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Grundrechte und Globa­li­sie­rung

vorgänge16011/2024Seite 117-125

Wer die tägliche Missachtung der Menschenrechte in aller Welt verfolgt, fragt sich, ob die Grundrechte, wie wir sie verstehen, noch eine Chance haben, zu konstitutiven Bestandteilen künftiger Staatenordnungen zu werden. Auch bei uns haben sich die regierenden Mehrheiten im Laufe der Jahre immer weniger den Verfassungsvorgaben gebeugt. „Rasterfahndung“ und „Schleierfahndung“ (vgl. dazu nur LVerfG MV, LKV 2000, 149), „Schattenmann“ und „Zeugenkauf“ (vgl. Art. 63, 64 CCC von 1532), „Geheimzugriff“ und „Ausforschung“ sind nicht nur Symptome eines Verfassungswandels und eines veränderten Menschenbildes, sondern womöglich auch Folge einer heillosen Angst vor der Freiheit, wie sie Fjodor Dostojewski, Erich Fromm, Karl Jaspers, Karl Popper u.a. beschrieben haben. Können bei einem solchen Befund Worte noch helfen, wenn schon die demokratischen Institutionen zum Schutz der Grundrechte zunehmend versagen? Der israelische Schriftsteller Amos Oz schrieb kürzlich über die Menschenrechtskatastrophe im Nahen Osten: Wir ähnelten jenen, die mit Teelöffeln Wasser ins Feuer gießen. Aber wir müssten selbst solch einen Löschversuch unternehmen (Süddeutsche Zeitung vom 16. April 2002).

Die Grundrechte – in ihrer Existenz gefährdet?

Wer solch einen Vergleich wagt, provoziert die Frage, ob die Grundrechte wirklich auch bei uns schon verbrennen. Haben wir nicht eine europäische Rechtsprechung, die versucht, die Menschenrechte — wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) niedergelegt sind — europaweit zu operationalisieren? Haben wir nicht eine Europäische Grundrechtscharta formuliert, die sich an unserem ursprünglichen Grundrechtsdenken orientiert und die Chance hat, als Verfassungsrecht für die Europäische Union akzeptiert zu werden?

Das ist alles richtig und lässt hoffen, dass der Menschenrechtsgedanke hier und weltweit in Taten umgesetzt wird. Dennoch erinnert die Charta derzeit eher an den Versuch, 1848 in der Paulskirche eine alldeutsche Verfassung zu schaffen. Die Grundrechte waren auch damals bald beschlossen, aber als die Organisations-, also die Machtfrage zu beantworten war, scheiterte der ganze Versuch an den bestehenden Machtverhältnissen, also an der wirklichen Verfassung, wie sie Ferdinand Lasalle in seinem Berliner Vortrag von 1863 beschrieben hat.

Selbst in der Bundesrepublik bleiben die Grundrechtszusagen oft unerfüllt, obwohl wir sie seit 1949 als Verfassungsrecht normiert und zu Konstitutionsbedingungen des Staates erhoben haben. So haben wir 1968 Art. 10 GG geändert, um an Stelle der alliierten Abhörbefugnisse eine eigene Ausnahmebefugnis zum Abhören bei existentiellen Gemeingefahren schaffen zu können. Die Praxis der Exekutivbehörden nutzt diese Ausnahmebefugnis inzwischen längst wie eine Standardbefugnis. Und nach einem Bundesrichterbeschluss haben wir mittels dieser Befugnis sogar extra legem eine Aufenthaltssuche betrieben. Inzwischen ist sie bis Ende 2004 legalisiert (§ 100g StPO).

Wir haben mit dem „Antiterrorgesetz“ vom Januar 2002 den Nachrichtendiensten gestattet, ihre Befugnisse zur geheimen Ausforschung von Staatsgefahren im Vorfeld konkreter Gefahrenindizien in den Bereich des Vorfeldes eines potenziell strafbaren Verhaltens auszudehnen, um das so gewonnene geheimdienstliche Ausforschungsergebnis den Strafverfolgungsbehörden zuzuleiten. Das BKA bekommt also durch die Arbeitshilfe einer ganz unzuständigen Behörde im Ergebnis das, was die Bundesinnenminister schon immer wollten: eine Ausforschung im kriminogenen Milieu, sog. „Strukturermittlungen“ ohne Verdacht.

