Der Terror und die Todesstrafe in den USA: Nach dem 11. September geraten die Gegner in die Defensive
Seit der Wiederzulassung der Todesstrafe in den USA durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs im Jahre 1976 zeichnet sich eine unverkennbare und mehr als beunruhigende Entwicklung ab: Die öffentliche Befürwortung der finalen Höchststrafe nimmt tendenziell zu. Gerade nach dem 11. September 2001 ist hier ein Quantensprung zu verzeichnen. Vor allem aber gibt es einen starken Trend dahin, die Verhängung der Todesstrafe gegen Terroristen gut zu heißen. Bereits 1994 hatte der Kongress den Anwendungsbereich der Todesstrafe, die auf Bundesebene 1988 per Gesetzesbeschluss wiedereingeführt worden war, auf sechzig Delikte ausgedehnt. Und 1996 unterzeichnete Präsident Bill Clinton den Anti-Terrorism and Effective Death Penalty Act, der die Möglichkeit von Revisionsverfahren drastisch einschränkt.
Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Verurteilung und Hinrichtung des uneinsichtigen „Oklahoma City Bomber“ Timothy McVeigh, doch ist abzusehen, dass das neu geschaffene rechtliche Instrumentarium bald auch auf andere Terroristen angewandt werden wird. McVeigh wurde im Juni 2001 hingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt galt sein 168 Menschenleben forderndes Attentat noch als der „tödlichste terroristische Akt auf US-amerikanischem Boden“. Dann kam der 11. September mit seinen ungleich fataleren Folgen.
Präsident Bush rief den weltumspannenden „Krieg gegen den Terror“ aus. Er tat dies mit manichäischer Gewissheit und zivilreligiösem Anspruch als Führer einer „freien, zivilisierten“ Welt. Bushs Popularität muss als einzigartig bezeichnet werden: Nur Franklin D. Roosevelt und Harry S. Truman erhielten in Meinungsumfragen vergleichbar große Zustimmung über einen längeren Zeitraum. Gegenwärtig billigen 63 Prozent der Befragten die Amtsführung des Präsidenten.
Die aus US-amerikanischer Sicht epochalen Ereignisse des 11. September konnten nicht ohne Einfluss auf die Diskussion um die Todesstrafe bleiben. Der beispiellose kollektive Schock ließ die USA schmerzlich spüren, wie sehr ihre nationale Sicherheit verwundbar ist.
Todesstrafe und transatlantische Terrorallianz
Grundsätzlich ist die öffentliche Zustimmung für die Todesstrafe wegen Hochverrats gerade in Kriegs- und Krisenzeiten sehr hoch – so wie 1942, ein Jahr nach Pearl Harbor, als die Rate bei 85 Prozent lag. Auch in dem „Kreuzzug“, den Amerika seit dem 11. September gegen seine Feinde führt, stehen die Prinzipien des „due process“, der gerechten und rechtsstaatlichen Prozessführung, unter Kriegsvorbehalt. Über 1.200 verdächtige Ausländer meist arabischer Herkunft wurden ohne Anklage oder Haftbefehl „für eine angemessene Zeit“ in Haft genommen, weil Justizminister John Ashcroft glaubte, „eine Gefahr für die Sicherheit der Nation“ zu erkennen. Von ihnen sollen sich heute noch immer 81 Personen in staatlichem Gewahrsam befinden. Mit den eiligst verabschiedeten Anti-Terror-Maßnahmen wurden zentrale Artikel der Magna Charta von 1215 und der Habeas Corpus-Akte von 1640 über Bord geworfen – nicht nur in den USA. Die nationale Sicherheitsdoktrin dient auch zur Rechtfertigung von Plänen geheimer Militärtribunale. Bushs entsprechender Exekutiverlass vom November 2001, der unter öffentlichem Druck allerdings abgemildert wurde – so müssen nunmehr Todesurteile immerhin einstimmig gefasst werden -, missachtet elementare rechtsstaatliche Grundprinzipien.
