer Instinkt – in ihrer Addition tatsächlich so etwas wie Charisma? Dies führt zu einer grundsätzlichen Frage: Was kann der klassische Begriff Max Webers unter den Bedingungen einer modernen Demokratie überhaupt noch bedeuten?

Vielleicht hilft es, zur Beantwortung dieser Fragen einmal nicht beim Übervater Weber nachzuschlagen, sondern über den Ärmelkanal auf das Mutterland des Parlamentarismus zu blicken. Eine solche Exkursion in Sachen Charisma soll hier im Folgenden unternommen werden.

Konsensuale und konfron­ta­tive Führungs­stile

Im Jahre 1974 veröffentlichte der britische Politikwissenschaftler Dennis Kavanagh eine Studie mit dem Titel Crisis, Charisma and British Political Leadership. Kavanaghs These: Großbritannien sei ein Land, das nur in Krisensituationen starke politische Führer akzeptiere, sich in normalen Zeiten aber durch eine herzliche Abneigung gegen dynamische Führungsfiguren auszeichne. Kavanagh führte dies auf vier Gründe zurück: Erstens fehlten dem britischen Premierminister jene Insignien der Macht, die etwa die Aura des amerikanischen Präsidenten konstituieren und die in Großbritannien dem Monarchen vorbehalten blieben. Zweitens komme der Premier aus den Reihen der Unterhausabgeordneten, habe sein politisches Geschick daher stets auf dem parlamentarischen Parkett und nirgendwo sonst unter Beweis gestellt. Wer außerhalb des Parlaments politisches Talent entfalte, sei im britischen System chancenlos. Drittens gebe es auf den britischen Inseln keine Tradition heroischer, charismatischer oder schlicht populistischer Führergestalten wie etwa in Frankreich oder den Vereinigten Staaten. Das schwach entwickelte Staatsbewusstsein und die emanzipierte Bürgergesellschaft Großbritanniens gäben einen denkbar schlechten Nährboden für „große Männer“ ab. Viertens schließlich sorge die relative Abgeschlossenheit der politischen Klasse und ein gut entwickeltes Patronagesystem dafür, dass nur Politiker an die Spitze gelangen könnten, die sich vollkommen den Spielregeln des Establishments angepasst hätten. Vertrauenswürdigkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit und Selbstbeherrschung seien die Tugenden, über die verfügen müsse, wer in diesem System aufsteigen wolle. Außenseiter und Quereinsteiger hätten kaum eine Chance.

Folgt man Kavanaghs Einschätzung, hätte Margaret Thatcher eigentlich keine Chance gehabt, in Friedenszeiten an die Spitze der britischen Regierung vorzurücken. Sie wurde im Februar 1975 an die Spitze der Tory-Partei gewählt – ein Jahr, nach dem Erscheinen von Kavanaghs Thesen. Und sie tat alles, um sich als Ausnahme-Politikerin, als Star unter Durchschnittstalenten zu profilieren, als „Tigerin umgeben von Hamstern“, wie einer ihrer Minister einmal selbstironisch bemerkte (vgl. Hennessy 2000: 403). Schon in ihrer ersten Ansprache als Parteiführerin erklärte sie, die vielen Tory-Anhänger, die ihr in den vergangenen Tagen geschrieben hätten, wären immer wieder auf zwei zentrale Anforderungen an die Parteiführung zurückgekommen: einen entschiedeneren Führungsstil und eine stärkere Betonung konservativer Prinzipien. Die neue Tory-Chefin war entschlossen, diesem Bedürfnis zu entsprechen. Einer ihrer Berater bezeichnete die Kombination von Führungsbereitschaft, Willenskraft und Überzeugungsstärke im Rückblick als das Geheimnis ihres Erfolges. „Sie stand für Energie, Mut und Willenskraft. Sie war eine Naturgewalt. In einer Welt, die vielen allzu kompliziert geworden war, wurde sie oft für ihre schiere Überzeugungsstärke bewundert – ganz egal, wovon sie im Einzelnen überzeugt war. Sie befriedigte ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Führung, dessen Wurzel wohl eine Sehnsucht nach vergangenen Eindeutigkeiten und britischer Größe war.“(Craddock 1997: 20).