Dabei hat das Bundesverfassungsgericht noch im vorigen Jahr im Urteil über Zulässigkeit und Grenzen des „elektronischen Staubsaugens“ entschieden, dass strafrechtlich relevante Tatsachen, die der Bundesnachrichtendienst bei seiner funktelefonischen Auslandsüberwachung erfährt, nur ausnahmsweise bei schwerwiegenden Delikten wie Mord, Geiselnahme, Terrorismus usw. den Strafverfolgungsbehörden und der Polizei mitgeteilt werden dürfen und dass die geheimdienstliche Ausforschung keinesfalls primär der staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Aufgabenerfüllung dienen dürfe (BVerfGE 100, 313). Regierung und Parlament haben sich über diesen Urteilsspruch und die Verfassung hinweggesetzt (vgl. Erhard Denninger, in: StV Nr. 2/2002).

Behör­den­macht versus Rechts­s­taat­lich­keit

Im ersten Abhörurteil von 1968 (BVerfGE 30,1) hatte das Verfassungsgericht das heimliche Abhören als absolute Ausnahmebefugnis vom Öffentlichkeitsprinzip deklariert und ausdrücklich zur Bedingung gemacht, dass die so erlangten Kenntnisse auf keinen Fall zum persönlichen Nachteil der Betroffenen anderweitig genutzt werden dürften. Aber als die demagogisch gepflegte Furcht vor „Staatsfeinden“ im öffentlichen Dienst um sich griff, haben die Ministerpräsidenten zusammen mit Bundeskanzler Brandt 1972 im Extremistenerlass beschlossen, dass die Kenntnisse der Verfassungsschutzbehörden dienstrechtlich genutzt werden dürften. Danach kam es zu den verfassungswidrigen Regelanfragen. Die Behördenleiter waren willfährig. Auch die Verwaltungsgerichte spielten regierungstreu mit und am Ende gab sogar das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 39, 334) sein Placet. Nur einige Arbeitsgerichte haben sich strikt an die Verfassung gehalten. Erst als sich die politischen Ministervorgaben änderten, haben die Behörden von ihrer Praxis abgelassen. Was also nützen die Grundrechte, wenn die Amtswalter sie nicht achten? Oder sind Ministerworte stärker als die im Diensteid beschworenen Grundrechte?

Ein in der Sache unverbindlicher, aber gezielt veröffentlichter Nichtannahmebeschluss einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts (NVwZ 1995, 680) sagt dazu in einem obiter dictum wörtlich: „Die Gehorsamspflicht des Beamten, die zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehört, besteht grundsätzlich auch bei rechtswidrigen (einschließlich verfassungswidrigen) Weisungen“. Die „Funktionstüchtigkeit“ der öffentlichen Verwaltung erfordere dies. Das liest sich so, als ob der Staat des Grundgesetzes durch den unbedingten Rechtsgehorsam der Beamten zusammenbrechen könnte. Jutta Limbach hat auf dem Strafverteidigertag 1996 den weit verbreiteten Missbrauch des Begriffes der Funktionstüchtigkeit offengelegt. In Wahrheit geht es um den Versuch, einzelnen Regierungsinteressen den Vorrang vor konkreten Grundrechtsbelangen einzuräumen.

Auch unsere durch die Asylrechtsdiskussion gesteigerte Xenophobie weist uns nicht als hervorragende Protagonisten der Menschenrechte aus. Die Abschiebung von Flüchtlingen, die nicht staatlich, sondern „nur“ religiös oder ethnisch im Zuge von Bürgerkriegsereignissen verfolgt worden sind, gilt weithin als konventionswidrig (vgl. Menschenrechtserklärung der UNO 1948 und Flüchtlingskonvention 1951). Was also soll demnächst in Europa gelten? Soll das deutsche „Recht des Blutes“, wie es seit 1913 bei uns gilt, weiterhin der Maßstab sein, um zu bestimmen, wer für uns der Nächste im Recht ist? Das Verbot einer Partei mit fremdenfeindlichem Gedankengut weist und allein noch nicht als Menschenfreunde aus. Wir haben zwar den Geldfluss weltweit liberalisiert, aber die damit verbundene Mobilität der Menschen soll nicht menschenrechtlichen, sondern monetären Interessen folgen. Im Grunde wird die Freiheit, die als Grundrecht formuliert ist, von uns als Möglichkeit zum Lustgenuss und nicht zugleich als Anspruch an uns selber begriffen.