Am 12. Dezember 2001 erhob die US-Regierung Anklage gegen Zacarias Moussaoui, den mutmaßlichen zwanzigsten Terroristen des 11. September. Vier der sechs Anklagepunkte, die nur mit Indizien untermauert sind und lediglich den Straftatbestand einer „Verschwörung“ erfüllen, gelten als todeswürdig. Nach anhaltender Kritik und entgegen der ursprünglichen Absicht wird nun Moussaoui vor einem Zivilgericht der Prozess gemacht. Anstelle des Bundesgerichts von New York wählte das Justizministerium das Eastern District Court of Virginia als Verhandlungsort aus. Es ist bekannt dafür, Todesurteile häufiger auszusprechen. Moussaoui, französischer Staatsbürger marokkanischer Abstammung, lehnte jegliche konsularische Betreuung ab. Dennoch erklärte das französische Außenministerium, Paris würde darauf hinwirken, dass ein etwaiges Todesurteil gegen Moussaoui nicht vollstreckt wird. Es tat dies unter Hinweis auf die grundsätzlich ablehnende Haltung Frankreichs gegenüber der Todesstrafe. Das sechste Protokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1983, an die Frankreich gebunden ist, fordert die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Die französische Regierung drohte Ende Mai damit, im Fall Moussaoui ihre Kooperation mit den USA aufzukündigen, als das US-Justizministerium ankündigte, für die Höchststrafe zu plädieren. Die Verhandlung ist wider Erwarten auf den 6. Januar 2003 verschoben worden. Der Aufschub soll es der Verteidigung erlauben, über 1.300 Disketten voller Beweismaterial zu studieren.
Die Ablehnung der Todesstrafe hat im Wertekatalog Europas ihren festen Platz. So hat es auch die spanische Regierung im November 2001 verweigert, acht Männer an die USA auszuliefern, wenn nicht sicher gestellt sei, dass sie sich vor Zivilgerichten verantworten können. Die Männer wurden von einem spanischen Untersuchungsrichter der Mittäterschaft an den Terroranschlägen bezichtigt. Die transatlantische Anti-Terror-Allianz hat auch auf dem Feld der Todesstrafe erste Risse bekommen.
Gemessen wird mit zweierlei Maß
Die US-amerikanische Öffentlichkeit reagierte auf die Erosion bürgerlicher Freiheiten und rechtsstaatlicher Prinzipien gespalten. Einem NYT/CBS News Poll vom Dezember 2001 zufolge machen die Amerikaner einen Unterschied zwischen gewöhnlichen Verbrechen und Terrorismus sowie zwischen US-Bürgern und Ausländern. Im Allgemeinen sind sie gewillt, ihrer Regierung weitgehend freie Hand bei der strafrechtlichen Behandlung verdächtiger Ausländer zu geben. Fast 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Administrativhaft gegen Verdächtige, über 70 Prozent das Abhören von Gesprächen zwischen inhaftierten Terroristen und ihren Rechtsanwälten, 64 Prozent befürworten die Einschränkung von Grundrechten in Kriegszeiten und 40 Prozent die Einrichtung geheim tagender Militärtribunale. Auf der anderen Seite haben 65 Prozent der Befragten Sorge, ihre eigenen Bürgerrechte einzubüßen.
Diese auf uramerikanische Art und Weise zu verteidigen, ist ihnen offenbar viel Wert: Statistiken des FBI und anderer Quellen zeigen, dass die Verkaufszahlen von Handfeuerwaffen und Munition seit dem 11. September stark angestiegen sind. Dabei schafften sich viele Amerikaner zum ersten Mal eine Waffe an. Allein im Oktober 2001 wurden 1.029.691 Handfeuerwaffen verkauft. Da diese einmal in Umlauf gelangten Waffen häufig letztendlich in die Hände von Kriminellen geraten, sind Sicherheitsorgane und Waffengegner über diese Entwicklung mehr als besorgt. Ein erhöhter Umlauf von Handfeuerwaffen erhöhe die Gefahr von Gewalttaten in Familien, von Selbstmorden und von fahrlässigem Gebrauch.