Thatcher entwickelte schon kurz nach ihrer Wahl sehr konkrete Vorstellungen davon, wie das Land zu führen sei. Bereits bei ihrem ersten Nordamerika-Besuch im September 1975 beschrieb sie, was sie unter politischer Führung verstand: Politik sei nicht nur die Kunst des Möglichen. Wer dies sage, laufe Gefahr, für unmöglich zu halten, was möglich, ja erstrebenswert sei, wenn man nur über mehr Mut oder tiefere Einsicht verfüge. Es sei vielmehr Aufgabe der Politiker, der öffentlichen Meinung um zwei oder drei Jahre voraus zu sein, Gefahren vorauszusehen, vor ihnen zu warnen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Sie war überzeugt, dass Willensstärke alles entscheide und Geschichte letztendlich von großen historischen Persönlichkeiten gemacht werde. In einer Rede in Zürich erklärte Thatcher, sie glaube nicht, dass der Lauf der Welt vorgeschrieben und unveränderlich sei: „Geschichte wird von Menschen gemacht.“ [1] Die Aufgabe eines politischen Führers bestehe darin, die großen Strömungen der Zeit zu erkennen und sie für die eigenen Ziele zu nutzen. Zu politischer Führung gehöre die Bereitschaft anzuecken, den Streit zu suchen und für seine Überzeugungen zu kämpfen. „Ich wäre mein Geld nicht wert“, behauptete Thatcher, „wenn ich nicht Widerspruch und Kritik auslöste. Jeder, der im Leben etwas erreicht, zieht Kritik auf sich. Wenn das Ziel nur lautet ‚Bitte liebt mich und kritisiert mich nicht!‘, wird man überhaupt nichts erreichen.“

Die Aufgabe von Politikern sei nicht, es jedem recht zu machen, sondern allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Unterschied ist klein, aber fein: Wer es anderen recht machen will, benötigt keinen eigenen Standpunkt. Wer dagegen anderen Gerechtigkeit widerfahren lassen will, muss genau wissen, was er selbst unter Gerechtigkeit, unter Gut und Böse versteht. Thatcher war nicht grüblerisch veranlagt. Ihre Überzeugungen bildeten den sicheren, unverrückbaren Boden, auf dem sie sich bewegte. Tiefschürfende Selbstprüfungen waren ihr fremd. Ein langjähriger Mitarbeiter berichtete, sie sei der einzige Mensch, den er niemals sagen gehört habe „Ich frage mich, ob …“. Sie kenne keinen Zweifel, habe auf alles eine Antwort parat.

Thatcher war bereit, ihre moralischen Grundsätze nicht nur darzulegen, sondern auch für sie zu kämpfen. Einer ihrer Vorgänger, Harold Macmillan, hatte einmal gesagt, die Leute sollten sich an Bischöfe halten, wenn sie moralische Führung suchten. Thatcher war vom Gegenteil überzeugt: Die Führung in der geistigen und moralischen Auseinandersetzung gehörte für sie zu den wichtigsten Aufgaben eines Politikers. Seine Funktion bestehe darin, die Bürger davon zu überzeugen, dass eine Handlungsweise klüger sei als eine andere: „Man kann Leute nur überzeugen, wenn man ein bisschen missionarisch veranlagt ist.“

Thatcher und Churchill

Mit diesem Verständnis von den Führungsaufgaben eines Politikers unterschied Thatcher sich grundlegend vom Normaltypus des britischen Politikers, wie ihn Kavanagh in seiner Studie beschrieben hatte. Es ist bezeichnend, dass sie sich unter ihren Vorgängern keinen geringeren als Winston Churchill zur Leitfigur erkor – den großen Außenseiter unter den konservativen Parteiführern des zwanzigsten Jahrhunderts. Er war nicht nur der mythenumrankte Führer im Krieg, der Großbritannien zur finest hour, dem Sieg über Hitler, geführt hatte. Sie sah in ihm auch – zu Unrecht, wie man inzwischen weiß – den entschlossenen Kämpfer für marktwirtschaftliche Reformen. Ganz bewusst stilisierte sich Thatcher als Nachfolgerin des 1965 verstorbenen Premiers, den sie vertraulich „Winston“ zu nennen pflegte. An der Wand ihres Büros im Unterhaus hing sein Porträt, das später gemeinsam mit ihr nach 10 Downing Street umzog. Einmal bezeichnete sie ihn öffentlich als „meinen Helden“, wenn sie auch im gleichen Atemzug kritisierte, Churchill sei gegen das Frauenwahlrecht gewesen. Immer wieder ließ sie in ihre Ansprachen Churchill-Zitate oder Anspielungen auf seine berühmten Reden einfließen. So spielte sie gern auf Churchills berühmte Durchhalte-Parole aus dem Jahr 1940 an, in der dieser verkündet hatte, Großbritannien werde niemals kapitulieren. Man werde in Frankreich kämpfen, auf den Meeren, auf den Stränden und Landungsbrücken, auf den Feldern und Straßen und auf den Hügeln. „We shall never surrender.“ In Thatchers leicht abgewandelter Fassung lautete die Losung: „Wir werden den Sozialismus bekämpfen, wo immer wir ihn finden – in der Hauptstadt und in den Grafschaften, auf Orts- und auf Kreisebene.“