Die umkämpfte Freiheit

Thomas Mann hat in seiner Rede über Deutschland und die Deutschen 1945 in der Library of Congress in Washington auf die deutsche Fixierung auf wirtschaftliche Freiheit unter Verzicht auf innere Freiheit hingewiesen. Freiheit werde als Zeichen staatlicher Souveränität, aber eben nicht als innere Freiheit vom Staat und von sich selber verstanden. Genau in dieser Ausblendung der Chance, sich frei von eigenen Abhängigkeiten zu machen, liegt die Hauptursache für die Gefährdung der Freiheit zur Selbstbestimmung im Sinne von Art. 2 I GG.

Die Freiheit als Rechtswert interessiert weniger, solange nur die Handlungsfreiheit zur Erfüllung der eigenen Wünsche erhalten bleibt. Dabei wird — wie Alexis de Tocqueville es schon 1835 in Über die Demokratie in Amerika beschrieben hat — verkannt, dass mit der Fixierung auf die Freiheit als Mittel der Lustverschaffung die innere Versklavung anfängt. Hier beginnt — wie de Tocqueville schlüssig folgert und wie wir aus Erfahrung wissen — die Chance dessen, der die Macht über andere sucht, indem er die Sicherheit der Besitzstände verspricht, um als Herrscher gewählt zu werden.

Oft sind selbst diejenigen, die den Werte- verfall beklagen, Opfer ihres eigenen Freiheitsverzichts, falls sie keine Heuchler sind. Sie wollen beliebig schnell Auto fahren und halten das für die Freiheit des „freien Bürgers“. Was aber die Schufa macht und was die Geheimdienste und das BKA mit den Daten der Bankkunden machen können, interessiert sie nur im Fall der Selbstbetroffenheit. Bis dahin ist der Glaube an die Objektivität der Staatsgewalten ungebrochen. Gustav Radbruch hat dies die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates genannt. Im Grunde belügt der Gläubige sich selber: Denn wenn derselbe Staat wie in Schweden oder Norwegen „gläserne Portemonnaies“ einführen würde, wäre der Ruf nach mehr „Freiheit“ und „Datenschutz“ unüberhörbar und alsbald auch Wahlprogramm. Bis dahin aber wird Datenschutz weiterhin als Tatenschutz diskriminiert und nicht als Mittel zur Sicherung der persönlichen Freiheit angesehen werden. Angesichts solcher Widersprüchlichkeiten muss die Frage gestellt und beantwortet werden, welche Freiheiten und welcher Datenschutz in Europa künftig gelten sollen.

Die Sicherung der Privatsphäre wird insgesamt ein gemeinsames europäisches Thema werden, wenn die Befugnisse zum Eingriff in Grundrechtsbereiche vereinheitlicht werden sollen. Die Garantie des Privatlebens gemäß Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention mit einem Vorbehalt für die Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit lässt Raum für Eingriffsmöglichkeiten unterschiedlichster Art, soweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Postkontrolle und Telefonüberwachung sind vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als zulässig erachtet worden, auch die Nutzung von V-Mann-Informationen. Ob aber der sog. verdeckte Ermittler, also ein Beamter, der sich unter einer Legende und mit falschen Papieren nach der Wallraff-Methode das Vertrauen Verdächtiger und ihrer Umgebung erschleichen soll, um es zum Zweck der Überführung zu brechen, europa- oder gar weltweit legal und legitim sein wird, ist nicht nur eine rechtstechnische Methodenfrage, sondern letztlich eine rechtsethische Frage.