Gleichzeitig ist ein weiterer Trend zu beobachten: 2001 hatten viele Großstädte in den USA im Vergleich zum Vorjahr starke Zuwächse bei Morden zu beklagen. Die Mordrate stieg bundesweit um durchschnittlich 3,1 Prozent. Experten sehen darin die ersten Anzeichen für eine Rückkehr zu wachsender Kriminalität – auch wenn die aktuelle Mordrate unter dem letzten Höchstwert von 1991 liegt. Boston und Phoenix verzeichneten Zuwächse von über 60 Prozent, wobei New York City mit einem Rückgang um 5,2 Prozent eine Ausnahme bildet. Allerdings gehört New York mit Baltimore und Washington, D.C. zu den Städten, deren Kriminalitätsraten nach dem 11. September sprunghaft anstiegen. Der Polizeichef von Washington, Charles Ramsey, sieht vor allem zwei Ursachen: den wirtschaftlichen Abschwung und die steigende Zahl von Tötungsdelikten in Familien.
Die Erfahrung zeigt, dass der Ruf nach der Todesstrafe zu Zeiten steigender Kriminalität lauter wird. Das Gefühl wachsender Unsicherheit spiegelt sich auch in Umfragedaten von Anfang September wider. Dem NYT/CBS News Poll zufolge sind immer weniger Amerikaner davon überzeugt, dass die Regierung genug tut, um terroristische Anschläge zu verhindern. Das öffentliche Klima wurde auch dadurch angeheizt, dass das Justizministerium bestimmte Berufsgruppen dazu aufrief, „verdächtige“ Personen an die Behörden zu melden. Nicht zufällig stieg die öffentliche Zustimmung zur Todesstrafe nach dem 11. September wieder an, im Mai 2002 laut Gallup auf 72 Prozent – das ist der höchste Wert seit Mai 1995. Mehrere Einzelstaaten reagierten auf den Stimmungsumschwung mit der Einführung der Todesstrafe für terroristische Verbrechen. Auffällig ist auch, dass sich die Kritik an der Todesstrafe, die in den letzten Jahren geäußert wurde, lediglich auf deren vielfach fehlerhafte Ausführung, nicht aber auf die Institution als solche bezieht.
Die Erfolge der abolitionistischen Bewegung
Paradoxerweise hatte die abolitionistische Bewegung in den letzten Jahren – und auch noch nach dem 11. September 2001 – beachtliche Erfolge zu verzeichnen. Unermüdlich wies sie auf systemische Mängel im Justizwesen der USA hin und forderte eine Aussetzung der Todesstrafe. Im Februar 2000 registrierte das Death Penalty Information Center eine sprunghaft wachsende Ablehnung der Todesstrafe. Einen Monat zuvor hatte der republikanische Gouverneur von Illinois, George Ryan, nach der Aufdeckung von dreizehn Justizirrtümern die Vollstreckung von Todesurteilen für zwei Jahre ausgesetzt. Ihm folgte im Mai dieses Jahres der Gouverneur von Maryland, Parris Glendening. Die von Ryan eingesetzte Untersuchungskommission legte im April ihren Abschlußbericht vor, die bisher umfassendste Studie zum System der Todesstrafe. Ihre vierzehn Mitglieder empfehlen einen Katalog von 85 Maßnahmen, um das staatlich angeordnete Töten von irrtümlich Verurteilten zu vermeiden. Ryan setzte Mitte Oktober sein beispielloses Vorhaben um, mithilfe dieses Katalogs binnen kurzer Zeit Anhörungen zu Gnadengesuchen von fast allen 158 Todeshäftlingen in Illinois abzuhalten. Sein eigener, wahlkämpfender Justizminister verklagte ihn deswegen vor Gericht, währenddessen Ryan insgeheim als möglicher Anwärter auf den Friedensnobelpreis gehandelt wird.
Lag die pauschale Zustimmung zur Todesstrafe 1994 noch bei 80 Prozent, so befürworteten 63 Prozent der Amerikaner im Jahr 2000 die Aussetzung der Todesstrafe, bis sichergestellt sei, dass sie „fair“ angewandt werde. Im Mai dieses Jahres ermittelte Gallup, dass die Zustimmung auf nur 52 Prozent sinkt, wenn als Alternative eine lebenslängliche Haftstrafe ohne Bewährung genannt wird. Im Oktober 2001 erklärte der Oberste Gerichtshof von Georgia die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl für verfassungswidrig. Zwei Monate später verfügte ein Bundesrichter in Philadelphia die Revision des Strafmasses im Fall von Mumia Abu-Jamal, des weltweit wohl bekanntesten Todestraktinsassen. Im August 2002 wies ein Richter die Strafverfolgungsbehörden in einem bislang einmaligen Urteil an, im Fall eines ermordeten College-Studenten nicht auf Todesstrafe zu plädieren, da die Kosten des Verfahrens für den kleinen, finanzschwachen Landkreis in Ohio zu hoch seien. Er bestätigte damit die weithin unbekannte Tatsache, dass die Gesamtkosten für die Todesstrafe im Vergleich zur lebenslangen Haft weit höher sind.
