Charismatische Herrschaft und Vertrauen in Neuen Sozialen Bewegungen: Demokratietheoretische Probleme - lebensweltliche Erfahrungen
Die Gründungsgeschichte der modernen Demokratie kann auch als die einer allmählichen rechtlichen Formalisierung und Institutionalisierung von Beteiligungsrechten gelesen werden. Gerade die Herstellung rechtlicher und politischer Gleichheit – Ziel und zentrales Prinzip aller Demokratisierung von politischen Systemen und Organisationen – kann nur über die „künstliche” Schaffung dieser Gleichheit auf dem sich immer wieder reproduzierenden Hintergrund natürlicher und gesellschaftlicher Differenzen und Ungleichheiten erreicht werden. Insofern ist die Geschichte der Demokratisierung immer auch zugleich eine Geschichte der Formalisierung von Herrschaftsverhältnissen, ihrer Ämterstrukturen mit gewissen begrenzten Rechten einerseits und Mitwirkungs- und Schutzrechten andererseits gewesen. Heute nun scheint, zumeist unter dem Gesichtspunkt effektiver Zielerreichung gerade hinsichtlich staatlicher Politik, eine Phase der Informalisierung eingesetzt zu haben: Typisch hierfür sind die Hoffnungen, die von Politikern wie Sozialwissenschaftlern in den „kooperativen Staat” gesetzt werden, der sich mit nichtstaatlichen Akteuren in public-privat-partnerships oder policy-coalitions zur effektiven Problemlösung vereinbart [1]. In dem Maße, in dem die Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) [2] in diesen neuen governance-Strukturen partizipieren – inzwischen vor allem auch auf der internationalen Ebene (Wolf 2002) -, werden auch ihre internen politischen Mechanismen und Chancenstrukturen legitimatorisch über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus relevant. Für diese inneren Strukturen ist das Fehlen rechtlich und organisatorisch verfestigter Verhältnisse charakteristisch, so dass sich die Frage stellt, auf welche Weise sie stattdessen ihre funktionalen Probleme der Koordination, Führungsrekrutierung und Wahrnehmung der Führungsfunktionen bewältigen.
Das Charisma wird von Max Weber im Kontext seiner politischen Soziologie der Herrschaft stets in Abgrenzung zur „bürokratischen” und „patriarchalen” behandelt – aber eben unzweifelhaft als eine soziologische Form der Herrschaft. „Im Gegensatz gegen jede Art bürokratischer Amtsorganisation kennt die charismatische Struktur weder eine Form oder ein geordnetes Verfahren der Anstellung oder Absetzung, noch der ,Karriere‘ oder des ,Avancements‘, noch ein ,Gehalt‘, noch eine geregelte Fachbildung des Trägers des Charisma oder seiner Gehilfen, noch eine Kontroll- oder Berufungsinstanz, noch sind ihr örtliche ‚Amtssprengel‘ oder exklusive sachliche Kompetenzen zugewiesen, noch endlich bestehen von den Personen und dem Bestande ihres rein persönlichen Charisma unabhängige ständige Institutionen nach Art bürokratischer Behörden“ (Weber 1972: 655). Fasst man die in dem Zitat enthaltenen Negativbestimmungen positiv, so wird man mit dem Blick auf die heutige politische Wirklichkeit in den meisten politischen Parteien viele jener Merkmale „bürokratischer Amtsorganisation” wiederfinden. Hier gibt es sowohl die sprichwörtlichen Parteikarrieren und Ämterstrukturen wie auch die nach dem Parteiengesetz bestimmten rechtlichen (und bürokratischen) Verfahren zur „Anstellung oder Absetzung” oder wenigstens doch potenziellen „Kontrolle” der politischen Führer durch die Mitglieder oder – man denke an die Pflicht zur öffentlichen Rechenschaftslegung aller Einnahmen und Ausgaben – sogar die politischen Konkurrenten, die Öffentlichkeit und die Gerichte. Dass man die politische Wirklichkeit der Macht und innerparteilichen Herrschaftsprozesse nur vollständig durchschauen könnte, wenn man nicht neben den formalen auch die informellen Verhältnisse durchschaute, steht auf einem anderen Blatt – und dürfte spätestens seit den Parteispendenskandalen jedem bewusst sein. Jedenfalls können aber die informellen Prozesse den formalen Verhältnissen im Falle politischer Parteien nicht öffentlich erkennbar widersprechen, ohne dass es für die politische Führung problematisch würde und den Mitgliedern formale Rechte zum Widerspruch zu Gebote stünden.
Ganz anders verhält es sich, wenn man die Frage nach der charismatischen Herrschaft an die NSB richtet – eine Frage die in der Vergangenheit in Sozialwissenschaft und Praxis erstaunlich wenig gestellt wurde. Auf den ersten Blick glaubt man zu sehen, dass die in dem Weber-Zitat enthaltenen Negativbestimmungen hier weitgehend erfüllt sind: NSB kennen keine „geordneten Verfahren der Anstellung oder Absetzung”, noch beziehen ihre führenden Akteure regelmäßig „Gehalt” oder sind ihnen oder einzelnen unter ihnen „exklusive sachliche Kompetenzen zugewiesen”. Mit einem Wort: NSB ermangeln „bürokratischer Amtsorganisation”.
An dieser Stelle ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder man argumentiert, dass es sich bei NSB um „herrschaftsfreie” Sozialgebilde handle, so dass sich die Frage nach dem Typus der Herrschaft – charismatisch oder anders – gänzlich erübrigt, oder aber man prüft empirisch genauer, ob der an obigem Zitat entstehende erste Eindruck sich bewahrheitet. Dabei könnte sich die Vermutung, NSB wiesen charismatische Herrschaftsverhältnisse auf, bestätigen oder aber zu einer weiteren Differenzierung des Herrschaftsbegriffs um einen neuen Typus führen. Soweit die prinzipiellen Möglichkeiten, die sich eine größere, vor allem auch empirische Untersuchung der Frage zur Aufgabe stellen könnte. Mir geht es in dieser kleinen Gedankenskizze eher um erste Anregungen und Fragestellungen als bereits um letzte Antworten, an denen sich andere versuchen mögen.
