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Islamis­ti­sches Charisma und totalitäre Herrschaft

vorgänge16009/2024Seite 56-58

In den islamischen Ländern und besonders in den modernen islamistischen Diktaturen nimmt der charismatische Führer eine Sonderstellung ein. Er ist nicht nur Regierungschef oder Staatsoberhaupt, sondern meist auch oberste religiöse Instanz. Die Macht dieser Führer ist beträchtlich, wobei sie ihren Einfluss in der Regel weniger institutionell als personal behaupten. Charisma ist damit eines der zentralen Herrschaftsmittel der islamischen Diktatur (Wandat-Hagh 1999). Der charismatische Führer in seiner islamischen, antiimperialistischen, antiwestlichen Variante ist seinem Selbstverständnis nach eine revolutionäre Gegenkraft zur modernen rationalen Herrschaft, wie sie in der westlichen Welt dominiert. Sie soll hier am Beispiel der Funktion des charismatischen Führerprinzips in der „Islamischen Republik Iran“ näher beleuchtet werden.

Im Iran steht der charismatische religiöse Führer an der Spitze des iranischen Gottesstaates und versteht sich ideologisch als in der Tradition des Propheten und der zwölf schiitischen Imame als Stellvertreter Gottes auf Erden stehend. Der Inbegriff der so konstituierten und abgesicherten „charismatischen Autorität“ (Kimmel/Tavakol 1986: 109) ist der verstorbene Revolutionsführer Khomeini. Der gegenwärtig herrschende religiöse Führer, Khamenei, besitzt zwar nicht die Integrationskraft Khomeinis, bildet aber gemeinsam mit seinem vermeintlichen Gegenspieler Mohammad Khatami im Schattenboxen um die Macht die charismatische Autorität. Die Effizienz der von den religiösen Führern ausgeübten personalen Herrschaft kann durch Rückgriff auf Webersche Kategorien erklärt werden.

Folgt man Weber, wird die Gesellschaft durch Herrschaftsbeziehungen zusammengehalten. Diese werden durch unterschiedliche normative und ethische Systeme legitimiert. Charismatische Herrschaft ist im Gegensatz zu rationalen Formen bürokratischen Herrschens historisch und daher temporal. Michael S. Kimmel unterscheidet daher unter Rückgriff auf Weber die charismatische Herrschaft von der traditionalen Herrschaft (Kimmel 1980: 124). Weber schreibt: „Die traditionale Herrschaft ist gebunden an die Präzedenzien der Vergangenheit und insoweit […] regelhaft orientiert, die charismatische stürzt (innerhalb ihres Bereichs) die Vergangenheit um und ist in diesem Sinn spezifisch revolutionär.“ (Weber 1980: 141) Ihm zufolge besitzt die genuine Form der charismatischen Herrschaft einen außeralltäglichen Charakter. „Der Träger des Charisma ergreift die ihm angemessene Aufgabe und verlangt Gehorsam und Gefolgschaft kraft seiner Sendung. Ob er sie findet, entscheidet der Erfolg. […] Auch ein genialer Seeräuber kann ja eine ,charismatische‘ Herrschaft im hier gemeinten wertfreien Sinn üben, und die charismatischen politischen Helden suchen Beute und darunter vor allem gerade: Geld.“ (ebd.: 655)

Entscheidend erscheint aber vor allem die Tatsache, dass charismatische Herrschaft vielfach als Gegenreaktion auf gesellschaftliche Modernisierung auftritt und damit als gangbare Alternative zum modernen Regieren erscheint. So mobilisierte Khomeini die Frustrationen derjenigen Muslime, die Verlierer des Modernisierungsprozesses in Persien waren. Die islamische Religion diente vor allem dazu, das Charisma zu legitimieren; der „Führer“ instrumentalisierte die Religion für seine politischen Ziele. Diese im Iran erfolgte Reinterpretation der Religion diente zur Legitimation seiner charismatischen Qualitäten (Kimmel 1989: 503). Tatsächlich wurde Khomeini von Islamisten, von religiösen Nationalisten und von orthodoxen Teilen der kommunistischen Bewegung gleichermaßen als legitimer Führer der Revolution von 1979 betrachtet.

Das „Crisis Charisma“ Khomeinis

Für die Betrachtung der Rolle von Charisma im islamischen Iran spielen vor allem die Analysen von Ahmad Ashraf eine wichtige Rolle, erlauben sie doch einen tiefen Einblick in die Rolle Khomeinis, dessen Ausstrahlung Ashraf als „multiples Charisma“ (Ashraf 1990: 113) bezeichnete. Der religiöse Führer hat demnach sowohl ein emotionales wie ein traditionelles religiös-amtliches Charisma. Khomeini führte eine theokratische Institution ein, die sich auf den verborgenen Imam beruft, übernahm selbst die Position des Supreme leader und eignete sich den Titel des Imam an.