Im Jahr 2001 verboten fünf Bundesstaaten die Exekution geistig Zurückgebliebener, und siebzehn Staaten ermöglichten die Durchführung von „post-conviction DNA testings“, ließen nun also Gentests auch nach rechtskräftigen Verurteilungen zu. Der Senat und das Repräsentantenhaus begannen Mitte Juni 2002 Anhörungen zum Innocence Protection Act, der Justizirrtümer vermeiden soll. Eddie Joe Lloyd, wegen Vergewaltigung und Ermordung einer 16-Jährigen verurteilt, ist der 110. Todeskandidat in Amerika, dessen Unschuld im August aufgrund einer DNS-Analyse bewiesen werden konnte. Ein Bundesrichter in Manhattan urteilte bereits Anfang Juli 2002, dass die Todesstrafe auf Bundesebene verfassungswidrig sei angesichts der wachsenden Zahl nachträglicher Freisprüche aufgrund genetischen Beweismaterials.
Die jüngsten Urteile des Obersten Gerichtshofs
Dass es in der öffentlichen Debatte nicht um die Abschaffung der Todesstrafe als solche, wohl aber um deren Reform geht, zeigt auch eines der jüngsten Urteile des Obersten Gerichtshofs, das am 20. Juni dieses Jahres verkündet wurde. Im Fall „Atkins versus Virginia“ wird die Hinrichtung geistig Behinderter für verfassungswidrig erklärt – ein Verbot, das sich auf das Schicksal von mehr als zweihundert der insgesamt etwa 3.700 Gefangenen auswirken könnte, denen zur Zeit in den USA die Todesstrafe droht. Aufschlussreich ist die Urteilsbegründung. Diese macht in der Frage einen „nationalen Konsens“ aus und verweist auf die Tatsache, dass seit 1989, als das Gericht im Fall „Penry versus Lynaugh“ die Hinrichtung geistig Behinderter noch zuließ, mittlerweile 18 der 38 Bundesstaaten, welche die Todesstrafe praktizieren, derartige Exekutionen verbieten. Darüber hinaus hätten weitere Bundesstaaten ihre Vollstreckung de facto ausgesetzt. Unbestritten sei auch die Auffassung, dass die Auslegung des 8. Verfassungszusatzes, dem Prinzip der „sich entwickelnden Maßstäbe der Sittlichkeit“ folgend, von den derzeit gültigen Gesellschaftsnormen abhänge. Laut einer Meinungsumfrage von Gallup sind 82 Prozent der Amerikaner gegen die Hinrichtung geistig Behinderter. Nicht frei war das Gericht sicherlich auch von internationalen Einflüssen: für die Umwandlung des Todesurteils von Atkins hatten sich auch die fünfzehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eingesetzt. Sie gaben zu bedenken, dass die Hinrichtung geistig Behinderter weltweit kaum noch praktiziert werde. Nach 1995 sind amnesty international zufolge nur noch in Kirgistan und in Japan geistig Behinderte hingerichtet worden.
Beim zweiten bedeutsamen Urteil des Obersten Gerichtshofs, dem Fall „Ring versus Arizona“, das am 24. Juni verkündet wurde, spielte die Weltmeinung keine Rolle. Hier ging es um die verfassungsrechtliche Frage, ob der Richter oder die Geschworenen die letztendliche Entscheidungsgewalt über die Verhängung der Höchststrafe haben. Eine Mehrheit von neun Richtern verhalf dem Prinzip des „trial by jury“ aus dem 6. Verfassungszusatz zu neuer Geltung und vertrat die von Richterin Ruth Bader Ginsburg vorgetragene Meinung, dass die Geschworenen das letzte Wort haben müssten. Das Urteil betrifft nahezu 800 Todestraktinsassen in neun Staaten, deren Todesurteile in nicht wenigen Fällen vermutlich neu verhandelt werden müssen. Das Ring-Urteil verursachte in einigen Bundesstaaten Verwirrung, da es mehr Fragen aufwarf als es beantwortete. Ein Gericht in Florida zum Beispiel, wo die Mehrzahl der betroffenen Inhaftierten lebt, erklärte deshalb das dort gültige Todesstrafen-Statut, das Mehrheitsentscheidungen der Geschworenen zulässt, vorsorglich für verfassungsgemäss. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ging von der grundsätzlichen Gültigkeit der Todesstrafe in den USA aus und betonte die Verfassungsmäßigkeit entsprechender Gesetze in den 29 Bundesstaaten, deren Rechtspraxis bereits mit dem Urteil konform ist.
