Publikationen / vorgänge / vorgänge 163

Auf dem langen Weg in den Niedergang? Markus Klein und Jürgen W. Falter zeichnen die Geschichte der Grünen nach

vorgängevorgänge 16311/2024Seite 129-131

Seit dem Herbst vergangenen Jahres scheinen Bündnis 90/Die Grünen auf einer Erfolgswelle zu schwimmen. Sowohl bei der Bundestagswahl im September als auch bei den folgenden Landtagswahlen konnten sie Stimmen dazugewinnen – nachdem zuvor alle überregionalen Wahlen seit 1998 verloren gegangen waren. In der Bundesregierung gelang es ihnen in den letzten Monaten mit einigem Erfolg, sich gegenüber der zerstrittenen SPD als Stabilitätsfaktor zu profilieren. Und selbst die Auswechslung der erfolgreichen Parteivorsitzenden Roth und Kuhn im Dezember 2002 konnte das grüne Stimmungshoch nicht nachhaltig trüben. Dieser offensichtliche Aufwärtstrend gibt Anlass zu der Frage, ob sich die Grünen mit dem Eintritt in die zweite Legislaturperiode eines rot-grünen Bundeskabinetts als Regierungspartei konsolidiert haben – und damit am Ende ihres Entwicklungsprozesses von einer systemkritischen zu einer systemtragenden Partei angekommen sind. Wie sind der heutige Zustand und die Zukunftsaussichten der Grünen vor dem Hintergrund ihrer Geschichte zu bewerten?

In einem ausdrücklich an ein breites, auch nichtakademisches Publikum gerichteten Buch haben sich dieser Frage nun zwei profilierte Parteien- und Wahlforscher zugewandt:

Markus Klein/Jürgen W. Falter: Der lange Weg der Grünen. Eine Partei zwischen Protest und Regierung, Beck: München 2003, 228 Seiten, ISBN 3-406-49417-X; 12,90 Euro.

Die Autoren nähern sich der knapp 25-jährigen Geschichte der Grünen aus verschiedenen Blickwinkeln: Nach einem Überblick über die Entstehung der Partei werden die Entwicklung von Programmatik, Parteiströmungen und Organisationsstruktur, die Verschiebungen in Mitgliedschaft und Wählerschaft sowie die persönliche Biographie des Spitzenmannes Joschka Fischer nachgezeichnet. Als Besonderheit ihres Zugriffs auf diese Themen stellen Klein und Falter die systematische Verwendung von Umfragedaten und Verfahren der empirischen Sozialforschung heraus. So greifen sie neben Wahlergebnissen insbesondere auf Resultate des seit 1977 erhobenen „Politbarometers“ sowie einer noch unveröffentlichten Untersuchung über die Mitglieder deutscher Parteien zurück. Durch die breite Datenbasis wollen sie ein Defizit anderer Studien über die Grünen vermeiden, das sie in der oft „mangelnden empirischen Absicherung“ der getroffenen Aussagen sehen — zumal in vielen Veröffentlichungen die „persönliche Betroffenheit der Autoren“ einer „nüchternen wissenschaftlichen Analyse“ im Wege stehe. Dagegen betonen Klein und Falter ausdrücklich, dass sie zu ihrem Untersuchungsgegenstand keine „sonderlichen Emotionen“ empfänden und folglich eine Analyse „aus der distanzierten Perspektive des sozialwissenschaftlichen Beobachters“ vornehmen könnten.

Auf solche Beschwörungen der vermeintlichen „Neutralität“ empirisch-quantitativer Politikwissenschaft dürften kritische Leserinnen und Leser zu Recht mit besonderer Skepsis reagieren. Sie werden bei Klein und Falter rasch fündig: Wie wenig sich auch ihre Darstellung impliziter oder expliziter Parteilichkeit enthalten kann, wird besonders in den Abschnitten über die grüne Programmentwicklung deutlich. Überwiegend spöttisch und herablassend zitieren die Autoren aus dem Gründungsprogramm der Grünen von 1980, das ungeachtet einiger heute befremdlich anmutender Forderungen – zahlreiche Themen erstmals in das deutsche Parteiensystem einbrachte und international eine beträchtliche Vorbildfunktion entfaltete. Als „ideologisch“ brandmarken sie die Kritik früher grüner Programme an der Marktwirtschaft, ohne jedoch zu fragen, ob nicht auch die neoliberalen Tendenzen in der aktuellen grünen Programmatik ideologische Züge tragen könnten. Alles in allem wird in diesem Abschnitt – wie auch in den Kapiteln über die Realo-Fundi-Kontroverse, die interne Struktur sowie über die Persönlichkeit Joschka Fischers – den aus der Presseberichterstattung über die Grünen bekannten Darstellungen, Urteilen und Klischees wenig Neues hinzugefügt.