Es erscheint viel versprechend, vor dem Hintergrund von Thatchers bewusster Identifizierung mit Churchill noch einmal auf Kavanaghs Studie zurückzukommen: Der Politologe sah in Churchill das typische Beispiel des charismatischen Führers, der sich von anderen Politikern vor allem in vier Punkten unterscheide: Erstens könne er in Großbritannien nur in einer Krisensituation an die Spitze gelangen. Zweitens gelinge es ihm, direkt an das Volk zu appellieren, eine besondere Beziehung zwischen Führer und Gefolgschaft herzustellen. Drittens zeichne er sich durch ungewöhnliche persönliche Eigenschaften aus: etwa durch das Bewusstsein seiner Einzigartigkeit, seiner besonderen Mission und seiner Überzeugung, das Schicksal der Nation zu verkörpern. Viertens schließlich pflege er einen revolutionären Führungsstil, der sich zum Beispiel in der Verachtung bürokratischer Regierungsmethoden, einem besonderen Aktionismus oder ausgefallenen Arbeitsgewohnheiten ausdrücken könne (Kavanagh 1974: 11-22). Alle vier Punkte aus Kavanaghs Schema treffen auch auf Thatchers politischen Stil zu.

Sie wurde zwar nicht wie Churchill im Krieg an die Spitze eines bedrohten Landes gerufen, sondern in Friedenszeiten an die Spitze einer demoralisierten Partei. Dennoch verdankte sie, wie er, ihren unerwarteten Aufstieg einer Situation, die von immer mehr Menschen als zunehmend krisenhaft wahrgenommen wurde. Beide Politiker hatte das weit verbreitete Bewusstsein, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne, dass ein radikaler Wechsel nötig sei, an die Spitze der Tory-Partei getragen. Wie Churchill stammte Thatcher zwar aus den Reihen der konservativen Unterhausabgeordneten, war aber nicht mit Hilfe des Partei-Establishments, sondern gegen dessen Willen zum höchsten Amt aufgestiegen. (Darin und in der Entschlossenheit, ja Skrupellosigkeit, mit der sie ihre Chance nutzte, ähnelte Thatchers Aufstieg übrigens Angela Merkels Sturmlauf an die CDU-Parteispitze.)

Thatcher liebte wie Churchill den direkten Appell an ihre Mitbürger. Ihre Reden waren voll von Aufforderungen zum Handeln, deren Sprache bewusst Churchills Rhetorik nachempfunden war. Sie pflegte den Mythos der großen Staatsfrau – darin Jeanne d’Arc nicht unähnlich -, die vom Schicksal dazu auserwählt worden sei, das Land und die Welt in größter Bedrängnis zu retten. Thatcher war dabei beileibe nicht die einzige, die dem Churchill-Kult huldigte. Mit ihrer Begeisterung für den Regierungschef der Kriegszeit hatte es jedoch eine besondere Bewandtnis. Sie glaubte wie er an eine besondere, historische Berufung des britischen Volkes zur Freiheit und sah sich selbst in einer vergleichbaren Rolle wie ihr Held im Jahr 1940: das Land wachzurütteln, an seine historische Mission zu erinnern und in den Kampf zu führen. Thatcher war überzeugt, zu einer schicksalhaften Aufgabe bestimmt zu sein. In ihren Erinnerungen zitierte sie den britischen Staatsmann Chatham, Premierminister von 1766 bis 1768, mit den Worten: „Ich weiß, daß ich dieses Land retten kann, und dass nur ich dazu in der Lage bin.“ (Thatcher 1993, 22).