Das GG verbietet in Art. 2 Abs. I jedes private und staatliche Tun, das gegen die guten Sitten verstößt. Manche Rechtsdeuter meinen, dass dieser Normbestandteil eine sinnlose Floskel sei (vgl. Jarass/Pieroth, GG 6. Aufl. Art. 2 Rdn. 19; Murswiek, in: Sachs, GG 2. Aufl. Art. 2 Rdn. 99; Schwabe NJW 1999, 3615). Andere sehen in ihr wie in der Bezugnahme auf Gott in der Präambel den Versuch einer rechtsethischen Verankerung der Grundrechtsordnung (Podlech, AK-GG 3. Aufl. Art. 2 I Rdn. 66). Die Verweisung auf präpositive Prinzipien in einer Verfassungsurkunde zwingt also zur gemeinsamen Grenzsuche. Die Zulassung alles Nützlichen im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist kein Ausweg. Unter diesem Aspekt könnte sogar die Folter wieder als Ausnahmemethode in Betracht kommen. Einige wenige Autoren vertreten tatsächlich (wieder) solche Auffassung (so z.B. Brugger, JZ 2000, 165; ähnlich Klein schon in der 2. Aufl. und Starck in der 4. Aufl. v. von Mangoldt/- Klein/Starck, Bonner GG Art. 1 I Rdn. 71). Über das absolute nationale und internationale Folterverbot und das absolut „Unverfügbare“ im Strafprozess hat Winfried Hassemer das Nötige gesagt (FS f. Maihofer 1988: 183 ff.; ebenso Eb. Schmidt: Einführung in die Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965 §§ 74ff.). Schon Friedrich von Spee hat in seiner Cautio Criminalis von 1632 über die Unmöglichkeit der Bindung und Bändigung der Folterrichter und Folterknechte, also über die praktische und prozessuale Ungeeignetheit der Methode berichtet. Wenn es um die Normierung menschenrechtlicher Positionen in künftigen europäischen Verfahrensgesetzen geht, wird nicht nur auf die Folter und auf andere Mittel zur Beugung des Willens zu achten sein.

Bei der prozessualen Behandlung des agent provocateur hat nicht die deutsche Rechtsprechung, sondern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dafür gesorgt, dass diese Methode als Verstoß gegen das Prinzip der Verfahrensfairness gewertet wird (StV 1999, 127). Der BGH ist dem bisher halbherzig gefolgt, indem er sich einerseits der Bewertung angeschlossen, aber andererseits nur eine Strafmilderung für den Betroffenen als geboten erachtet hat (StV 1999, 631 und 2000, 57).

Wenn die Verteidiger heimlicher und hinterlistiger Eingriffsmethoden immer wieder auf ähnliche Methoden der Rechtsbrecher verweisen und „Waffengleichheit“ verlangen, verkennen sie, dass es keine Gleichheit im Unrecht geben kann und rechtsfremde Methoden nicht der Wiederherstellung des Rechts dienen können.

Auf der Suche nach dem Recht

Im Grunde geht es um die Frage, was sittlich vertretbar ist und was nicht. Der Christ kann auf die „Goldene Regel“ (Mt 7, 12; Lk 6, 31) verweisen. Der Agnostiker kann sich auf den „kategorischen Imperativ“ von Kant beziehen. Hans Küng hat in seinem Werk über das „Weltethos“ eine weltweit gültige Antwort gesucht. Letztlich kommt es im konkreten Fall immer auf uns selber an, was wir im Sinne ethischer Philosophien für „sittlich“ vertretbar halten. Insofern lebt die Grundrechtsordnung von Voraussetzungen, die sie, so Ernst-Wolfgang Böckenförde, selber nicht garantieren oder schaffen kann. Sie lebt von unserem Willen zum Recht. Adolf Arndt hat hinzugefügt, dass wir das Recht nie vorfinden, sondern suchen müssen (Arndt: Ges. jur. Schriften 1976: 12, 17, 50). Im Zweifel gilt also die Redlichkeit mehr als der Erfolg. Dieser hat aus sich keinen Rechtswert. Nur der Erfolg ist legitim, der unter den Bedingungen des Rechts, also unter den Bedingungen der Allgemeinverträglichkeit im Sinne des Nächstenrechts, erreicht wird. Denn das Recht ist seit Kain und Abel ein Surrogat für die fehlende Liebe. Wer an dieser Stelle meint, die Liebe sei als Rechtsmaßstab hier wie andernorts nur etwas für Rechtsphilosophen, wird gleichwohl die Frage beantworten müssen, welches Menschenbild für ihn und für die verfasste Gemeinschaft maßgebend sein soll, wenn es um die Definition der Menschenrechte, etwa bei der Gestaltung der Verfahrensrechte, geht. Denn die Verfahrensregeln sind die Mittel zur Operationalisierung des Rechtsgüterschutzes. Ist aber der Mensch im Sinne von Kant Selbstzweck und höchstes Rechtsgut in der Welt des irdischen Rechts, dann lassen sich zu seinem Schutz zwar viele Verfahrensmethoden denken und rechtfertigen, aber die absolute Grenze ist dann der Mensch selber; er darf nicht — auch nicht als Störer oder Rechtsbrecher — zum Verfahrensobjekt, zum Objekt der Staatsmacht werden. Dies hat das Verfassungsgericht von Anfang an so gesehen (vgl. BVerfGE 7, 198; 27, 1).