Neue Soziale Bewegungen – ein herrschaftsfreier Raum?
Für den Zeitgenossen der NSB seit den späten 1960er Jahren ist seit langem auffällig, in welchem Maße die Antwort nicht nur der in der Praxis wirkenden Akteure, sondern auch der ja nicht eben raren sozialwissenschaftlichen Literatur der ersten Hypothese zuneigt. Danach stellt sich die Frage nach inneren Herrschaftsverhältnissen zwar in allen anderen politischen Organisationen, insbesondere in Parteien und Verbänden, nicht aber in NSB. Die Abschlussarbeiten und Dissertationen zum Thema „innerparteiliche Demokratie” seit Ulrich Lohmars Pionierstudie (Lohmar 1963) Anfang der 1960er Jahre sind Legion; immer geht es dabei um die Chancen und Mitwirkungs-, Kontroll- und Abwehrrechte der einfachen Mitglieder – also um die innerparteiliche Herrschaftsstruktur? [3] Seit den 1970er Jahren steht – und das eben nicht nur mit antigewerkschaftlichem Impetus – die politische und wissenschaftliche Forderung nach einem Verbändegesetz im Raum, das analog zum Parteiengesetz die Forderung nach innerverbandlicher Demokratie rechtlich festschreiben sollte (vgl. Alemann/Heinze 1979). In einer politischen Situation, in der immer mehr Verbände, das heißt praktisch: ihre Vorstände oder Beauftragten, als Partner des sogenannten „kooperativen Staates” in sogenannten policy-networks an der autoritativen (früher hätte man gesagt: hoheitlichen) Regulierung sozialer Prozesse teilnehmen und sich die Frage nach ihrer Legitimierung genauso wie bei der staatlichen Seite stellt, hat diese Forderung sogar zunehmend politische Brisanz gewonnen.
Aber während diese Debatten geführt werden, schien und scheint sich die analoge Frage nach den inneren Verhältnissen von NSB nur selten zu stellen. Und wenn doch, dann nicht unter dem Herrschaftsgesichtspunkt, sondern unter dem der „funktional notwendige(n) Arbeitsteilung” und „effiziente(n) Funktionserfüllung” (Raschke 1985: 218). Unter der immerhin bemerkenswerten Kapitelüberschrift Führer und Aktive schreibt Joachim Raschke: „Bewegungen sind nichts ohne eine größere Zahl von Aktiven, sie entfalten sich aber auch nicht ohne Menschen, die Leitungsfunktionen übernehmen […]. Es gibt keine führerlosen Bewegungen […]. Mitgliedschaft in sozialen Bewegungen ist prekär, Führung (relativ) stabil” (ebd.: 214). Gerade wenn man die in diesen Sätzen zusammengefassten allgemeinen Erkenntnisse über die Notwendigkeit von Leitungs- und Führungsfunktionen (auch) in NSB für richtig hält, dann wird das Erstaunen darüber vielleicht verständlich, warum eine ansonsten herrschaftssensible Sozialwissenschaft gerade bei diesem Forschungsgegenstand der kritischen Nachfrage auszuweichen scheint. [4] Denn die Herrschaftsrechtfertigung über die Notwendigkeit von Leitungsfunktionen ist ungeachtet ihrer partiellen Wahrheit zugleich die älteste Legitimationsideologie von Herrschaft überhaupt, die ihre wissenschaftliche und ideologische Rationalisierung seit der feudalistischen Formel „Schutz (der oft Ausbeutung einschloss, M.G.) gegen Treue” bis zu neueren „Theorie der Herrschaft” (Hondrich 1973) immer wieder gefunden hat.[5] Die Erfüllung gesellschaftlich oder organisatorisch notwendiger Leitungsfunktionen gibt deren Inhabern immer auch Chancen zur über diese unmittelbaren Notwendigkeiten hinausgehender Herrschaftsausübung: zur Wahrnehmung von Direktionsgewalt und zur Aneignung oder Ausbeutung von Ressourcen zu persönlichen Zwecken. [6] Warum sollten diese Chancen und die damit an die entsprechenden Individuen oder Leitungszirkel gestellten Versuchungen a priori in NSB weniger wirksam sein als in allen anderen sozialen Gebilden?
Das Argument, das sich auch bei Joachim Raschke findet, dürften viele zumindest unreflektiert teilen. Danach wollen, wie er schreibt im Falle von NSB „Aktive und Führer […] im wesentlichen das gleiche“ und im Übrigen sei der ,,, exit‘ leicht bewerkstelligt und gegenüber ,voice‘ fehlt es häufig an wirksamen Sanktionen” (Raschke 1985: 217f.). Nun trifft der erste Sachverhalt unzweifelhaft auch auf Parteien und insbesondere Verbände zu, denen man ja gerade wegen der Zustimmung zu den Verbandszielen oder der Übereinstimmung der Interessen beitritt. Über die Frage, ob die motivationale Schwelle für einen Partei- oder Verbandsaustritt wirklich größer ist als – nehmen wir ein in der bundesdeutschen Geschichte nicht gerade irrelevantes Beispiel – bei einer Distanzierung von der bis dahin erkennbar unterstützen Friedensbewegung, mag man trefflich streiten. Beide Formen des exits dürften ehemals Engagierten schwer fallen und sie gegenüber ihren ehemaligen Genossen oder in ihrem persönlich-politischen Kontaktfeld unter Rechtfertigungsdruck bringen. Zusammengefasst sind beide Argumente kaum so überzeugend, um von vorne herein auszuschließen, dass mit der offenkundig unvermeidbaren Struktur „Aktive und Führer” und den als ebenso unvermeidbar unterstellten funktionalen Erfordernissen der Leitung keine Herrschaftsprozesse verbunden seien.
