Die entzauberten Eliten. Michael Hartmann demontiert den Mythos der Chancengleichheit
Leistung als Schlüssel zum Erfolg: Mit diesem hierzulande dominierenden Selbstverständnis einer meritokratischen, nivellierten Mittelstandsgesellschaft räumt eine Studie des Darmstädter Soziologen Michael Hartmann gründlich auf:
Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Campus: Frankfurt/Main/New York 2002, 207 S., 3-593-37151-0; 19,90 Euro
Der Autor beschreibt den direkten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Zugang zu Spitzenpositionen, den er durch eine innovative Verbindung von soziologischen Herkunfts- und Verbleibsanalysen der deutschen Bildungselite nachweisen kann. Die soziale Herkunft aller 1955, 1965, 1975 und 1985 promovierten Juristen, Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieure wurde anhand ihrer den Dissertationen beigefügten Lebensläufe erhoben, aus denen man ebenso Angaben zu den Bildungskurieren entnehmen kann. Die beruflichen Positionen dieser Männer und Frauen wurden über die einschlägigen Handbücher, wie z.B. Kürschners Gelehrtenkalender, ermittelt. Der Studie liegen die zehn Jahre nach der Promotion erreichten Stellungen der Untersuchungspersonen zugrunde.
Zu Beginn setzt sich Hartmann kritisch mit der Elitenforschung, Elitenrekrutierung und Bildungsauslese auseinander. Nach einem Abschnitt über die soziale Zusammensetzung der Promovierten folgt ein zentrales Kapitel über Karrieren in der Wirtschaft und ihrer Abhängigkeit von der sozialen Herkunft der Promovierten. Die Ergebnisse werden danach mit der Bedeutung der sozialen Herkunft für Spitzenkarrieren in Justiz, Politik und Wissenschaft verglichen. Schließlich untersucht der Autor die Mechanismen der Elitenrekrutierung in der Bundesrepublik, um sie zuletzt mit den in Großbritannien und Frankreich geltenden Mechanismen der Elitenbildung zu vergleichen.
Durch die Auswahl der Jahrgänge 1955 bis 1985 kann die Studie einen Erklärungsanspruch für einen langen Zeitraum reklamieren. Zudem können durch diese Kohortenauswahl die Veränderungen überprüft werden, die üblicherweise mit den Bildungsreformen der 1960er Jahre in Verbindung gebracht werden. Hartmann kommt hier zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass die Bildungsöffnung dieser Jahre zumindest bis zum Jahrgang 1985 nur die soziale Basis der einfachen Hochschulabschlüsse beeinflusste. Die Auslese bei der Promotion wurde hingegen nicht abgemildert; bei den Juristen nahm sie im Vergleichszeitraum sogar zu.
Trotz dieser Stabilität der Bildungselite hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung ist, so Hartmanns Ergebnis, bei der Besetzung von Spitzenpositionen in der Wirtschaft eine darüber hinaus gehende soziale Auslese unverkennbar. Dass die Nachkommen des Großbürgertums und des gehobenen Bürgertums mit 80 Prozent der Vorstandsvorsitzenden in den hundert größten Unternehmen überproportional in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft vertreten sind, kann weder Studienfächerwahl, noch Studienverhalten oder -leistung, sondern allein die soziale Herkunft statistisch signifikant erklären. Nur das Geschlecht ist ein noch gravierenderer Faktor: Frauen haben eine 90 Prozent schlechtere Aufstiegschance in Spitzenpositionen der Wirtschaft als ihre männlichen Kollegen.
Eines der frappierendsten Ergebnisse von Hartmanns Untersuchung ist jedoch, dass die soziale Geschlossenheit der Chefetagen im Zuge der Bildungsexpansion nicht ab-, sondern vielmehr zugenommen hat. Diese von Hartmann für den Bereich der Wirtschaft – die im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht – belegten Zahlen vergleicht er systematisch mit den Eliten dreier anderer Berufsfelder.
Dabei ergeben sich zunächst Einschränkungen der obigen Aussagen: Auf die höhere Justiz und die Politik treffen sie nur bedingt und auf die Universitäten, welche Mittelschichten und Arbeiterklasse weit höhere Chancen bieten, noch weniger zu. Dies führt Hartmann allerdings hauptsächlich darauf zurück, dass diese Berufsfelder für die Nachkommen des Großbürgertums und des gehobenen Bürgertums kaum attraktiv sind. Jene wenden sich nur in Zeiten, in denen es schlechte Chancen in der Wirtschaft gibt, den anderen gesellschaftlichen Sektoren zu – und vermögen dort, mit Ausnahme des politischen Bereichs, umgehend die Konkurrenz der anderen sozialen Gruppen aus den Spitzenpositionen zu verdrängen. Hartmanns Ergebnisse stellen damit die bisherige Grundannahme der Eliteforschung infrage, wonach die Bildungsbeteiligung aus schlaggebend für die Berufschancen sei. Die sich trotz unablässiger Kritik hartnäckig haltende Individualisierungsthese Ulrich Becks wird durch die vorliegenden Befunde endgültig ad absurdum geführt. Entgegen Becks Annahme, die Menschen seien durch den Wohlfahrtsstaat aus ihren traditionellen Klassenbindungen und Familienversorgungsstrukturen in ein individuelles Arbeitsmarktschicksal geworfen worden, fällt laut Hartmanns Analyse die individuelle Leistung angesichts der klar erkennbaren Gruppenlaufbahnen kaum ins Gewicht.