Wer diesem Grundsatz zustimmt, wird beim Erfinden und bei der Normierung von Beweisregeln und Beweismethoden — sie werden oft verkürzt auch Ermittlungsmethoden genannt — jeweils konkret die mitmenschliche Verträglichkeit prüfen müssen. Die Nützlichkeit steht unter dem Vorbehalt der inneren Autonomie des Betroffenen. Das Täuschungsverbot in den §§ 136 und 136a StPO ist der Ausdruck solchen Vorbehaltes. Dasselbe folgt aus Art. 6 der EMRK, wo das Gebot der Verfahrensfairness besonders verankert ist.

Ist es also fair, mit „V-Leuten“, mit „undercover-Agenten“, mit „Verdeckten Ermittlern“, mit „Abhörfallen“, mit „Radarfallen“, mit heimlichen Ton- und Bildaufnahmen, mit „Wanzen“ in Wohnungen zu arbeiten? Der europäische Gesetzgeber wird genau wie wir heute vor der Frage stehen, ob eine Eskalation der Methoden zu einem insgesamt oder partiell besseren Rechtsgüterschutz führt und ob der Aufwand in einem erträglichen Verhältnis zum gedachten Erfolg steht. Wer z.B. alle Menschen vorsorglich mit Gesichtslinien und Gen-Daten erfassen will, greift unvermeidlich in den Bereich der psychischen Integrität aller Betroffenen ein; denn denknotwendig wird jedermann als potenzieller Rechtsbrecher betrachtet.

Der Staat als heimlicher Herrscher

Ein anderes Beispiel für eine übermäßige Grundrechtsbeeinträchtigung durch reines Verfahrensrecht bieten die Vorschriften, die es der Exekutive erlauben, einen Grundrechtseingriff dem Betroffenen zu verschweigen. Art. 19 IV GG garantiert — ähnlich wie Art. 6 EMRK — unbedingten gerichtlichen Rechtsschutz bei Eingriffen aller Art durch öffentliche Gewalten. Ähnlich wie Art. 48 BayPAG befugen die §§ 101 und 110d StPO die Exekutive dennoch, Eingriffsinformationen dem Betroffenen vorzuenthalten, wenn durch die Bekanntgabe Gefahren für die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ oder die Unmöglichkeit der weiteren Verwendung eines „verdeckt“ arbeitenden Beamten zu besorgen sind. Der erste Vorbehalt ist so dehnbar, dass jede Rechtsverletzungsgefahr ausreichen könnte, also nicht nur eine Gefahr für Leib oder Leben. Hier wäre allerdings eine verfassungskonforme Auslegung in der Weise möglich, dass nur direkte Gemeingefahren für höchste Rechtsgüter zeitweilig Vorrang haben. Nicht „korrigierbar“ durch Auslegung ist indes der Vorbehalt zum Erhalt der weiteren Verwendung eines Beamten als verdeckter Ermittler schlechthin. Hier wird dem Methodenschutz und nicht einem Rechtsgut von höchstem Wert Vorrang eingeräumt. Diese Regelung ist ersichtlich verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die elektronische Informationsverschaffung durch den BND bestätigt, indem es sogar in Bezug auf diese Methode die ggf. spätere Information des Betroffenen zur Wahrung seiner Grundrechtsgarantie auf Rechtsschutz für unabdingbar erklärt hat (BVerfGE 100, 313). Demgegenüber hatte der BayVerfGH (NVwZ 1996, 166 = BayVB1. 1995, 143) gemeint: „Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden. Dass der Rechtsschutz gegen Maßnahmen der verdeckten Datenerhebung praktisch nicht durchgängig verwirklicht werden kann, weil der Betroffene mangels Unterrichtung von den gegen ihn gerichteten Maßnahmen nichts erfährt, ist in der Pflicht des Staates zum möglichst effektiven Schutz seiner Bürger und der daraus folgenden Notwendigkeit begründet, in strafrechtlich relevanten Bereichen verdeckt zu handeln“.

Abgesehen von der rechtssystematischen Frage, welche Rolle die strafrechtliche Relevanz für die Auslegung einer Polizeirechtsnorm spielen kann, bleibt die Ausgangsfrage, ob die Versagung eines Hauptgrundrechtes ohne jede Verfassungsänderung überhaupt als Mittel zum Schutz der Grundrechtsordnung logisch denkbar ist. Darüber hinaus ist zu fragen, ob die Achtung vor dem Mitmenschen, also auch und besonders vor dem Beschuldigten und Störer, nicht zur Gleichbehandlung, also auch zur Gewährung des jedermann zustehenden Rechts, die Gerichte anrufen zu können, verpflichtet.