Sozialwissenschaftliche Verklärungen des Bewegungsbegriffs
Für das erstaunliche Phänomen, dass nach den inneren Herrschaftsverhältnissen und demokratischen Strukturen von NSB so selten gefragt wird, und zwar bei ihren Anhängern ebenso wie bei einer ihnen zumeist recht unkritisch gegenüberstehenden Sozialwissenschaft (Greven 1988), [7] dürfte letztlich aber ein unreflektiert verbreitetes Vorurteil verantwortlich sein: Bei diesen Bewegungen und Mobilisierungsprozessen müsse es sich schon allein wegen ihrer positiven Ziele per se um demokratische Einrichtungen handeln, bei denen solche Fragen obsolet seien. Wer sich öffentlich und friedlich für Frieden, Umwelt und Gerechtigkeit engagiert, dem werden ebenso wie den Bewegungen, die dadurch entstehen, offenkundig auch der persönliche demokratische Charakter und damit die angebliche Obsoletheit des Herrschaftsproblems kreditiert. Das kann aber im Einzelfall ein ziemlicher Fehlschluss sein, denn von normativ generell als positiv bewerteten Zielen, die Einzelne oder soziale Bewegungen verfolgen, lässt sich sozialwissenschaftlich nicht auf die innere Struktur sozialer Gebilde rückschließen. Denn auch hier gilt selbstverständlich der demokratische Grundsatz: Der Zweck heiligt nicht die Mittel (in diesem Fall die Organisations- und Mobilisierungsmittel). Diese müssen sich auch im Falle von als positiv angesehenen Zielen den üblichen herrschaftskritischen Fragen stellen und ihre inneren Strukturen und Prozesse nach demokratischen Prinzipien rechtfertigen. So wie die grundgesetzlich normierte Parteiendemokratie konsequent die Forderung nach innerparteilicher Demokratie nach sich zog, so wird gerade derjenige, der für die Beteiligung von NSB an governance plädiert, sich der Forderung nach ihrer inneren Demokratisierung nicht entziehen können. Und auch wenn alle beteiligten Individuen persönlich über demokratische Einstellungen und eine entsprechende Wertorientierung verfügten, so müssten sie doch, gerade wenn es um die Entscheidungsfindung und Ressourcenverwendung bei großen Zahlen geht, ihre Verhältnisse untereinander so regeln, dass den persönlichen Dispositionen die objektiven Verhältnisse entsprechen können. Kurz gesagt: Auch das Zusammenhandeln von Demokraten verlangt demokratische Strukturen.
Hinzu kommt das Problem, dass auch eine sich bestimmten NSB verbunden fühlende Sozialwissenschaft eines Tages zugestehen musste, dass sich Organisationsformen und Mobilisierungsprozesse höchst unsympathischer Art im äußersten rechten und manchmal auch ziemlich linken politischen Spektrum ebenfalls als NSB deuten lassen. Spätestens damit war klar geworden: Der NSB-Begriff musste sozialwissenschaftlich seiner vormals unproblematisierten normativen Implikationen entkleidet werden. Er stand nunmehr als Analyseinstrument auf der Tagesordnung, etwa im Zusammenhang mit ausländerfeindlichen Mobilisierungsprozessen oder, vor allem im Ausland, im Zusammenhang mit neopopulistischen Bewegungen. Daneben wurde er auch als Selbstkennzeichnung der Aktiven unter dem Gesichtspunkt der inneren Herrschaftsproblematik wichtig. Wer es für selbstverständlich hält, bei „rechten” NSB herrschaftskritisch die inneren Verhältnisse zu beleuchten, der sollte die Frage auch bei den übrigen NSB nicht aus rein begrifflichen, methodischen und erst recht nicht aus politischen Motiven ausschalten.
Charismatische Herrschaft in Neuen Sozialen Bewegungen
Wenn man nun in Ersatzvornahme aussagekräftiger Empirie zunächst auf der Ebene von Phänomenen nach jenen Indizien und Anlässen fragt, die in den anderen genannten politischen und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen bei Parteien und Verbänden herrschaftsrelevant wären, so könnte man —ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – einigen der folgenden Hinweisen nachgehen.
Herrschaft, insbesondere charismatische Herrschaft, hat stets ein personales Element. Letztere ist ohne jene Führungsgestalten nicht denkbar, denen das Charisma von ihren Anhängern und, heute für die Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen in der Massengesellschaft von besonderer Bedeutung, von den Medien zugeschrieben wird. Das Charisma existiert – jedenfalls wenn man den Begriff (herrschafts- oder religions-)soziologisch verwendet – stets nur als Attribution: als zugeschriebene, von Anhängern geglaubte Eigenschaft oder Qualität einer Person, der deswegen ohne formales Amt oder prozedurale Rekrutierung eine Führungsrolle zugestanden wird. [8] Die bei Journalisten so wohlfeile Formulierung vom „gewählten charismatischen Führer” ist im Sinne der Herrschaftssoziologie Webers unsinnig. Denn das Charisma ist weniger (wie im Zuge der gerade in der Parteien- und Wahlsoziologie heute intensiv geführten Personalisierungsdebatte erkennbar) eine Ursache für Wahlerfolge, sondern im Gegenteil der wesentliche Legitimationsgrund von nichtgewählten politischen Führern. Diese sind eben typisch für NSB, aber nicht für die übrigen demokratischen Organisationen und Systeme. Also muss man streng zwischen diesem herrschaftssoziologischen Gebrauch des Begriffes und der heute üblichen Verwendung unterscheiden, bei der damit lediglich die Beliebtheit, Anerkennung oder Popularität einer Person zum Ausdruck gebracht werden soll.