Was Kavanagh „revolutionären Führungsstil“ nennt, unterschied sich im Falle Thatchers wesentlich von demjenigen Churchills. Das beginnt bei der durch enorme Disziplin geprägten Arbeitsweise der Tochter eines methodistischen Kleinbürgers, die im krassen Gegensatz zu den eher künstlerisch-exzentrischen Gewohnheiten des Aristokraten Churchill stand, und endet mit den Aufgaben einer Parteichefin und Premierministerin in den siebziger und achtziger Jahren, die nur schwerlich mit der Arbeit eines parteiübergreifenden Kriegskabinetts des Zweiten Weltkrieges zu vergleichen sind. Dennoch gibt es auch hier eine Anzahl von Parallelen. Thatcher wie Churchill misstrauten der Ministerialbürokratie, auch wenn beide gezwungen waren, mit ihr zu kooperieren. Das Misstrauen beruhte übrigens durchaus auf Gegenseitigkeit. Thatchers Reformdrang stieß in Whitehall auf wenig Gegenliebe, bestand doch eine der wichtigsten Aufgaben der Bürokratie darin, für Kontinuität zu sorgen und drastische Veränderungen möglichst abzufedern. Anhänger des Status quo horchten skeptisch auf, wenn Thatcher verkündete, es gebe Augenblicke, in denen die Notwendigkeit zu handeln wichtiger sei als alles andere. Doch gerade diesen Drang zur Tat bewunderten die Anhänger der Politikerin. Was ihn dazu bewogen habe, für sie zu arbeiten, bekannte einer ihrer engen Mitarbeiter, „war ihr absolutes Engagement, ihr Drang wirklich etwas zu verändern, selbst wenn das für sie als Politikerin große Risiken mit sich brachte“.

Die Eiserne Lady und der Brioni-­Kanzler

Kehren wir zurück zur eingangs gestellten Fragen nach Schröder (Amts-)Charisma. Auf den ersten Blick scheint die britische Ex-Premierministerin einiges mit dem amtierenden deutschen Regierungschef gemeinsam zu haben. Schröder hat bewiesen, dass er wie Thatcher willens ist, die populistische Karte zu spielen. Kein Bundeskanzler vor ihm hat dies ähnlich skrupellos getan. Weder Thatcher noch Schröder hat auch die Außenseiterrollen, die sie beide in ihren Parteien ursprünglich einnahmen, beim Aufstieg an die Regierungsspitze geschadet. Im Gegenteil: Beide haben bewusst Tabus gebrochen, gegen den Verhaltenskodex ihrer Partei verstoßen und mit der Frontstellung gegen das Partei-Establishment geschickt vom verbreiteten Unmut der Bürger über die Parteien profitiert.

Vergleichbar ist auch die wirtschaftliche Krisensituation, die beide Politiker miteinander verbindet. Gern verweisen britische Zeitungen darauf, dass nicht mehr – wie in den siebziger Jahren – Großbritannien der „kranke Mann Europas“ sei, sondern Deutschland. Die Krisensymptome, so kann man allenthalben hören und lesen, seien in beiden Fällen die gleichen: niedriges Wachstum, Streiks und ein inflexibler Arbeitsmarkt. Vor dreißig Jahren stapelten sich in britischen Buchläden Publikationen mit apokalyptischen Titeln wie „The Death of British Democracy“, „The Future That Doesn’t Work“, „What’s Wrong With Britain?“ oder „Is Britain Dying?“. Heute haben in Deutschland Bücher und Aufsätze mit ähnlichen Überschriften Konjunktur: „Die deformierte Gesellschaft“, „Sind die Deutschen noch zu retten?“, „Scheitert Deutschland?“, „Der deutsche Niedergang“.