Anhaltender Reformwille?
Die Todesstrafengegner in den USA werden an der grundsätzlichen bejahenden Haltung der Obersten Richter wohl kaum etwas ändern können. Der Oberste Richter Antonin Scalia jedenfalls befürwortet nach eigenem Bekunden die Höchststrafe aus religiös-moralischen Motiven, womit er sein Land im Gegensatz zum „postchristlichen Europa“ sieht. Trotzdem gibt es Anzeichen für einen weiter gehenden Reformwillen im obersten Richter-Kollegium. Er speist sich vor allem aus dem Einfluss der Weltmeinung, die die Hinrichtung minderjähriger Deliquenten ablehnt. Derzeit sitzen in den USA achtzig Menschen in den Todeszellen ein, die zur Tatzeit 16 oder 17 Jahre alt waren. Die USA gehören neben Iran, Pakistan, Nigeria, und Saudi-Arabien zu den insgesamt fünf Staaten weltweit, die Jugendliche Täter zum Tode verurteilen.
Der Oberste Gerichtshof entschied 1989 im Fall „Stanford versus Kentucky“, dass die Exekution von Minderjährigen mit der Verfassung vereinbar sei, auch wenn internationale Menschenrechtsstandards das Mindestalter bei 18 Jahren ansetzen. Es gilt als wahrscheinlich, dass sich der Oberste Gerichtshof in naher Zukunft erneut mit dieser Frage befassen muss. Wie er dann entscheiden wird, ist offen.
Denn die Entwicklungen in den USA nach dem 11. September 2001, die vor allem dadurch gekennzeichnet sind, dass sich eine traumatisierte Nation im Krieg wähnt, könnten für die Gegner der Todesstrafe erhebliche Rückschläge zur Folge haben. Die größte Gefahr besteht wohl darin, dass die praktizierte Unterscheidung zwischen „gewöhnlichen“ Verbrechen und Terrorismus, zwischen US-Bürgern und Ausländern, die sich nach den Terroranschlägen durchgesetzt hat, verwischt wird. Der rechtliche Ausnahmezustand für die letztgenannte Gruppe könnte dann nach und nach zur normalen Praxis für die erstere werden. Fakt ist, dass mittlerweile auch die ersten US-Staatsbürger wie Terroristen angeklagt werden. Dies gilt etwa für den Muslim lateinamerikanischer Abstammung Abdullah al-Muhadschir (alias Jose Padilla), der am 8. Mai 2002 in Chicago verhaftet wurde und verdächtigt wird, an der Planung eines Terroranschlags beteiligt gewesen zu sein oder für John Walker Lindh und Yasser Esam Hamdi, die in Afghanistan gefangen genommen wurden. Das Justizministerium verweigerte Hamdi das Grundrecht, mit einem Anwalt zu sprechen, und zog in Betracht, Lindh wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung anzuklagen. Ein entsprechendes Urteil hätte eine lebenslange Freiheitsstrafe zur Folge gehabt. Wäre er des Hochverrats angeklagt worden, hätte dies die Todesstrafe bedeuten können. So weit kam es aber erst gar nicht: Das Justizministerium ließ den Terrorismus-Vorwurf in einem so genannten ,plea bargain‘ fallen. Am 4. Oktober wurde Lindh zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, noch bevor es zum eigentlichen Prozess kam. Es wird behauptet, das Justizministerium wollte peinliche Gerichtsverhandlungen vermeiden. Denn die Verteidigung habe beabsichtigt zu beweisen, dass die US-Administration Lindh nach seiner Festnahme unzureichend medizinisch versorgt und ihm Rechtsbeistand verweigert habe. Der als ,enemy combatan‚ eingestufte Muhadschir ist der erste ,Qaeda American‘, der in den USA festgenommen wurde. Muhadschir wird in einem Militärgefängnis in South Carolina als „wichtiger Zeuge“ auf unbestimmte Zeit festgehalten, ohne eines konkreten Verbrechens angeklagt zu sein. Auch er darf keinen Anwalt zu Rate ziehen oder mit einem zügigen offenen Gerichtsverfahren rechnen.