In NSB finden sich aber, so die These, starke Indizien für die Existenz, möglicherweise sogar in vielen Fällen Unvermeidbarkeit charismatischer Herrschaft. Sie liegen immer dann vor, wenn Personen, die durch keine formellen Prozesse oder Institutionen wie Wahlen oder Ämter legitimiert sind, bei der Bestimmung von Handlungszielen, Strategien und der Verwendung von Ressourcen so handeln und entscheiden können, dass sie auch weiterhin Gefolgschaft oder gar Gehorsam finden. Insbesondere gilt dies dann, wenn bestimmte identifizierbare Personen über einen längeren Zeitraum und bei den entsprechenden Anlässen wiederholt erfolgreich eine Führungsfunktion auszuüben vermögen. Spätestens an dieser Stelle muss an den genauen Inhalt des hier verwendeten Herrschaftsbegriffs erinnert werden. An der Weberschen Definition „Herrschaft sei die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden” (Weber 1972: 28), befremdet heute mehr die Terminologie (Befehl, Gehorsam) als die Sache selbst. Bei dem hier verwendeten Herrschaftsbegriff geht es also immer um die Motive der Fügsamkeit oder die Gründe der Legitimität für die Anerkennung von Führung. Anders als bei der Macht, die sich „auch gegen Widerstreben durchzusetzen” in der Lage sieht (ebd.: 28), geht es bei der Herrschaft nicht zuerst um die (Macht-)Ressourcen der Führerpersönlichkeiten. Letztere sind ja in sozialen Bewegungen zunächst kaum vorhanden – und wenn, dann in Abhängigkeit von Herrschaftspositionen. Vielmehr geht es um die Masse der Anhänger oder Mobilisierbaren, die auf die kommunizierten Signale und Inhalte zunächst nur potenzieller Führungsfiguren in NSB mit der Zuschreibung des Charisma, also der Anerkennung einer Führungsrolle reagieren.
Herrschaftspraxis in Neuen Sozialen Bewegungen
Sucht man nach konkreten politischen Beispielen, wie so etwas funktioniert, so wird man besonders in lokalen, auf konkreten interpersonalen Kommunikationen beruhenden Beziehungen vor allem auf zwei Faktoren achten müssen: transferierbare Reputation und demagogische Qualität. Beide sind über die Massenmedien auch translokal auszuweiten. Wo immer sich „spontan” Anlass zu Protest und erste Ansätze zur Mobilisierung ergeben hatten – zum Beispiel in den 1990er Jahren wegen antisemitischer oder ausländerfeindlicher Übergriffe oder früher angesichts der Ende der 1970er Jahre geplanten Dislozierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen -, da konnte man häufig den Reputationstransfer und seine Rolle bei der Mobilisierung von NSB einerseits, bei der Herausbildung von asymmetrischen Herrschaftsstrukturen andererseits beobachten. Für die Mobilisierung zunächst der Aufmerksamkeit, dann auch der Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an Protest und Aktion, spielte die bereits vorhandene, zumeist im Berufsleben erworbene und sich in der Wertschätzung bestimmter Titel ausdrückende öffentliche Reputation derjenigen, die sich öffentlich äußerten, stets eine wichtige Rolle. Alain Touraine, der unter dem Eindruck des „Pariser Mai” 1968 seine oben bereits angesprochenen objektivistischen Bewegungsvorstellungen vorsichtig revoziert, spricht in diesem Zusammenhang als Entstehungsbedingung von (neuen) sozialen Bewegungen die „Verbindung zwischen einer fordernden Elite und Unterprivilegierten” (Touraine 1976: 188) an. Hierbei käme es allerdings mehr auf die Rolle von Eliten an als auf die gerade in den NSB oft weiter gehegte, aber vergebliche Hoffnung, dass sich ihnen gerade „unterprivilegierte” anschließen würden. Die berühmten Göttinger Sieben standen Ende der 1950er Jahre zwar nicht am Anfang der bundesdeutschen Anti-Atombewegung, sie schufen aber ein wichtiges Handlungsmuster, dem später zahlreiche Professoren, Ärzte, Pfarrer und sogar Schauspieler folgten. Wenn es dann darum ging, „zentrale” Protestveranstaltungen auszurichten, ihre Parolen und thematischen Inhalte zu bestimmen, dann standen einige von ihnen stets genauso parat wie dann als Redner auf den Podien und Demonstrationen. Spätestens hier kommt, wenn er sich nicht schon intern in kleinerem Rahmen wie zum Beispiel auf studentischen Vollversammlungen oder Gewerkschaftsfortbildungen ausgebildet hat, der zweite Faktor ins Spiel: Demagogische Fähigkeiten können, dafür gibt es seit der Antike genügend Beispiele, Herrschaft begründen – insbesondere dann, wenn keine formalen Rekrutierungsverfahren und Ämterstrukturen vorhanden sind.
