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Menschen­rechte im Islam? Warum Koran und Scharia zugunsten der Menschen­rechte domes­ti­ziert werden müssen

vorgängevorgänge 16311/2024Seite 117-121

Alle politischen Systeme berufen sich in der einen oder anderen Form auf die Menschenrechte, obwohl deren Anerkennung und Gewährleistung in der politischen Praxis alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Zwar gibt es auf internationaler Ebene verbindliche UN-Konventionen, aber diese sind weder von allen Staaten ratifiziert worden, noch werden sie selbst von den Unterzeichnerstaaten immer eingehalten. An erster Stelle zu nennen sind hier die islamischen Staaten, die kein säkulares, sondern ein weitgehend religiöses oder sakrales Recht praktizieren. Zwar gründen gegenwärtig nur wenige Staaten ihr Recht explizit auf die Lehren aus Koran und Scharia, aber gerade diese Länder werden immer wieder zu Sorgenkindern der Weltgemeinschaft, weil sich bei ihnen aus westlicher Sicht massive Menschenrechtsverletzungen feststellen lassen. Zu fragen ist also, ob die einschneidenden Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern ihre Grundlage in Koran und Scharia haben und ob in islamischen Staaten prinzipiell ein anderes Menschenrechtsverständnis vorliegt, das mit dem westlichen nicht vereinbar ist.

Die westliche Konzeption der Menschen­rechte

Der Ursprung der Menschenrechte liegt in der westlichen Aufklärung. Ideengeschichtlich sind sie aus dem Widerstand gegen den modernen absolutistischen Staat, die Übermacht der Kirche und die prägende Kraft überkommener Traditionen entstanden. Historisch gesehen wurden sie erstmals mit der „Bill of Rights“ von Virginia aus dem Jahre 1776 und der Französischen Revolution von 1789 kodifiziert.

In der westlichen Konzeption haben Menschenrechte einen universellen Charakter. Sie sind zuerst Freiheitsrechte jedes Einzelnen; konzipiert als naturhafte, angeborene Rechte gegen staatliche Macht. Als Abwehrrechte sollen sie in erster Linie Menschen vor staatlicher, aber auch religiöser Bevormundung und Willkür schützen. Ihr Geltungsbereich erstreckt sich prinzipiell auf alle Menschen und zwar ohne Unterscheidungen nach Rasse, Herkunft, Nationalität, Geschlecht oder Religion. Dies bedeutet, dass die Gleichheit das grundtragende Element heutiger Menschenrechtskonzeptionen ist. Die Menschenrechte können nur garantiert werden, wenn allen Menschen Institutionen und Kontrollverfahren ohne Einschränkung offen stehen, vor denen sie effektiv geltend gemacht werden können. Faktisch haben aber bis in die Gegenwart nur Menschen in den entwickelten Industriestaaten Zugang zu solchen Instanzen. Nicht umsonst gilt die Europäische Menschenrechtskonvention als bislang umfassendste Verwirklichung der Menschenrechtsidee. So bleiben die Menschenrechte bis in die Gegenwart trotz technischen Fortschritts und Globalisierung hinter der Beachtung wirtschaftlicher oder politischer Interessen erheblich zurück. Umfassend kodifiziert und zumindest abstrakt garantiert sind sie dennoch.

Menschen­rechte im Islam

Auch im Islam ist der Begriff der Menschenrechte gebräuchlich. Die islamische Version der Menschenrechte unterscheidet sich allerdings erheblich vom westlich-universalistischen Menschenrechtsverständnis. Islamische Rechtsgelehrte leiten die Menschenrechte direkt aus Koran und Scharia ab – während der Westen die Konzeption umfassender Individualrechte aus einem Abwehrkampf gegen die Religionen entwickelte. Als primäre Quellen des islamischen Rechts gelten der Koran und die sunna. Der Koran als offenbartes Wort Allahs darf nach Ansicht der islamischen Gelehrten weder analysiert noch kritisiert werden. Die Scharia umschreibt als Sammelbegriff die von Allah vorgegebenen Gesetze, die alle menschlichen Lebensbereiche sowie die Beziehung der Menschen zu ihrem Schöpfer abschließend und für alle Zeiten verbindlich regelt.