Es erscheint möglich, dass die Bundesrepublik gegenwärtig jene Erosion der Nachkriegsordnung durchläuft, die Großbritannien bereits in den siebziger Jahren durchmachte. Schon 1996 hat der Göttinger Politikwissenschaftler Peter Lösche beschrieben, wie das gesellschaftliche Organisations- und Regulationsmodell der sechziger und siebziger Jahre, das noch bis in die achtziger Jahre hinein seine Schuldigkeit getan habe, zum Auslaufmodell geraten sei: „Seine wesentlichen Elemente waren der entwickelte Sozialstaat, Stärkung der Massenkaufkraft, öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, starke Massengewerkschaften und ausgebaute Mitbestimmung. Das war das sozialdemokratische, keynesianische Politikmodell in der Bundesrepublik. Dies ist heute außer Betrieb, ohne dass klar wäre, wie ein modifiziertes oder neues Modell aussehen könnte, ob es ein solches überhaupt geben kann.“ (Lösche 1996: 25)

Hier enden allerdings die Parallelen, die sich zwischen Thatcher und Schröder ziehen lassen. Großbritannien erlebte zum Jahreswechsel 1978/79 den „Winter des Missvergnügens“, der Thatchers Tories an die Macht brachte und ihrer marktradikalen Reformpolitik zum Durchbruch verhalf. In Deutschland hingegen hat die rot-grüne Regierung in den zurückliegenden vier Jahren zwar auf gesellschaftspolitischem Gebiet wichtige Veränderungen eingeleitet. Entscheidende Strukturreformen stehen jedoch noch aus. Die Reform der Sozialversicherungssysteme oder die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes etwa werden weiterhin schmerzlich vermisst.

Wie auch immer man sich zu den politischen Zielen Thatchers stellt: Unverkennbar ist, dass ihre Regierungszeit zu einer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Mobilisierung Großbritanniens beigetragen hat (und sei es durch den Widerstand gegen einzelne Regierungsprojekte). Einen vergleichbaren „Ruck“, der durchs Land geht, konnte Schröder nicht evozieren. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Der Brioni-Kanzler ist keine Eiserne Lady, und die Bundesrepublik ist keine Westminsterdemokratie.

Thatcher gelang es, den Überdruß an der alten Ordnung zu bündeln und für ihre Ziele zu nutzen. Ihr Image in der Öffentlichkeit richtete sie ganz auf den von ihr verfochtenen Spar- und Umstrukturierungsprozess aus. Vor ihrem Aufstieg an die Parteispitze war sie eine aus einfachen Verhältnissen stammende Tory-Dame mit Hut, Handtasche und Ehrgeiz gewesen, die einen reichen Ehemann geheiratet hatte und in der Politik Karriere machen wollte. Danach entwarf sie sich eine neue Identität. Jetzt präsentierte sie sich als „Eiserne Lady“, die im Kramladen ihres Vaters die Gesetze des Marktes verinnerlicht hatte und mithilfe der dort erlernten Tugenden den Niedergang ihres Landes umzukehren gedachte. Doch wäre es falsch zu glauben, Thatcher habe als Parteiführerin nur ein Image zur Schau getragen. Tatsächlich glaubte sie an die Eigenschaften, die zu verkörpern sie sich vorgenommen hatte: Individualismus, harte Arbeit, Leistungswille, Wettbewerb, Eigenverantwortung, Patriotismus und Familiensinn – in ihren Augen waren das Tugenden, ohne die sich ihre Nation nie aus der Krise befreien würde.

Erst Thatchers unverrückbare, oft engstirnige Überzeugung gab diesen disparaten Elementen Zusammenhalt. Ihr Führungswille, ihr aggressiver Populismus, ihr missionarischer Eifer – das waren die Element, die dem Thatcherismus seine Durchschlagskraft verliehen. Die Politikerin inszenierte ihre politischen Projekte als Kreuzzüge, bei denen sie an der Spitze der Kräfte des Lichts gegen die Mächte der Finsternis zu Felde zog. So präsentierte sie sich nacheinander als Jeanne d’Arc des Falklandkrieges, als Drachentöterin der Gewerkschaften, als Nemesis des Weltkommunismus, vor allem aber als streitbare Marktmissionarin, die für den Abbau staatlicher Interventionen und Subventionen focht, sei es in Großbritannien oder in der Europäischen Gemeinschaft.