Gewinnbringend sind dagegen die Untersuchungen, die Klein und Falter über Mitglieder und Wählerschaft der Grünen anstellen. Die von ihnen zitierten Ergebnisse einer von Potsdamer Forscherinnen und Forschern vorgenommenen Befragung von Parteimitgliedern untermauern nicht nur bekannte Befunde wie das überdurchschnittliche Bildungsniveau und den relativ hohen Frauenanteil in der grünen Mitgliedschaft, sondern liefern auch interessante Erkenntnisse über die Selbstzuordnung der Mitglieder zu Parteiströmungen – hier zeigt sich eine eindeutige Dominanz der Realos – sowie über das vergleichsweise große innerparteiliche Engagement der grünen Mitgliedschaft. Die Untersuchungen zu den Wählerinnen und Wählern machen deutlich, dass die Grünen nach wie vor ihren größten Rückhalt in der Generation der Neuen Sozialen Bewegungen finden, und dass ihre Wählerschaft mit dieser Generation altert. Die Grünen als „EinGenerationen-Projekt“ zu klassifizieren wäre gleichwohl zu einfach, weil auch die gealterte Partei immer noch einen überdurchschnittlich hohen Anteil junger Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen kann. Kleins und Falters Analysen zeigen ferner, dass seit den 1980er Jahren nicht nur der Wohlstand der grünen Wählerschaft kontinuierlich gewachsen ist, sondern auch deren Zufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Lage sowie mit dem demokratischen System deutlich zugenommen hat. Während sich die überwiegend postmaterialistische Orientierung grüner Wählerinnen und Wähler nur wenig abgeschwächt hat, stellen Klein und Falter zumindest in Westdeutschland eine deutliche Verschiebung auf der Rechts-Links-Achse des Parteiensystems fest: Gemessen an ihrer wirtschaftspolitischen Einstellung (Befürwortung von Laissez-faire oder Umverteilung) muss die westdeutsche Wählerschaft der Grünen nach ihrer Ansicht heute als „gemäßigt rechts“ klassifiziert werden. Die in der Regierungsbeteiligung zum Ausdruck kommende Etablierung der Grünen im politischen System der Bundesrepublik sowie die in der Programmatik feststellbare Bewegung der Partei in die Mitte des deutschen Parteiensystems finden also ihre Entsprechung in sozialem Status und Einstellungen der Wählerinnen und Wähler.

Auch wenn dieses Ergebnis auf eine für die Grünen vorteilhafte Übereinstimmung zwischen dem eigenen Politikangebot und der Wählernachfrage hindeuten mag, kommen Klein und Falter bei der Bewertung der Zukunftschancen der Grünen gleichwohl zu einem skeptischen Ergebnis: Deren mittel- und langfristiges Überleben halten sie für „durchaus fraglich“.
Grundlage für diese Prognose ist eine Analyse grüner Wahlergebnisse seit Ende der 1970er Jahre, bei der die Autoren einen Trend des Aufstiegs und Niedergangs zu erkennen glauben. Die von ihnen errechnete statistische Trendfunktion erreicht jedenfalls ihren Zenit bereits 1990 und nähert sich im Jahr 2002 trotz des guten Ergebnisses bei der Bundestagswahl wieder der 5-Prozent-Hürde an. Die Aussagekraft dieser Trendberechnung kann jedoch mit guten Gründen bezweifelt werden. Erstens ist es – wie die Autoren selbst anerkennen – im Wesentlichen die Schwäche der Grünen in Ostdeutschland, die den Trend nach 1990 nach unten zieht. Für Westdeutschland ergibt sich erst ab 1997 ein negativer Trend, der zudem durch die (noch nicht in die Berechnungen eingegangenen) grünen Wahlerfolge des Jahres 2003 relativiert werden dürfte. Zweitens – und dies ist noch entscheidender – kann angesichts der von der Parteienforschung diagnostizierten Entwicklung der Bundesrepublik zur „Stimmungsdemokratie“ (Joachim Raschke) keineswegs ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sich die Zukunft einer Partei auf Basis langfristiger Entwicklungstendenzen vorhersagen lässt. Nachdem im Zuge von Individualisierungsprozessen feste Parteibindungen an Bedeutung verloren und lose organisierte Formen politischer Partizipation die Vorherrschaft gewonnen haben, zeigen Wählerinnen und Wähler bei der Stimmabgabe eine erheblich größere Flexibilität als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das Schicksal einer Partei an der Wahlurne hängt unter diesen Bedingungen weniger von langfristigen Trends als von ihrer Fähigkeit ab, kurzfristig eigene Programmpunkte in der Öffentlichkeit zu thematisieren und – gerade bei einer Regierungspartei – die Ergebnisse des eigenen Handelns als Erfolge zu kommunizieren. Eine entscheidende Rolle spielt ferner die jeweilige Verfassung der politischen Konkurrenz. So können sowohl der Höhenflug der (westdeutschen) Grünen Mitte der 1990er Jahre als auch das derzeitige grüne Stimmungshoch nicht zuletzt auf eine Schwächephase der SPD zurückgeführt werden.

Zu welchen Zielen die weiteren Etappen des „langen Wegs der Grünen“ führen werden, lässt sich deshalb mit erheblich weniger Sicherheit prognostizieren, als Kleins und Falters Trendberechnungen unterstellen. Der entscheidende Faktor, der die Zukunftsaussichten der Grünen trotz des derzeitigen Stimmungshochs trübt, liegt vermutlich weniger in der Existenz eines ungünstigen Trends als in der zuletzt zu beobachtenden programmatischen Entleerung der Partei, die sich in der Bundesregierung zunehmend auf eine Korrektivrolle nach dem Vorbild der FDP beschränkt. In der derzeitigen politischen Konstellation fällt dies nicht negativ ins Gewicht, doch sowohl im Falle eines Wiedererstarkens der SPD als auch bei einem Machtverlust von Rot-Grün wären die Grünen darauf angewiesen, in öffentlichen Debatten verstärkt mit ihren eigenen programmatischen Alternativen präsent zu sein. Diese jedoch sind in letzter Zeit immer weniger deutlich zu erkennen.

nach oben