Schließlich finden in allen Mobilisierungen einige Akteure, darunter am leichtesten die mit bereits vorhandenem Reputationskapital, immer mehr Aufmerksamkeit der Medien, [9] die schon aufgrund ihrer eigenen internen Logiken (u.a. Personalisierung, die es ja nicht nur im Parteienwettbewerb gibt), einigen dann zu dem Titel „Sprecher” oder „Sprecherin” der jeweiligen Bewegung verhalfen. [10] Das wiederum blieb und bleibt auch in den internen Kommunikations- und Abstimmungsprozessen der NSB nicht ohne politische Auswirkungen. Medienpräsenz und die damit privilegierten öffentlichen Artikulations- und Mobilisierungsmöglichkeiten lassen sich in Herrschaftsressourcen (nicht nur [11]) in NSB transferieren. Auf diese Weise werden, idealtypisch gesehen, charismatische Führer und Führerinnen in NSB gefunden, die schließlich maßgeblich jene Funktionen wahrnehmen, von denen auch Joachim Raschke zugesteht, dass sie notwendig seien. Er unterscheidet zum Beispiel den „Zielspezialisten” mit seinem entscheidenden Einfluss darauf, was die schließlich artikulierten Mobilisierungs- und Protestziele en Detail jeweils sind, [12] den organisatorisch begabten und kommunikationsfähigen „Mobilisator” und den langfristig und konzeptionell denkenden „Strategen” (Raschke 1985: 216). Spätestens hier ist es für den teilnehmenden Zeitgenossen eine große Versuchung, jeweils konkrete Namen ins Gedächtnis zu rufen; aber das mögen die Lesenden zunächst für sich selbst in ihrem eigen Erfahrungs- und Erinnerungsraum ausprobieren, der sich ja auf ganz verschiedene Phasen und Stränge der im Einzelnen sehr unterschiedlichen NSB beziehen kann. Teil dieser Erinnerungsarbeit oder gegenwärtigen Erfahrungsreflexion sollte die Frage sein, inwiefern in der Praxis von NSB oder den ihnen angelagerten, inzwischen keineswegs nur noch lokalen, sondern auch national und transnational arbeitenden „Bewegungsnetzwerken“ des „Bewegungssektors“ [13] die Erfahrung von Fremdbestimmung durch die Dominanz einiger herausgehobener Führungspersonen gemacht wird. Zumindest bei nationalen und transnationalen NSB wie zum Beispiel attac stellen sich ja die klassischen Fragen der Repräsentation: Proportionalität, Kontrolle, Abberufung und Verwendung der Mittel. Kaum glaubhaft, dass diese und andere Fragen mit dem einfachen Hinweis auf die Übereinstimmung von „Führern” und „Aktiven“ in den grundsätzlichen Zielen bereits gelöst sind.
Schließlich sind alle diese Fragen nicht nur wegen der mit der Wahrnehmung von Führungsfunktionen unvermeidlich verbundenen Organisations- und Direktionsgewalt, also unter dem Gesichtspunkt der Fremdbestimmung, demokratierelevant, sondern auch deswegen, weil NSB, wie wiederum die Erfahrung zeigt, in erstaunlichem Maße die Fähigkeit besitzen, materielle Ressourcen zu mobilisieren, über deren Verwendung im Einzelnen dann oft von informellen Führungszirkeln entschieden wird. Ob es sich um die lange Zeit jede studentische Vollversammlung, aber auch einige Gewerkschaftstagungen oder sogar den Evangelischen Kirchentag flankierende „spontane” Spendensammlung „Waffen für Nicaragua”, für den ANC oder andere heute längst vergessene „Befreiungsbewegungen” handelte – bei der niemand jemals genau wusste oder darauf achtete, wer eigentlich die Kollekte einsammelte und anschließend auf einem oft nur mit einer ‚c/o-Adresse‘ versehenen Konto verwaltete – oder aber die zahlreichen Aufrufe unterschiedlichster Bewegungsorganisationen und -akteure bei Großdemonstrationen oder aus Anlass bestimmter Kongresse oder Veranstaltungen oder zu bestimmten Zwecken handelt: Nicht immer entspricht offenkundig dem Ausmaß der mobilisierten Mittel auch eine Kontrolle ermöglichende und Legitimität erzeugende Mitwirkungsstruktur.
Hier sind natürlich die strukturbedingten Differenzen zu formalen Organisationen wie Vereinen, Verbänden oder gar den Parteien mit ihren rechtlich fixierten und institutionalisierten Rechenschafts- und Offenlegungsverpflichtungen besonders groß. Auch innerhalb des Bewegungssektors dürfte die empirische Analyse ein weites Spektrum an Strukturen und Verhältnissen aufzeigen, denn in vielen Zusammenhängen haben sich die NSB, genauer: Gruppen von Akteuren innerhalb der NSB gerade deswegen und in bester Absicht teilinstitutionalisiert, um die angesprochenen Probleme zu lösen. Aber nicht jedes „Spendenkonto” unter einem Aufruf ist in eine solche demokratische Struktur eingebunden und nicht in allen im Kontext von Bewegungen existierenden Vereinen oder Verbänden entsprechen die inneren Verhältnisse wirklich demokratischen Maßstäben. Nicht selten bestehen zwischen Vorständen, Angestellten oder Sprecherräten einerseits und „Kassenprüfern” oder ähnlichen Beauftragten andererseits derart enge politische Beziehungen, dass von einer echten Kontrolle kaum die Rede sein kann und ihre Wahrnehmung als lästige Verpflichtung empfunden wird; für Mitgliederversammlungen und Wahlen nach dem Vereinsgesetz gilt ähnliches. Generell gibt es vermutlich gerade im Kontext von NSB und ihren „Bewegungsorganisationen” eine weit verbreitete politische Teilkultur der Informalität. Diese Kultur empfindet die Durchführung gesetzlich vorgeschriebener Prozeduren weniger als Chance der Legitimierung und Kontrolle, denn als fremdbestimmten „Formalkram”, den es für das vereinsrechtlich notwendige Protokoll möglichst schnell zu veranstalten gilt, bevor man zur eigentlichen Politik zurückkehren kann.