In Schröders Fall liegen die Dinge anders. Der Kanzler hat zwar durch den zweiten Wahlsieg an Statur gewonnen. Er hat, wie der Parteienforscher Franz Walter kürzlich feststellte, „mit seiner instinktsicheren Härte, seiner skrupellosen Wendigkeit und machiavellistischen Verwegenheit […] die SPD an die Macht getrimmt und dort gehalten wie einst nur Herbert Wehner“ (Walter 2002: 6). Doch wozu Schröder die Macht nutzen will, bleibt verschwommen. Anders als Thatcher im Jahr 1979 ist er nicht unter dem Banner „It is Time for a Change“ in den Wahlkampf gezogen. Schon das 1998er-Motto, nicht alles anders, aber vieles besser machen zu wollen als der Vorgänger, signalisierte den Deutschen ein beruhigendes „Weiter so“. Vier Jahre später hat sich daran nichts wesentliches geändert.

Hinzu kommt, dass Schröder sorgfältig darauf bedacht bleibt, alle möglicherweise unpopulären Aspekte der Regierungspolitik gerade nicht mit seiner Person zu verbinden. Für den Kurs der Haushaltskonsolidierung war Sparkommissar Hans Eichel zuständig. Bei der Reform des Arbeitsmarktes wurde zunächst Peter Hartz vorgeschickt, jetzt fällt sie in die Kompetenz Wolfgang Clements. Dem Kanzler bleiben die staatsmännische Miene, der Brioni-Anzug und kubanische Zigarren sowie dann und wann eine populistische Hauruck-Aktion wie die „GreenCard“ oder die (gescheiterte) Rettung des Holzmann-Konzerns. Das hat taktische Vorteile: Der Kanzler kann Kurskorrekturen vornehmen, ohne selbst in die Schusslinie zu geraten. Bei Fehlschlägen sind andere schuld, der Erfolg hat viele Väter. Eine derartige Aufgabenteilung hat jedoch einen entscheidenden strategischen Nachteil. Das Verständnis für größere Zusammenhänge, für langfristig notwendige Richtungsentscheidungen ist den Bürgern auf diese Weise kaum zu vermitteln. Der Kanzler sei „ein begnadeter Situationist“, hat Walter bemerkt, „einen Begründungsbogen über seine pointilistische Politik spannen oder Sinnperspektiven darüber wölben kann er hingegen nicht“ (Walter 2002: 11).

Die Bundes­re­pu­blik und die Westmins­ter­de­mo­kratie

Dieses Manko an politisch einsetzbarem Charisma allein den persönlichen Vorlieben und Schwächen des Kanzlers anzukreiden, wäre allerdings unfair. In vieler Hinsicht ist die Malaise im politischen System der Bundesrepublik angelegt, das sich in zentralen Punkten von jenem des Vereinigten Königreichs unterscheidet. Sicherlich hat Kavanagh recht, wenn er feststellt, Großbritannien verfüge über keine Tradition heroischer Führungsgestalten. Charismatische Herrschaft ist nicht der Regelfall in der Westminsterdemokratie. Dennoch ermöglicht das politische System des Landes, das ohne geschriebene Verfassung auskommt, in Krisensituationen den Aufstieg charismatischer Außenseiter an die Regierungsspitze. Und was mindestens ebenso wichtig ist: Es verfügt über genug Beharrungskraft, um nach überstandener Krise die Ausnahmeerscheinungen wieder los zu werden.

Im Rückblick weisen der Abgang Churchills und Thatchers erstaunliche Parallelen auf. Beide wurden auf dem Höhepunkt ihres internationalen Erfolges abrupt von der großen Bühne abberufen. Churchill verlor die Unterhauswahlen vom Sommer 1945 und musste noch während der Potsdamer Konferenz seinem Nachfolger Platz machen. So wie er seinen Sieg über NS-Deutschland nicht auskosten konnte, war es Thatcher nicht vergönnt, ihren Triumph am Ende des Kalten Krieges zu genießen. Eine Revolte innerhalb der Unterhausfraktion sorgte dafür, dass sie im November 1990 jene KSZE-Konferenz in Paris vorzeitig verlassen musste, auf der der westliche Sieg im Ost-West-Konflikt besiegelt werden sollte. Sowohl Churchill als auch Thatcher wurden von Politikern abgelöst, die alles andere als charismatisch waren. Von Churchills Nachfolger, dem Labour-Politiker Clement Attlee, hieß es, er habe das politische Charisma einer Wüstenspringmaus (Hennessy 2000: 148). Und John Major galt als derart farblos, dass er in britischen Medien bald nur noch als „Mann in grau“ tituliert wurde.