Einen neuen Aspekt brachte Nicholas D. Kristof mit einem Artikel in der New York Times in die Debatte. Er bemerkte unter Anspielung auf McVeigh, dass „wir uns auf der Suche nach muslimischen Terroristen im Dschungel der Philippinen von unseren eigenen Stereotypen leiten lassen, […] während wir vergessen, dass es auch verrückte, blonde und blauäugige Bombenattentäter gibt“, die in der ,militia movement‚ von Michigan, Missouri und Kalifornien ihr Unwesen treiben. In Montana hätte er gehört, dass der Angriff auf das Welthandelszentrum von der Bundesregierung in Washington inszeniert worden sei, um einen Vorwand für die Aussetzung der ,Bill of Rights‚ zu haben. Und William Safire stellte die Frage, ob der mysteriöse Heckenschütze, der im Oktober – genau ein Jahr nach den Milzbrand-Briefsendungen – im Großraum Washington die paranoische Angstkultur auf die Spitze trieb, nicht genau so gut ein mit Al Qaida verbandelter Terrorist sein könnte. Am 25. Oktober wurde John Allen Muhammed, der 41-jährige Golfkriegsveteran, und sein 17-jähriger Komplize John Lee Malvo als die mutmaßlichen Serientäter gefasst. Ihnen droht nun die Todesstrafe.
Die New York Times stellte Mitte Juni mit Blick auf Muhadschir besorgt fest: „Die Regierung ist bereit, nicht nur Ausländern, sondern auch US-Staatsbürgern die Rechte zu entziehen“. Es bleibt abzuwarten, ob sich in Zeiten des Super-Patriotismus viele Amerikaner dieser Sorge um den schleichenden Verfall bürgerlicher Rechte anschließen werden. Zumindest auf dem Gebiet der Todesstrafe sind Zweifel angebracht. Die Verhaftung US-amerikanischer Staatsbürger im Rahmen der Terrorismusbekämpfung könnte der Ausgangspunkt dafür sein, dass sich die derzeitigen Parallelentwicklungen inkrementaler Reformen in punkto Todesstrafe einerseits bei gleichzeitigen, vermehrt nach innen gerichteten Bedrohungsängsten andererseits in Zukunft kreuzen und überschneiden. Diese Renationalisierung des Terrors würde vermutlich zu Ungunsten der ersteren Entwicklung verlaufen.
Aussetzung und Wiederzulassung der Todesstrafe
Das in den USA vorherrschende voluntaristische Demokratieverständnis, bei dem die Einbindung der Bürger in Entscheidungsprozesse – z.B. in Form des Geschworenengerichts – sehr ausgeprägt ist, kennt im Vergleich zu Europa mehr partizipatorische Elemente und ist stärker an öffentlicher Zustimmung ausgerichtet. So spielte die öffentliche Meinung im Zusammenhang mit dem Rechtsgrundsatz der „sich entwickelnden Maßstäbe der Sittlichkeit“ bereits in den 1970er Jahren eine entscheidende Rolle. Damals äußerten sich die Obersten Richter in zwei Grundsatzurteilen zur Todesstrafe. Diese fielen allerdings sehr unterschiedlich aus. Im Berufungsverfahren „Furman versus Georgia“ wandelte das Gericht vor dreißig Jahren, am 29. Juni 1972, die Todesurteile von mehr als sechshundert rechtskräftig verurteilten Schwerverbrecher in lebenslängliche Haftstrafen um. Eine Mehrheit von nur fünf Richtern war zu der Einsicht gelangt, dass der Vollzug der Todesstrafe nicht mit der US-Verfassung vereinbar sei. Das Gericht ließ aber die Todesstrafe in seinem Urteil zu „Gregg v. Georgia“, das am 2. Juli 1976 verkündet wurde, wieder zu, nachdem die betroffenen Bundesstaaten ihre Gesetzesstatuten in seinem Sinne revidiert hatten.