Angesichts des unbestreitbaren Ausmaßes an idealistischem Engagement dürfen diese Fragen und Hinweise keineswegs als ein Generalverdacht auf Missbrauch von Direktionsgewalt und Ressourcen durch die Inhaber von Führungsfunktionen in NSB verstanden werden. Sie müssen vielmehr im Kontext meiner Problemstellung sowie der Beobachtung gesehen werden, dass diese und andere Fragen, die in vergleichbaren sozialen Gebilden nicht nur durchaus üblicherweise gestellt werden, sondern in der Regel auch institutionalisierte Antworten gefunden haben, bei NSB dagegen so sehr im Schlagschatten öffentlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit verbleiben.
Vertrauen als Kategorie von Herrschaft und sozialer Interaktion
Eine entscheidende Voraussetzung von Informalität ist Vertrauen. Charismatische Herrschaft basiert auch auf Vertrauen, das den Führungspersonen entgegengebracht wird. Diese Strukturbeziehung ist in informellen Massenbewegungen mit ihrer nur mittelbaren Kommunikation zwischen „Führern” und „Aktiven” zu einem gewissen Grad offenkundig unvermeidbar und funktional. In den unmittelbaren Beziehungen der informellen Führungskreise scheint Vertrauen hingegen aber auch ohne Charisma auszukommen – im Gegenteil ruft es hier offenkundig Spannung und Konkurrenz hervor.
Soziologisch betrachtet scheint deshalb „Vertrauen” als funktionales Äquivalent der üblichen formellen Strukturen und Institutionalisierungen zur Mitwirkung und Kontrolle in demokratischen Organisationen in den fluideren und informeller strukturierten NSB zu überwiegen. Traditionen eher angelsächsischer Provenienz, die Misstrauen in die Wahrnehmung von Führungsfunktionen geradezu als demokratische Tugend begreifen, treffen jedenfalls in deutschen NSB offenkundig auf spiegelbildliche Alternativen einer über gemeinsame Ziele vermittelten Gemeinschaftsvorstellung [14]. In Massenbewegungen ohne direkte interpersonale Kontaktmöglichkeiten aller mit allen dürfte sich das Vertrauen in „Sprecher” und andere Inhaber von Führungsfunktionen vor dem Hintergrund solcher kulturellen Traditionsbestände zum Teil aus dem bereits angesprochenen Reputationstransfer, zum Teil aus angesammelten Erfahrungen mit diesem Personal bei früheren politischen Anlässen und Aktionen speisen. Solches Vertrauen hängt in seiner Belastbarkeit, also u.a. der aus ihm sich begründenden Folgebereitschaft, auch von dem Ausmaß an inhaltlicher Kontinuität von Bewegungsthemen und Aktionsformen ab. Innovationen, insbesondere wenn sie „von oben” initiiert werden, stellen besondere Belastungen dieser generalisierten Vertrauensbeziehungen dar. Hier ist dann wirklich massenwirksames Charisma einzelner Personen gefragt, wie es zeitweise in Phasen der Zuspitzung politischer Proteste und Konflikte zum Tragen kommt.[15] Die wichtigste strukturelle Vertrauensgrundlage für die informalen Binnenverhältnisse und Netzwerke, da ist sich die Soziologie ungeachtet aller Schulstreitigkeiten ziemlich einig, liegt aber in der Stabilität unmittelbarer personaler Verhältnisse. „Freundschaft” ist ein Typ solcher personalen Vertrauensbeziehungen, die ihre Stabilität nicht zuletzt aus ihrer Dauer bezieht. Eine Untersuchung von personalen Kontinuitäten des Führungspersonals in verschiedenen NSB und ihrer zeitlichen Dauer könnte hier sehr aufschlussreich sein und mit einiger Wahrscheinlichkeit eklatante Widersprüche zu zeitweise auch in einigen NSB kursierenden „basisdemokratischen” Zielvorstellungen wie Ämterrotation usw. aufweisen. [16] Alle eigene Erfahrung spricht dafür, dass gerade langjährige Vertrauensbeziehungen und mehr oder weniger politisch begründete Freundschaften sich bei einer empirischen Prüfung im Bewegungszentrum vieler NSB nachwiesen ließen. Sie stehen zweifelsfrei in einem Spannungsverhältnis zu den charismatischen Außenbeziehungen Einzelner und dürften damit für die ungeachtet aller Freundschaften für diese sozialen Gebilde ebenso notorischen internen Konkurrenzbeziehungen und Eifersüchteleien mitverantwortlich sein. Aber zugleich verbürgen sie in den angesprochenen Binnenbeziehungen funktional auch nach außen hin die Wahrnehmung, dass an der Spitze der Bewegung alles mit rechten Dingen zugeht.
Die politischen Freundschaften und ihre Dauer sind aber auch eine Hauptursache langfristiger politischer Patronagebeziehungen, die es nicht nur in politischen Parteien gibt (vgl. Luhmann 2002: 407ff.): Auch im Kontext von NSB werden angesichts ihrer teilweisen Professionalisierung Posten und Aufträge vergeben. So ist es nicht verwunderlich, dass zu dem mehr oder weniger institutionalisierten „Bewegungssektor” inzwischen auch die Figur des Bewegungsunternehmers gehört; schließlich müssen Millionen von Palästinensertüchern, Tausende lila Halstücher mit Friedenstaube oder Sticker mit Sonnenblumen, schließlich Embleme wie Plakate ebenso gedruckt und hergestellt werden, wie die umfangreiche Broschürenliteratur im Kontext einzelner Bewegungen. Hier werden ebenso wie im Spendensektor ganz beträchtliche Umsätze gemacht und bekanntlich verdanken ja nicht nur einige heute bekannte Verlage und Zeitschriften, sondern auch Druckereien, Buchläden, Fuhrunternehmen und sogar Reisebüros ihre Gründung und Herkunft solchen Bewegungskontexten. Die Finanz- und Wirtschaftsgeschichte des Bewegungssektors in Deutschland seit den späten 1950er Jahren ist noch nicht geschrieben – und angesichts der vielfach informellen Verhältnisse wohl auch nur sehr schwer zu rekonstruieren. [17] Angesicht des geringen Grades funktionaler Differenzierung und der vorhandenen Verschränkung politischer, organisatorischer und wirtschaftlicher Funktionswahrnehmung in den NSB wäre sie aber aus der Sicht einer herrschaftssensiblen Demokratiegeschichte auch des außerparlamentarischen Sektors wünschenswert.