Während Menschenrechte nach internationalen Standards individuelle, unveräußerliche Abwehrrechte gegen den Staat sind, welche dem Menschen kraft seiner bloßen Existenz zustehen, gelten Menschenrechte nach traditioneller islamischer Auffassung als gottverliehene Rechte. Die Annahme orthodoxer Muslime, dass alle Menschenrechte bereits abschließend in der Scharia festgelegt sind, macht eine dynamische Fortentwicklung der Menschenrechte unmöglich. Schon damit stehen sie zu den von den Vereinten Nationen proklamierten Menschenrechten in einem Spannungsverhältnis, denn diese sind Konsequenzen aus historischen Unrechtserfahrungen und können bei Bedarf erweitert werden. Demgegenüber führt die ahistorische Vorstellung orthodox-muslimischer Gelehrter von abschließend offenbarten Menschenrechten zu einer Ignoranz gegenüber den Herausforderungen der Moderne. Auch die aus dem Koran herzuleitende Einteilung der Menschen in bestimmte Klassen und der Anspruch des Islams, die einzig wahre Religion zu sein, stellen die universale Validität der islamischen Menschenrechtskonzeption in Frage. Immerhin gehen liberal eingestellte Muslime davon aus, dass die konkrete Ausformung der Menschenrechtsidee in der Moderne durch die westliche Geistesgeschichte erfolgt ist, was auch die Annahme impliziert, dass sie in Koran und Scharia nicht explizit vorgesehen sind.

Aus solchen Deutungen lässt sich in erster Linie ablesen, dass die Attraktivität der westlichen Menschenrechte auch in die islamische Welt hineingewirkt hat. Zu prüfen ist, inwieweit der so entstehende Dualismus aus göttlichem Recht und Menschenrechten konfliktär ist. Dies soll im Folgenden anhand von drei Beispielen geschehen. Erstens geht es um die Frage, welche Rechte der Islam den Frauen zugesteht, zweitens um das Problem, ob es eine Religionsfreiheit im Islam gibt. Dies führt dann zur eigentlichen Gretchenfrage: Ist das, was traditionelle islamische Gelehrte aus Koran und Scharia als gottverliehene Menschenrechte ableiten, wirklich mit „echten“ Menschenrechten vergleichbar?

Erstens: Nach genuin islamischer Auffassung ist eine Frau prinzipiell weniger wert als ein Mann. Aussagen von Frauen zählen vor Gericht folgerichtig nur zu fünfzig Prozent. Auch kann eine Muslimin die Scheidung nur unter Schwierigkeiten und lediglich auf gerichtlichem Weg erreichen, während ein Muslim seine Frau(en) jederzeit ohne Angabe von Gründen verstoßen darf, ohne überhaupt ein Gericht einschalten zu müssen. Zudem gestattet der Islam nur den muslimischen Männern die Mehrehe (Koran 4: 3[1]), nicht aber den Frauen. Allerdings sind auch für Männer die juristischen Hürden nicht ganz einfach zu überwinden, so dass aus dieser Norm kein genereller Anspruch auf Polygamie hergeleitet werden kann.

Mit modernen menschenrechtlichen Standards kann die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen im Islam keinesfalls in Einklang gebracht werden. Sie steht im Widerspruch zu den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Gewissensfreiheit.

Zweitens: Religionsfreiheit ist nach gängiger Definition das Recht, sich für eine bestimmte Religion zu entscheiden (oder eben auch nicht), und zwar ohne jede Form von Zwang, Furcht oder Angst; sie erlaubt es, das eigene Glaubensschicksal in voller Bewusstheit selbstbestimmt zu gestalten. Diese völkerrechtliche Festlegung deckt sich mit dem koranischen Gebot, wonach es keinen Zwang in der Religion gibt (la irkrha fi-d-din) und nach dem auch die zwangsweise Bekehrung streng verboten ist.