In solchen oder ähnlichen Diskussionszusammenhängen wird häufig der Einwand laut, man solle doch mehr auf die rechtsstaatliche Gesinnung der Beamten vertrauen. Die Gegenfrage, ob Redlichkeit auch die Richtigkeit garantiere, bleibt unbeantwortet. Zu fragen bleibt auch, warum rechtsethisch bedenkliche Befugnisse so viele willige Vollstrecker finden. Anscheinend lässt der Gedanke an den Handlungszweck die Frage nach der Rechtmäßigkeit immer wieder in den Hintergrund treten. Das war bei der Verfolgung kirchlicher Zwekke im Mittelalter nicht anders als bei der Verfolgung fürstlicher Interessen. Deswegen hatte Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie allen Anlass zu manifestieren, dass der Zweck nie die Mittel heilige. Diese Werthaltung lebt in der Rechtsethik fort. Im Zuge der totalen Machbarkeitsphilosophie des Alltags scheint indes die Immoralität fortzuschreiten. Die Konsequenz daraus zeigt sich in der Neigung zu immer weitergehenden Kontrollen des Nächsten, weil man ihm angesichts des Verlustes an moralischen Hemmungen alles zutraut. Am Ende fehlt der Glaube an die Freiheitsfähigkeit des andern.

Brüder­lich­keit als Verfas­sungs­prinzip

Angesichts dieses Verlustes an Mitmenschlichkeit könnte man daran denken, in der Grundrechtscharta für Europa ähnlich wie in der französischen Verfassung von 1946 das Prinzip der Brüderlichkeit zu verankern, um allen Bürgern, Gesetzgebern und Amtswaltern einen zusätzlichen und korrigierenden Maßstab bei der Konkretisierung des Verfassungsvollzuges, also insbesondere bei der Schaffung europaweit geltender Eingriffsnormen, zu bieten. Gerhard Leibholz hat schon 1948 gefragt, ob man nicht vorsorglich die Brüderlichkeit neben der Freiheit und Gleichheit im Grundgesetz verankern sollte (Leibholz in: Deutsche Verwaltung 1948, 73 ff.). Fritz Werner hat den Gedanken in der Festschrift für Adolf Arndt 1969 wieder aufgegriffen. Zur Erinnerung: In Deutschland hat Schiller die Brüderlichkeit in seiner Ode an die Freude verewigt. Erst in der Zeit der Restauration geriet sie als Politikum in Vergessenheit. Für die Entfaltung der Wirtschaftsfreiheit im 19. Jahrhundert war sie eher hinderlich. Auch heute würde sie nach einer ersten wahlwirksamen Euphorie vermutlich ebenso wie die Bindung an die Sittlichkeit in Art. 2 I GG alsbald zu einem Appell verblassen, weil eine wahre Verbindlichkeit zum Teilen verpflichten würde. Wir nehmen lieber den Tierschutz in die Verfassung auf. Brüderlichkeit würde auch dazu verpflichten, jede Zugriffsbefugnis auf andere als potentiellen Zugriff auf sich selber zu sehen.

EUROPOL und die grenz­über­schrei­tende Erosion der Grundrechte

Vielleicht wäre dann auch EUROPOL anders konzipiert worden. Die Europäische Union hat keinen Völkerrechtsstatus. Sie ist keine Rechtsperson, sondern ein Zusammenschluss souveräner Staaten. Also müssen Justiz- und Polizeibehörden ebenso wie andere nationale Behörden unter Beachtung von Souveränitätsvorbehalten kooperieren. Schneller geht es nur beim Geld- und Polizeiverkehr. Deswegen wurde neben einer Einheitswährung eine europäische Polizeibehörde vertraglich gegründet und mittels Ratifikationsgesetzen in allen Mitgliedsstaaten mit eigenem völkerrechtlichem Status versehen. Irgendeine übernationale Rechtsaufsicht oder eine europäische Rechtsschutzmöglichkeit wurde nicht geschaffen. Andererseits wurde allen Mitarbeitern von EUROPOL Immunität und Exemption zugebilligt. Das wäre unerheblich, wenn EUROPOL nur eine technische Servicefunktion hätte. EUROPOL kann aber mehr. Es sammelt auf den Gebieten, die allein von den nationalen Mitgliedern durch Regierungsakte bestimmt werden, vom Terrorismus bis zum Menschen- und Drogenhandel, personenbezogene Daten aus allen polizeilichen und geheimdienstlichen Quellen der Länder, verknüpft sie und liefert sie nach eigenem Ermessen an die zuständigen staatlichen Stellen. Obwohl es sich also um ständige Eingriffe in die Datenherrschaft der Betroffenen handelt und partiell auch eine rechtsstaatlich bedenkliche „Osmose“ von geheimdienstlichen und polizeilichen Informationen stattfindet, erfährt der Einzelne in der Regel nichts von seiner Betroffenheit. Fühlt er sich aber betroffen, bekommt er vielleicht Auskunft von EUROPOL; aber er kann die Auskunft weder einklagen, noch kann er gegen den „europäischen“ Zugriff spezifischen Rechtsschutz bekommen.