Fazit
Die vorstehenden Überlegungen und Beispiele geben wohl Anlass, die unkritische Hintergrundannahme von der inneren Herrschaftslosigkeit von NSB aufzugeben und mit den üblichen Fragen einer kritischen politischen Soziologie empirisch nachzuforschen. Dabei wäre davon auszugehen, dass wie überall in Politik und Gesellschaft gegebene opportunity structures auch ein gewisses Maß von Missbrauch und Dysfunktionalität im Sinne der jeweiligen Bewegungsziele ermöglichen. Mag dieses Maß angesichts der ganz überwiegend rational oder idealistisch motivierten Anhängerschaft der meisten NSB auch geringer sein als in vergleichbaren formalen Organisationen, so rechtfertigte das doch nicht das bisherige Desinteresse der Sozialwissenschaften und eben leider auch nicht jedes gespendete politische Vertrauen ihrer Anhänger. Relevant ist diese Frage aber über die Binnenbeziehung hinaus heute in dem Maße geworden, in dem NSB als NRO an Herrschaftsfunktionen politischer Systeme unmittelbar teilhaben. Dass ihre dabei agierenden Repräsentanten schwächeren mitgliedschaftlichen Partizipations- und Kontrollrechten ausgesetzt sind, beschädigt damit nicht nur ihre eigenen Legitimationsgrundlagen, sondern die Legitimität von Regieren in public-private-governance-networks über die bereits bekannten Maße hinaus. Solange man in diesen sich ausbreitenden informellen Strukturen auf Seiten der NRO nur die jeweils eigenen gesteigerten Partizipationsrechte und auf Seiten der formal legitimierten Regierungen nur die vermeintlichen Effektivitätsgewinne im Auge hat, befindet sich die eingangs angesprochene langfristige Entwicklungstendenz der Demokratisierung zur Zeit in einer eigenartigen Regression.
Zusammen mit dem als Personalisierung und Mediatisierung der Parteipolitik breit diskutierten Rückgang an innerparteilicher Demokratie könnten somit die Aspekte charismatischer und lediglich intern auf persönlichem Vertrauen basierender Führungsstrukturen in den NSB insgesamt derzeit an einem Wandel der politischen Kultur mit strukturellen Auswirkungen teilhaben, dessen Entwicklungsfluchtpunkt noch nicht recht erkennbar ist. Die paradoxe Tendenz der Relativierung gleichberechtigter formaler Mitwirkungsrechte durch Ausweitung der Partizipation von NSB in allen Phasen des politischen Prozesses scheint aber langfristig eindeutig zu sein.
Anmerkungen
1 Ich knüpfe hier an frühere Überlegungen an, die aber auf die durch Informalisierung bedingten Veränderungen des Regierens und nicht die inneren Strukturen von Neuen Sozialen Bewegungen abzielten, siehe Greven 2000.
2 Die unterschiedliche Bezeichnung als NRO und NSB schuldet sich – wie bei anderen Autoren – dem jeweiligen Kontext; dass heute politikwissenschaftlich mehr von NRO als NSB die Rede ist, spiegelt die politische Einbindung sozialer Bewegungen in policy-coalitions und die an sie gerichteten Erwartungen rationalen Mitregierens sowie den momentanen Abschwung fundamentaler Opposition unbewußt, aber realistisch wider.
3 Auch (innerparteiliche) Demokratie ist eine Herrschaftsstruktur – nur eben eine auf politischer Gleichheit und Partizipationsrechten beruhende.
4 Bei Joachim Raschke wird sie immerhin in der angesprochenen Weise, anders als in zahlreichen von mir überprüften wichtigen Werken zu NSB, aufgeworfen; auf das für ihn wohl entscheidende Argument, warum es sich hier „eher“ nicht um „Herrschaft“ handle (Raschke 1985: 218), komme ich im Text noch zu sprechen.
5 Prägnante Beispiele zur „Substitution von ‚Herrschaft‘ durch ‚Führung“‚ in dem von Dietrich Nilger verfassten Unterkapitel des Stichworts „Herrschaft“ in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Hilger 1982). Bezeichnenderweise spricht Joachim Raschke dort, wo er das Thema Charisma in NSB kurz berührt, vom „charismatischen Führungstyp“ (Raschke 1985: 218) und setzt es mit einem „charismatisch-autoritären“ oder gar „-totalitärem Modell“ (ebd.: 219) gleich.
6 In der Kritischen Theorie findet sich für diesen Sachverhalt die dialektische Formel von der „Surplus-Herrschaft“: als einem funktionalen Zuviel an Herrschaft und dem Gewinn, den ihre Inhaber daraus ziehen, z.B. Marcuse 1969.
7 Heute scheint diese unkritische Haltung sich von früherer NSB-Emphase in die neuere NGO-governance-Diskussion verschoben zu haben – so etwa bei Klaus Dieter Wolf, der glaubt, das Legitimationsproblem mitregierender NGO lasse sich durch den Hinweis auf deren „Reputation“ umgehen, und bei dem die hier thematisierten inneren Probleme als legitimationsbedürftig gar nicht erst auftauchen (Wolf 2002).