Doch Hartmann bleibt nicht bei der statistischen Analyse stehen. Er versucht vielmehr, jene Mechanismen der gesellschaftlichen Reproduktion zu erklären, die die beschriebene Stabilität und Homogenität bewirken. Dabei greift er auf selbst geführte Interviews mit Spitzenmännern und, seltener, -frauen zurück. Zwei Kategorien nutzt der Autor dabei, um zu erklären, weshalb die Nachkommen des Bürgertums bei den Spitzenpositionen die erste Wahl haben und die Sprösslinge anderer sozialer Gruppen nur das bekommen können, was übrig bleibt: Vertrauen im Sinne Niklas Luhmanns und Habitus im Sinne Pierre Bourdieus.
Da in den Unternehmensspitzen risikoreiche Entscheidungen oftmals sehr zügig getroffen werden müssen, ist gegenseitiges Vertrauen innerhalb der Führung unabdingbar. Das sicherste Indiz dafür, dass die auszuwählende Person den übrigen Spitzenmännern ähnelt, ist die soziale Herkunft, die sich im Auftreten der Kandidaten offenbart. Um Störungen zu vermeiden, rekrutieren sich die Topmanager deshalb aus sozialen Kreisen, deren Mitglieder ähnliche Verhaltensmuster und Einstellungen teilen. Wie wichtig Vertrauen in intakten Wirtschaftsbeziehungen ist, hat jüngst Martin Fiedler anhand von Beispielen zerbrochener Vertrauensstrukturen in Vorständen von Unternehmen untersucht (Fiedler 2000).
An dieser Stelle greift Hartmann auf den Habitus-Begriff von Bourdieu zurück und stellt einen Katalog von vier entscheidenden Persönlichkeitsmerkmalen auf: 1. die Vertrautheit mit den ungeschriebenen „Dress- und Verhaltenscodes“ in Vorstandsetagen, 2. eine bildungsbürgerliche breite Allgemeinbildung, 3. eine unternehmerische und vor allem optimistische Lebenseinstellung und, zentral, 4. die persönliche Souveränität und Selbstsicherheit. Da diese Verhaltensweisen und Einstellungen größtenteils auf der familiären Sozialisation beruhen, ebenso wie auf dem zur Verfügung stehenden Netz sozialer Sicherheit, sind sie nur bedingt erlernbar und wirken zudem oft schnell einstudiert. In diesem Sinne funktioniert der Habitus als Ausschlusskriterium: Andere Startvorteile von Kindern aus gehobenen Kreisen werden durch ihn so unterstützt, dass der Erwerb selbst des höchsten Bildungstitels allein nicht ausreicht, um ihnen Spitzenpositionen streitig zu machen. So finden in Jahrgängen mit guten Aussichten in der Wirtschaft zwar relativ viele nicht-bürgerliche Promovierte eine hohe Position in Unternehmen. In Zeiten von Engpässen jedoch muss die aus der breiten Bevölkerung stammende Bildungselite auf die übrigbleibenden Positionen bzw. auf die anderen Sektoren ausweichen.
Überzeugend sind Hartmanns Erklärungen vor allem für den Wirtschaftssektor. Seine Analyse der Rekrutierung von Eliten in Justiz, Politik und Universität wirft jedoch noch einige Fragen auf. Auch in diesen Sektoren vermutet Hartmann nämlich einen jeweils vorherrschenden Habitus: beamtisch für die höhere Justiz; bei den politischen Parteien an der jeweiligen Wählerklientel orientiert; kleinbürgerlich bildungsbeflissen an den Universitäten. Diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, deren Habitus vorherrschend ist, haben laut Hartmann jeweils die besten Chancen auf die Toppositionen in diesen Bereichen. Doch wie erklärt sich dann, dass die Nachkommen des Bürgertums sofort auf all diese Positionen zurückgreifen können, sobald sie in der Wirtschaft nicht unterkommen können? Und weshalb können die promovierten Töchter des Bürgertums, vor allem des Großbürgertums, nicht auf dieselben Reproduktionsmechanismen bauen wie dessen Söhne?
Begrüßenswert ist Hartmanns Ansatz, die in der Ungleichheits- und Eliteforschung üblichen Kategorien – Arbeiter, Angestellte, Beamte und Selbständige – zugunsten einer lebensnaheren und historisch gewachsenen Einteilung in Großbürgertum, gehobenes Bürgertum und einer zusammengefassten Arbeiterklasse/Mittelschicht aufzugeben. Erklärungsbedürftig bleibt jedoch der von Hartmann umstandslos verwendete Begriff der „Arbeiterklasse“, der von den deutschen Sozialwissenschaften schon lange nicht mehr für brauchbar erachtet wird.
Hartmanns methodisch innovative Studie, die ein Jahr verspätet sogar eine Titelgeschichte der Illustrierten Stern zur Folge hatte („Das Märchen von der Chancengleichheit“; Stern Nr. 31 vom 24. Juli 2003), verdient breite Resonanz in Wissenschaft und Öffentlichkeit – nicht zuletzt, um naive Illusionen von einer angeblich nach oben offenen Gesellschaft zu verabschieden. Wenn hierzulande wieder verstärkt über Fragen der sozialen Reproduktion kritisch nachgedacht wird, ist das nicht zuletzt Hartmanns Verdienst.
Literatur
Fiedler, Martin 2000: Netzwerke des Vertrauens: Zwei Fallbeispiele aus der deutschen Wirtschaftselite; in: Dieter Ziegler: (Hg.), Großbürger als Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen, S. 93-115