Die klageführenden Rechtsanwälte des Legal Defense Fund (LDF) der schwarzen Bürgerrechtsorganisation NAACP und der American Civil Liberties Union (ACLU) waren damals von beiden Urteilen gleichermaßen überrascht. Die Organisationen wollten mit ihrer Moratoriums-Strategie demonstrieren, dass man auf das Abschreckungspotenzial der Todesstrafe verzichten könne. Hatten Abolitionisten bisher versucht, die Todesstrafe als solche über entsprechende Parlamentsbeschlüsse zu beseitigen, bemühte man sich in den 1960er Jahren, die Todesstrafe auf dem Rechtsweg indirekt zu Fall zu bringen. Beide Organisationen griffen daher in ihrer „Rechtsstreits-Kampagne“ zentrale Bestimmungen der Strafprozessordnung an.
In dem verfassungsrechtlichen Streit berief sich der Anwalt der ACLU, der Todesstrafen-Experte Anthony Amsterdam, erstmals 1969 auf den vom Obersten Richter Arthur Goldberg sechs Jahre zuvor geprägten Rechtsgrundsatz der „sich entwickelnden Maßstäbe der Sittlichkeit“. Amsterdam stellte fest, dass die Todesstrafe gegen diese verstoße, weswegen sie als „grausame und ungewöhnliche Strafe“ zu gelten hätte, die der 8. Artikel im Grundrechtskatalog der US-Verfassung verbietet. Man kritisierte die von Willkür geprägte Todesstrafenpraxis, die rassistischen Urteilsmuster in Prozessen schwarzer Vergewaltiger im Süden der USA, den mangelhaften Rechtsbeistand insbesondere für sozial schwache Angeklagte und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass angesichts der gravierenden Verfahrensmängel Unschuldige unwiderruflich zu Tode kommen.
Der Oberste Gerichtshof gab in seinem knappen Urteil von 1972 den Klägern Recht. Vier Jahre später jedoch, 1976, gelangte er zu der Auffassung, dass die Reform der Strafprozessordnung der vergangenen Jahre nunmehr ausreichende Rechtssicherheit garantieren könnte. Entsprechend ließ er die Todesstrafe wieder zu. In der Einführung verfahrensrechtlicher Vorkehrungen berief sich das Gericht auf das vom LDF geprägte Prinzip ,death is different‘ und machte eine Reihe von Auflagen für Todesstrafenverfahren. So schrieb es die separate Berücksichtigung erschwerender und mildernder Umstände vor, es erschwerte den Ausschluss von Geschworenen mit Skrupeln gegenüber der Todesstrafe (,death qualification‘), es verfügte, Schuldfrage und Strafmaß voneinander getrennt zu ermitteln, und es formalisierte die Entscheidungsrichtlinien für die Verhängung von Todesurteilen. Todeskandidaten erhielten Zugang zu einem gesonderten, mehrere Berufungsinstanzen umfassenden Rechtsmittelverfahren. Dennoch stieg die Zahl der Exekutionen über die Jahrzehnte allmählich wieder steil an.
Wie konnte es von der Aussetzung der Todesstrafe zu ihrer Wiederzulassung kommen? Eine zentrale Rolle spielt hier die Tatsache, dass die Obersten Richter 1976 das Prinzip der „sich entwickelnden Maßstäbe der Sittlichkeit“ aufgriffen. Sie waren der Ansicht, dass demoskopische Umfragen zeigen könnten, ob sich das zivilisatorische Wertgefüge der amerikanischen Nation verändert habe. Und Meinungsumfragen, die die Einstellung der Öffentlichkeit in der Frage der Todesstrafe ermittelten, ergaben Mitte der 1970er Jahre eine gewachsene Zustimmung zu ihrer Verhängung. Wurde noch 1966 mit nur 47 Prozent der niedrigste Wert der Zustimmung ermittelt, der je in den USA gemessen wurde, befürworteten 1973 bereits 63 Prozent der Befragten die Todesstrafe. Die Obersten Richter, die sich offenbar an ,vox populi‚ anlehnen wollten, konnten sich in ihrem Urteil auf diese Daten stützen. Warum aber dieser Stimmungswandel, deutete doch der globale Trend gegen die Todesstrafe, der sich nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor allem von Europa aus durchsetzte, eher auf ihre totale Abschaffung denn auf ihre Wiederzulassung hin?