8 Hier ist nicht der Raum, alternative Konzepte von „Führung“ in der Bewegungstheorie zu diskutieren, z.B. das von Alain Touraine – allerdings noch auf dem Hintergrund der Klassenanalyse entwickelte – Konzept der „Berufung“, das „von der virtuellen Gegenwart des historischen Subjekts im Individuum ausgeht“, woraus sich eine Führungsrolle ergeben kann (Touraine 1974: 276f.). Genau hier zeigt sich der „moderne“ Charakter von Webers attributions- und handlungstheoretischem Ansatz, der sich vor allen Bewegungstheorien marxistischer Provenienz durch das Fehlen jeglicher Geschichtsmetaphysik auszeichnet und der im Unterschied zu einigen neueren Ansätzen der Bewegungstheorie ohne Evolutionsannahmen auskommt.
9 „Was Dutschke als „totale Personalisierung“ durch die bürgerlichen Massenmedien anprangerte, beschrieb eine unauflösliche Verstrickung der Bewegung insgesamt“ (Koenen 2001: 36).
10 Eigentümlich selbstverständlich bürgerte sich auch der Begriff „Studentenführer“ oder „Führer der Studentenbewegung“ oder „APO-Führer“ (z.B. Rudi Dutschke) ein, zuerst wohl durch die Medien, schließlich aber auch in den Bewegungskontexten (man denke an Petra Kelly) selbst und sogar in der sozialwissenschaftlichen Literatur. Dabei taucht das Adjektiv „charismatisch“ nicht selten als Personenkennzeichen auf, ohne dass die hier diskutierten Fragen gestellt würden; im Zusammhang mit der heutigen attac könnte man angesichts der globalen Präsenz einiger Personen geradezu von „Starrummel“ sprechen, der sicherlich auch eine ökonomische Relevanz besitzt.
11 Man denke an die Art, wie Joschka Fischer bis heute in seiner Partei erfolgreich ‚herrscht‘, ohne die entsprechenden Ämter inne zu haben.
12 Natürlich waren in der Friedensbewegung alle für den Frieden engagiert – aber ob sich die nächste Großdemonstration nur gegen die amerikanischen Pershing II oder auch zugleich gegen die sowjetischen SS-20 richten sollte, das war doch manchmal in sehr kleinen Kreisen auszuhandeln.
13 Roland Roth kommt das Verdienst zu, mit diesen Begriffen die „Gegeninstitutionalisierungen“ der von einigen immer noch nur als „bewegt“ begriffenen NSB zum Thema gemacht zu haben – allerdings findet sich in dem ganzen Buch nicht ein Hinweis darauf, dass sich in den Strukturbildungen der „Demokratie von unten“ wiederum die klassischen Demokratiefragen stellen lassen: Roth 1994.
14 Nach meinen persönlichen Erfahrungen stammen nicht wenige der älteren Engagierten in NSB aus früheren Kontexten der demokratischen und sozialistischen Jugendbewegung.
15 Man denke an die Rolle Daniel Cohn-Bendits im Pariser Mai 1968 – und das Reputationskapital, das sich für ihn daraus (bis heute?) ergab; vgl. Gilcher-Holtey 1995.
16 Hier finden Überlegungen in der Weber-Literatur ihren Ansatz, die die auf personalen Verhältnissen beruhenden charismatischen Herrschaftsbeziehungen wie zum Beispiel in NSB im Gegensatz zur modernisierungsbedingten „Rationalisierung“ aller Lebensverhältnisse und der Politik sehen, die sich in formalisierten Prozeduren niederschlägt; siehe dazu Breuer 1994: 144ff.
17 Für die K-Gruppen gibt es Ansätze dazu bei Koenen 2001, die zeigen welche Ressourcen in politischen Gruppen und Bewegungen zeitweise mobilisiert werden konnten – und welche Vermögensbestände bei ihrem politischen Niedergang übrig bleiben. Ähnliche Ausmaße wird man in den viel informelleren Strukturen der meisten NSB und ihrer Bewegungsorganisationen allerdings nicht erwarten dürfen.
Literatur
Alemann, Ulrich von/Heinze, Rolf G. (Hgg.) 1979: Verbände und Staat, Opladen
Breuer, Stefan 1994: Bürokratie und Charisma, Darmstadt
Gilcher-Holtey, Ingrid 1995: Die Phantasie an die Macht, Frankfurt/Main
Greven, Michael Th. 2000: Die Beteiligung von Nicht-Regierungs-Organisationen als Symptom wach-
sender Informationalisierung des Regierens; in: vorgänge 151 (Heft 3/2000 — September), S. 3-12
Greven, Michael Th. 1988: Zur Kritik der Bewegungswissenschaft; in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 4/1988, S. 51-60
Hilger, Dietrich 1982: Die Substitution von ‚Herrschaft‘ durch ‚Führung‘: in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart, S. 94-98
Hondrich, Karl Otto 1973: Theorie der Herrschaft, Frankfurt/Main
Koenen, Gerd 2001: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln
Lohmar, Ukrich 1963: Innerparteiliche Demokratie, Stuttgart
Luhmann, Niklas 2002: Organisation und Entscheidung, Opladen
Marcuse, Herbert 1969: Versuch über die Befreiung, Frankfurt/Main
Raschke, Joachim 1985: Soziale Bewegungen, Frankfurt/Main u. New York
Roth, Roland 1994: Demokratie von unten, Köln
Touraine, Alain 1974: Soziologie als Handlungswissenschaft, Darmstadt/Neuwied
Touraine, Alain 1976: Soziale Identität und soziale Bewegung; in: Ders.: Was nützt die Soziologie?, Frankfurt/Main, S. 176-207
Weber, Max 1972 [1921/22]: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Ausg., Tübingen
Wolf, Klaus Dieter 2002: Zivilgesellschaftliche Selbstregulierung: ein Ausweg aus dem Dilemma des internationalen Regierens?; in: Jachtenfuchs, Markus/Knodt, Michéle (Hgg.): Regieren in internationalen Institutionen, Opladen, S. 183-214