Editorial
,,Wir brauchen einen großen charismatischen Internationalisten“ – Richard Rorty, Philosoph in Stanford, zielte mit diesem transatlantischen Hilferuf jüngst im Merkur auf einen Europäer: Joschka Fischer. Dieser solle die EU einen, den USA zeigen, dass nicht alles nach ihrem Willen geschehe und gleich noch „eine gewaltige Initiative zur Rettung und Befreiung der armen Länder anführen, mit der die reichen Länder auch ihre eigene Haut retten.“ Bemerkenswert an diesen Sätzen ist nicht in erster Linie deren unfreiwillige Komik, sondern vor allem das Engagement, mit der einer der wichtigsten linken Intellektuellen Amerikas seine Zeitgenossen aufrütteln wollte – und dazu einen starken Mann herbeisehnte. Zwei Fragen drängen sich auf: Braucht eine Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät, einen charismatischen Führer, als letzten Ausweg sozusagen? Und was ist eigentlich gemeint, wenn von Politikern „mehr Charisma“ eingefordert wird?
Der Begriff ,,Charisma“ changiert zwischen Alltagssprache und strenger Herrschaftssoziologie. Eine feststehende Bedeutung hat er nicht. Festzuhalten bleibt aber, dass Charisma eher ein soziales Beziehungsgeflecht als die individuellen Eigenschaften einer Person umschreibt: Man ,,hat“ kein Charisma, sondern erlangt es erst im Verhältnis zu anderen und in bestimmten Situationen. Von Max Weber wurde der Begriff Anfang des letzten Jahrhunderts für die modernen Sozialwissenschaften aus der Theologie adaptiert; Erfahrungen aus dem militärischen Bereich prägten ihn ebenfalls. Bis heute sind Propheten und Feldherren die prototypischen Charismatiker. In jüngster Zeit versuchte vor allem die nach wie vor prosperierende Weber-Forschung den Terminus neu zu beleben. Die vorgänge wollen, daran anknüpfend, die Bedeutung von Charisma für die Gegenwarts-Gesellschaften analysieren – unter Einschluss des Phänomens der Medien-Charismatiker. Dabei verfolgen die Autoren verschiedene Zugänge: Manche wählen eher die strenge herrschaftssoziologische Betrachtung, andere die Form des historischen Porträts. Diese Bandbreite ist durchaus beabsichtigt, kann man doch so der Tatsache Rechnung tragen, dass sich das unscharfe und assoziative Moment des Charisma-Begriffs ohnehin niemals wirklich präzise fassen lässt.
Zu unseren Beiträgen: Michael Th. Greven, Politikwissenschaftler in Hamburg, leistet mit seinem Aufsatz Pionierarbeit. Er stellt, nicht zuletzt aus eigener Anschauung, die kritische Frage nach charismatischen Strukturen in den Neuen Sozialen Bewegungen und den damit einhergehenden demokratietheoretischen Problemen. Der Berliner Historiker Wolther von Kieseritzky widmet sich dem – neben Rudi Dutschke – vielleicht wichtigsten Charismatiker der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Rede ist natürlich von Willy Brandt. Warum Charisma immer bei Weber nachschlagen, wenn man es doch bei Thatcher leibhaftig studieren kann?, fragt sich Dominik Geppert. Unser Autor vergleicht den mitunter charismatischen Kanzler Schröder mit der stets charismatischen Eisernen Lady und kommt zu dem Schluss, dass Charme, Eloquenz und die Fähigkeit, dem Wahlvolk ‚aufs Maul zu schauen‘ allein noch keinen charismatischen Politiker abgeben – zumindest eine Handtasche gehört noch dazu. Lothar Probst beschäftigt sich eingehend mit der von Jörg Haider ausgehenden Wirkung auf bestimmte Wählerschichten und analysiert, wie dieser rechtspopulistische Politiker es über Jahrzehnte verstanden hat, sein Charisma über die Niederungen des politischen Alltags hinweg zu retten. Werner Dieball, Politikwissenschaftler in Münster, untersucht in seinem Beitrag die Körpersprache der Spitzenpolitiker Schröder und Stoiber. Ihn leitet dabei die Frage, inwieweit nonverbale Ausdrucksformen Rückschlüsse auf das Charisma der Personen zulassen. Wahied Wandat-Hagh wendet den Weberschen Charisma-Begriff auf die Herrschaft der Islamisten im Iran an und gelangt so zu neuen Einblicken in die Natur des Regimes. Der finnische Soziologe Kari Palonen dringt indes tief in die Weberschen Original-Texte ein und belegt, wie stark der Herrschaftsbegriff bei diesem von der Macht der Rhetorik abhängt – und weshalb darin auch ein Stück Freiheit liegen kann. Ein Literaturbericht schließt wie immer den Thementeil des Heftes ab.
Unser Essay unterzieht die zur Zeit laut tönende Familienrhetorik einer eingehenden Kritik: Mechtild Jansen fragt nach den gesellschaftlich-ideologischen Hintergründen des Geredes von der „heiligen Familie“ und postuliert ihrerseits Ziele einer neuen Familienpolitik.
In den Kommentaren und Kolumnen schreiben: Christoph Butterwegge über den Extremismus der Mitte, Walter Beltz über den Umgang der US-Amerikaner mit der muslimischen Minderheit im eigenen Land und Götz-Dietrich Opitz über das Ringen um die Abschaffung der Todesstrafe in den USA. Benjamin Hoff und Florian von Alemann analysieren die Veränderungen im französischen Parteiensystem nach den diesjährigen Wahlen. Unser Prager Korrespondent Tomás Kafka reflektiert, was es bedeutet, Jude zu sein und Hans Lisken schreibt über Grundrechte und Globalisierung. Es folgen die Buchbesprechungen.
Noch etwas in eigener Sache: die vorgänge trauern um ihren Gründungsverleger Gerhard Szczesny. Einen Nachruf finden Sie am Ende der Kommentare und Kolumnen.
Erkenntnisreiche Lektüre wünschen wie immer
Thymian Bussemer und Alexander Cammann