Die „Globalisierung“ der Polizeiarbeit, wie sie hier sichtbar wird, führt zwangsläufig zu einer entsprechenden „grenzüberschreitenden“ Erosion der Grundrechte. Ob menschenrechtliche Garantien, wie sie in der Grundrechtscharta für die EU konzipiert sind, je wieder oder jemals die Wirkung entfalten werden, wie sie in Deutschland durch das Grundgesetz erzielt werden sollte, ist eine weltweit offene Frage.

Globa­li­sie­rung der Grund­rechts­ord­nung

Das Wort „Globalisierung“ ist semantisch eine Leerformel, die nur im Kontext einen Sinn gibt. Sie stammt aus dem Wirtschaftsleben und meint die weltweite wirtschaftliche Freizügigkeit, insbesondere für die Investitions- und Gewinnströmungen. Alles, was sich hier behindernd in den Weg stellen könnte, wird als Diskriminierung und „standortfeindlich“ bewertet. Das gilt z.B. für Kautelen, die für ein gewisses Maß an sozialverträglichen Lebensbedingungen sorgen sollen. Unser Kündigungsschutzsystem wird in diesem Sinne mit Blick auf die amerikanischen Bedingungen der Arbeitswelt oft und vorschnell kritisiert.

Unbeschadet aller Bekenntnisse zur Europäischen Sozialcharta von 1961 hat längst die verbale Erosion der sozialen Grundrechte begonnen, auf die sich unsere Gesetze bisher gestützt haben, insbesondere die Kündigungsschutzregeln. So sind wir sowohl in der Alltags-, aber auch in der Gesetzessprache bereits auf dem Weg der sogenannten „Flexibilisierung“, wenn wir uns geschichtslos aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ (Sternberger/- Storz/Süskind) bedienen und scheinbar arglos nur noch von „Beschäftigten“ statt von Arbeitern reden. Unmündige Kinder werden „beschäftigt“, wenn sie stillgehalten werden sollen. Worte prägen das Bewusstsein. So könnte Arbeit alsbald nicht mehr als Teil der Ausübung unserer psychischen Selbstbestimmung verstanden werden, sondern nur noch als physischer Vorgang und Kostenfaktor. Dies entspräche der weithin schon geübten Kündigungspraxis nach Maßgabe der Konjunkturdaten und Gewinnerwartungen. Kürzlich war von einem Weltkonzern zu lesen, dass er einige tausend „Stellen” „abbauen“ wolle, um die Rendite zu steigern; die „Beschäftigten“ sollten „freigestellt“ werden. Es ist vergessen, dass vor 60 Jahren mit dem Beginn der Judendeportationen alle Juden von Amts wegen aus ihren Arbeitsverhältnissen ausscheiden mussten und nur noch mit täglicher „Freistellungsmöglichkeit“ „weiterbeschäftigt“ werden durften.

Auch in den sprachbildenden Nachrichtentexten mit ihren alltäglichen Stil- und Sprachmängeln werden die gefährlichen Neologismen perpetuiert. Wenn sie nicht schon das Spiegelbild der inneren Werthaltungen sind, so führen sie letztlich zu einer entsprechenden Bewusstseinsveränderung. Wortschöpfungen wie „Kriminalitätsbekämpfung“ oder „organisierte Kriminalität“ haben bereits weithin das Rechts- und Kompetenzdenken beeinflusst.