Ashraf spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „crisis charisma“ (Ashraf 1994: 142): Charismatische Führer bilden sich demnach in Krisenzeiten heraus, wenn die grundlegenden Orientierungswerte, die Institutionen und die Legitimation der etablierten Ordnung sowie die dominanten Klassen von Intellektuellen und der Masse in Frage gestellt werden. Khomeinis Charisma war ein „dramatisches Phänomen“, das im Kontext der symbolischen Repräsentation der schiitischen Gemeinschaft entstand (ebd.: 145). Das Charisma kennt keine ökonomische Rationalität, um materielle Interessen zu verteidigen. Daher läuft das Charisma nach Ashraf stündlich seinem Ende entgegen (ebd.: 150). Um dem vorzubeugen, bedurfte es der Institutionalisierung der „charismatischen Herrschaft“ (Sansarian 1995:190). Diese äußert sich in der Beziehung des „Führers“ zu seinen Anhängern, aber auch im Verhältnis zu den Andersdenkenden. Der islamistische Führungsstil zeichnet sich durch eine institutionelle Erneuerung und die Durchsetzung der Kontinuität der klerikalen Herrschaft aus. Die Institutionalisierung der Herrschaft verfolgt das Ziel der Durchsetzung einer permanenten charismatischen Herrschaft. Gezielt wurden Institutionen wie eine Partei der Islamisch Republikanischen Partei (IRP) zunächst eingeführt, um diese im Juni 1987 abzuschaffen, als sie nicht mehr gebraucht wurde. Insbesondere im Bereich der Justiz wurden neue Institutionen geschaffen, die die Macht des religiösen Führers absichern sollen (ebd.: 198).

Die revolutionäre Funktion der schiitischen Ideologie bezieht ihre Impulse aus den herrschenden Mythologien, die tief in dem kollektiven Gedächtnis der Iraner verwurzelt sind. Diese Mythologien dienen den Massen als Glaubensersatz und dem Führer und der herrschenden Elite als ideologisches Herrschaftsinstrument zur Unterdrückung der Gläubigen. Die totalitäre islamistische Pseudo- und Anti-Religion strebt die Formung der Massen nach der staatlich monopolisierten religiös begründeten Ideologie an. Totalitäre Bewegungen legitimieren sich ideologisch wie Religionen. Auf existentiellen Gebieten, wie Geburt, Hochzeit und Tod betreiben totalitäre wie religiöse Bewegungen Riten. In der „Islamischen Republik Iran“ ist gerade in diesem Bereich eine Überlappung der religiösen Rituale der Frommen mit den politischen Zielen der Führungskaste festzustellen.

Ziel all dieser Maßnahmen ist es, die ursprünglich rein personale charismatische Herrschaft auf ein dauerhaftes Fundament totalitärer Herrschaft zu stellen und damit auch einen Wechsel des Führers bzw. eine Art Imagetransfer vom ursprünglichen revolutionären Führer zu seinen Nachfolgern sicher zu stellen. Der weitestgehend reibungslos verlaufene Übergang von Khomeini zu Ali Khameneis Führerherrschaft hat gezeigt, dass diese Strategie unter diktatorischer Zwangsherrschaft aufgeht.

Literatur

Ashraf, Ahmad 1990: Theocracy and Charisma: New Men of Power in Iran; in: Vidich Arthur J. u.a. (Hg.): International Journal of Politics, Culture and Society, Vol. 4, No. 1, S. 113-152

Ashraf, Ahmad 1994: Charisma, Theocracy, and Men of Power in Postrevolutionary Iran; in: Weiner, Myron/Banuazizi, Ali (Hg.): The Politics of Social Transformation in Afghanistan, Iran, and Pakistan, Syracuse

Kimmel, Michael 1989: „New Prophets“ and „Old Ideals“: Charisma and Tradition in the Iranian Revolution; in: Social Compass, Vol. 36, No.4, S.493-510

Kimmel, Michael/Tavakol, Rahmat 1986: Against Satan, Charisma and Tradition in Iran; in: Glassmann, Roland M./Swatos, William H. (Hgg.): Charisma, History and Social Structure, Westport (Conn.)

Sanasarian, Eliz 1995: Ajatollah Khomeini and the Institutionalization of Charismatic Rule in Iran, 1979-1989; in: Journal of Developing Societies, Volume XI, S.189-205

Wandat-Hagh, Wahied i.E.: Die Herrschaft des politischen Islam als eine Spielart des Totalitarismus: Die Islamische Republik Iran (Dissertation, Frühjahr 2003)

Wandat-Hagh, Wahied 1999: Die Herrschaft des politischen Islam als eine Form des Totalitarismus, in: PROKLA 115, S. 317-342

Weber, Max 1980 [1921/22]: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen

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