Entscheidend in dieser Hinsicht ist, dass der LDF Teil der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre war, in der eine junge Generation schwarzer Aktivisten um politische und rechtliche Gleichstellung kämpfte. Die weiße Bevölkerung reagierte auf die gewalttätigen Rassenunruhen gegen Ende des Jahrzehnts mit zunehmender Besorgnis. In diesem aufgeheizten Klima kam das bereits in der Kolonialzeit entstandene Vorurteil, dass Kriminalität mit schwarzer Sexualität und sozialer Rebellion in Verbindung bringt, erneut zum Tragen. Damit wurde nicht nur puritanisches Gedankengut wieder hervorgeholt, sondern auch die traditionelle Wertschätzung des Vergeltungsgedankens (,lex talionis‘) wiederbelebt. Letztere erfuhr gerade durch die konservativ-religiöse Reagan-Revolution eine neue Konjunktur.
Ebenso trug die traditionelle Assoziation von Verbrechen mit fremdartigen Ausländern zum Stimmungswandel bei, fiel doch die Diskussion in einen Zeitraum, in dem die Einwanderung aus Drittweltstaaten stark zunahm. Die angeblich humanitäre Hinrichtungsmethode der tödlichen Giftspritze, deren Einführung sich am 7. Dezember 2002 zum 20. Mal jährte, half dabei, den öffentlichen Widerstand gegen die Todesstrafe teilweise zu brechen.
Samuel P. Huntington zufolge ist die US-amerikanische Politik zur „Verheißung von Disharmonie“ verdammt. Sie entstehe im ständigen Reibungskonflikt zwischen der Realität staatlicher Institutionen und dem nationalen Glaubensbekenntnis, in dessen Zentrum die liberalen, machtkritischen Ideale der Revolution stehen. Diese öffentlichen Unmut schürende Kluft zwischen Ideal und Institution führte in der US-Geschichte zu vier Phasen intensiver gesellschaftspolitischer Reformen. Diese von Huntington „Creedal Passion Periods“ genannten Zeitabschnitte traten im Abstand von sechzig bis siebzig Jahren auf. Die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre – einschließlich der Aktivitäten gegen die Todesstrafe – war die bisher letzte dieser Reformphasen. An deren Ende gewannen aber stets die konservativen Kräfte größtenteils wieder die Oberhand. Wenn man der Zyklustheorie Huntingtons Glauben schenkt, kann mit der nächsten Phase noch nicht so bald gerechnet werden. In diesem Licht erscheint die unter den Bedingungen des 11. September erschwerte Debatte zur Todesstrafe in den USA höchstens als deren Vorbote. Angesichts der oben skizzierten Tatsachen müssen die Amerikaner auf ihre nächste Creedal Passion Period und damit auch auf den endgültigen Erfolg der abolitionistischen Bewegung wohl noch gut zwanzig Jahre warten.
Literatur
Amnesty International 2000: United States of America Failing the Future: Death Penalty Developments, March 1998-March 2000, London
Amnesty International (Sektionskoordinationsgruppe Kampagne gegen die Todesstrafe) 2001: Europa: Ein Kontinent ohne Todesstrafe?, Aachen
Bedau, Hugo Adam 1992: The Case Against The Death Penalty, New York
Death Penalty Information Center 2001: The Death Penalty in 2001: Year End Report, Washington, D.C.
Haines, Herbert H. 1996: Against Capital Punishment: The Anti-Death Penalty Movement in America, 1972-1994, New York u. Oxford
Huntington, Samuel P. 1981: American Politics: The Promise of Disharmony, Cambridge, Massachusetts
Masur, Louis P. 1989: Rites of Execution: Capital Punishment and the Transformation of American Culture, 1776-1865, New York
Opitz, Götz-Dietrich 2000: Zur Popularität der Todesstrafe in den USA; in: Merkur. Deutsche Zeitschrift fair europäisches Denken, 54. Jg., Heft 617/618, September 2000, S. 846-854