Die „Globalisierung“ der Grundrechte mit ihren Folgen hat also nicht nur rechtstechnische, sondern auch rechtsphilosophische Aspekte, wenn man den Betroffenheiten nachgeht. Insoweit sind wir nicht machtlos im Sinne der Eingangsfrage nach dem Sinn von Argumentationen. Die Philosophen haben auf Dauer noch stets mehr bewirkt als alle politischen Machthaber. Nur ist der zwischenzeitliche Leidenspreis oft sehr hoch. Deswegen bedarf es mehr als des reinen Philosophierens. Der Nächste in Rechtsnot bedarf unserer Hilfe, soweit wir können. Rechtswidrige Normen sind, soweit es an uns liegt, nicht anzuwenden. Grundrechtswidrigen Vorhaben ist laut zu widersprechen. Der Ruf nach europäischen Grundrechtsstandards darf nicht verstummen. Gäbe es sie bereits weltweit, ließe sich weniger leicht Krieg führen. Das Weltstrafgericht wäre längst in Funktion. Für den Krieg im Kosovo hätte es nicht des Rückgriffs auf die Lehre vom „gerechten Krieg“ bedurft, um das völkerrechtlich neuere Verbot des Angriffskrieges zu überwinden, weil es für Menschenrechtsverletzungen verfahrensrechtlich einwandfreie Abhilfemöglichkeiten gäbe.

Wenn man also das Wort Globalisierung nicht als Zauberwort zur Mehrung des eigenen Vorteils versteht, sondern als Mittel weltweiter Verbrüderung, dann bestünde das Heil nicht lediglich in einer Erleichterung des Geld- und Polizeiverkehrs, sondern in einer Angleichung der sozialen Sicherungssysteme, in einer einheitlichen Kartellgesetzgebung, auch in einer Rücknahme des ausufernden Strafrechts auf die Verletzung von Rechtsgütern, die allseits als solche anerkannt sind, wie Freiheit, Leben, Eigentum, Hausrecht, Freizügigkeit, Rechtsschutz etc. Das wäre eine Rechtsangleichung ohne Eliminierung der gewachsenen Kulturen. Das Verbot, bestimmte Rauschmittel zu besitzen, müsste — ein weiteres Beispiel ungleicher Ausgangslagen — angesichts des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen überprüft werden, zumal wenn andere Drogen straflos besessen werden dürfen. Die Legalisierung der Prostitution und die Entkriminalisierung der illegalen Einwanderung würden ähnliche Wirkungen auf den Menschenhandel haben. Anders werden sich die bisherigen „Kriege“ gegen Drogen- und Menschenhandel nicht beenden lassen.

Eine „Globalisierung“ im Sinne einer Rechtsangleichung und Rückbesinnung auf die Grundrechtsgüter entspräche eher unserem innerstaatlichen Verfassungsauftrag, für eine gerechte Gesellschaftsordnung zu sorgen, als jede offene oder versteckte Grundrechtsverkürzung, wie wir sie seit dreißig Jahren zur angeblichen Stärkung der sog. Inneren Sicherheit erlebt haben. Der holländische Strafrechtler Rüters hat einmal treffend gesagt, dass sich — nach niederländischem Staatsverständnis — die Stärke eines Staates weniger in seiner Polizeimacht als vielmehr in seinem Streben nach sozialer Ausgeglichenheit und Gerechtigkeit erweise.

Wir müssen also die Last der Freiheit mit ihren immanenten Risiken ertragen, wenn wir in einem solchen „starken“ Staat leben wollen. Wenn wir das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Bindung aushalten und wenn wir nicht in einem Polizeistaat leben wollen, dann bleibt uns gar keine andere Wahl, als sowohl bei uns als auch weltweit für die Geltung der Grundrechte mit Mut einzutreten und lebenslang Widerstand für das Recht zu leisten — und sei es nach dem eingangs zitierten Teelöffelprinzip.

Genau dies hat Gustav Heinemann schon 1975 in Düsseldorf gesagt: „Wir sind einem Rechtsstaat verpflichtet, der seiner selbst sicher sein muss, der mit seiner Liberalität und Humanität steht und fällt. Deshalb ist es unsere Aufgabe, gerade in dieser Zeit des Zweifels und der Gegenkräfte seine Ziele unbeirrt und unnachgiebig zu vertreten.“

• Der Text basiert auf einem Vortrag, der am 31. Mai 2002 auf der Jahrestagung der GUSTAV HEINEMANN-INITIATIVE in Stuttgart gehalten wurde.

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