Das politische System der Bundesrepublik funktioniert anders. Es wurde als Reaktion auf die katastrophalen Folgen der Diktatur Adolf Hitlers konzipiert. Sein oberstes Konstruktionsprinzip ist die Verhinderung charismatischer Herrschaft. Die schwache Stellung des Bundespräsidenten, die starke Position der Länder, der Bundesrat als Gegengewicht zum Bundestag, das Verhältniswahlrecht, in dem die Zweitstimme für die Partei wichtiger ist als die Erststimme für den Direktkandidaten – all das ist nicht zuletzt auf den Wunsch der Verfassungsväter und -mütter zurückzuführen, eine Wiederholung des Führerstaates zu verhindern.

Das Ziel wurde erreicht. Was noch aussteht, ist der Beweis, dass das Modell Deutschland in Krisensituationen aus sich selbst heraus zu tief greifenden Reformen fähig ist. Derartige Veränderungen können nicht wie in Großbritannien auf dem Wege von Parteienstreit und Konflikt durchgefochten, sie müssen vom Konsens aller, zumindest der großen Parteien getragen werden. Jenseits des Kanals reichen in der Regel deutlich weniger als fünfzig Prozent der Wählerstimmen aus, um einem Premierminister das Instrumentarium zu weit reichendem Wandel in die Hand zu geben. In der Bundesrepublik bedarf es aufgrund der Blockademöglichkeiten des Bundesrates dagegen der Übereinstimmung, des Ausgleichs und des Konsenses.

Wohin es führt, wenn diese Grundkonstellation außer acht gelassen wird, zeigt das Beispiel desjenigen deutschen Politikers, der Thatcher am nächsten kam: Franz Josef Strauss. Viele Briten hielten ihn für die bayrische Ausgabe der Eisernen Lady. Und in der Tat wirkt Strauss‘ berühmt-berüchtigte Sonthofener Rede vom November 1974 im Rückblick wie eine Vorwegnahme des Thatcher-Kurses. Als Spitzenkandidat der Union führte Strauss 1980 einen ähnlich polarisierenden Wahlkampf wie Thatcher ein Jahr zuvor. Sein Wahlergebnis war mit 44,5 Prozent sogar um 0,6 Prozent besser als das von Thatcher. Doch aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts hatte diese eine klare Regierungsmehrheit errungen, während Strauss dem deutschen Verhältniswahlrecht gemäß eine absolute Mehrheit deutlich verfehlte. Weil die FDP mit ihm nicht koalieren wollte, war Strauß gescheitert.

Helmut Kohl zog die Lehre aus dem Misserfolg des Rivalen. Er akzeptierte das Verhältniswahlrecht und bezog die Eigenarten des deutschen Föderalismus in seine politische Strategie ein. Jene Kompromiss- und Konsenssuche, die Thatcher und Strauss ablehnten, war für ihn die Grundbedingung des Erfolges. Dass auf diese Weise keine radikalen Reformen durchzusetzen waren, hielt er für einen Vorteil, nicht für einen Mangel. Aus Gerhard Schröders Perspektive dürfte das heute ein wenig anders aussehen. Es wird zu den großen Herausforderungen seiner zweiten Amtszeit gehören, nicht nur die Macht zu sichern, sondern wirklichen Wandel einzuleiten und den Bürgern die Notwendigkeit tief greifender Veränderungen verständlich zu machen. Das britische Beispiel lehrt, dass dabei eine gehörige Portion Charisma vonnöten ist.

Anmerkungen

1 Alle Zitate stammen, soweit nicht anders ausgewiesen, aus Geppert 2002.

Literatur

Percy Cradock 1997: In Pursuit of British Interest. Reflections an Foreign Policy under Margaret Thatcher and John Major, London

Dominik Geppert 2002: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975-1979, München

Peter Hennessy 2000: The Prime Minister. The Office and its Holders since 1945, London Dennis Kavanagh 1974: Crisis, Charisma and British Political Leadership, London, Beverly Hills

Peter Lösche 1996: Die SPD nach Mannheim. Strukturprobleme und aktuelle Entwicklungen; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 6/1996, S. 20-28

Margaret Thatcher 1993: Downing Street No. 10, Düsseldorf u. a.

Franz Walter 2002: Mut, Verwegenheit und kühner Reformismus, in: Berliner Republik 5/2002, S. 6-12

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