Allerdings läuft das Menschenrecht auf Religionsfreiheit durch die Existenz des Tatbestands „Abfall vom Islam“ (irtidad) für Muslime ins Leere. Der Abfall vom Islam gilt für den Muslim oder die Muslimin als die Sünde schlechthin. Wer also einmal Muslim geworden oder als solcher geboren ist, kann seinem Glaubensschicksal nicht mehr entrinnen. Die Gläubigen haben sogar die Pflicht, diejenigen, welche sich vom Islam abwenden, zu ergreifen und zu töten (Koran 4: 89f.). Diese Vorschrift wird auch auf den Abfall vom Glauben (Apostasie) allgemein angewandt und mit dem umstrittenen Zitat begründet, Muhammad habe gefordert: „Wer seinen Glauben wechselt, den tötet!“

Der völkerrechtliche Grundsatz der Religionsfreiheit wird im Islam auch dann verletzt, wenn Christen, die eine Muslimin heiraten wollen, den einzigen Weg darin sehen, vor einem islamischen Imam zu bekunden, dass ihr Übertritt zum Islam freiwillig erfolgte und ohne jeglichen Druck, weil sonst der Imam die Ehe nicht erlauben darf. Die Ehe kann also nur formgültig geschlossen werden, wenn der Bräutigam den nach islamischem Ritus einfach erreichbaren Status des Konvertiten offiziell erlangt hat. Von dem im Koran immanenten Verbot „in der Religion gibt es keinen Zwang“, das erstens einen definitiven Normcharakter aufweist und zweitens für alle gilt, bleibt hier nichts übrig.

Auch der Umgang des Islam mit religiösen Minderheiten in muslimischen Ländern kann bestenfalls als semi-tolerant bezeichnet werden. Juden und Christen hatten in der Vergangenheit als anerkannte Schriftbesitzer (ahl alkitab), aus islamischer Sicht also „Teilgläubige“, zwar einen bevorrechtigten Status, da der Islam für beide Glaubensgemeinschaften innerhalb seines Herrschaftsbereichs eine Art „Gastrecht“ (dimma) mit gesonderter Besteuerung und oft auch mit der Auflage unterschiedlicher Kleidung vorsah. Als geduldete Minderheiten konnten Juden und Christen ihre Angelegenheiten weitgehend selbst regeln, mussten aber in erheblichem Ausmaß Einschränkungen hinnehmen. Ihr Status beruhte auf „Schutzverträgen“ innerhalb des Islam. Die Verträge waren grundsätzlich unbefristet und wurden vom jeweiligen Nachfolger des Propheten (Khalifen) oder dessen Stellvertreter abgeschlossen, wenn die rechtlichen Voraussetzungen vorlagen.

Damit ist klar, dass innerhalb des Herrschaftsbereich des Islam bis in die Gegenwart mit zweierlei Maß gemessen wird. Verstärkt wird dies noch durch das Verbot für Muslime, zum Christentum oder Judentum überzutreten, während die Konversion von Christen und Juden zum Islam erlaubt ist. Eine solche religiös-politische Haltung stellt die universale Geltung individueller Menschenrechte in Frage. Folglich gibt es im Islam keine angeborenen Individualrechte gegenüber staatlicher und religiöser Autorität. Das erklärt auch, warum viele islamische Staaten sich bis heute weigern, den internationalen Menschenrechtskonventionen beizutreten. Weder der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (beide 1966), noch das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sind von vielen islamischen Staaten ratifiziert worden.

Vor dem Hintergrund dieser Tatsache ist es bemerkenswert, dass trotzdem einige islamische Staaten und Verbände in den vergangen Jahrzehnten Menschenrechtserklärungen verabschiedet haben. Doch unterscheiden sich diese insofern von den zugrunde liegenden UN-Menschenrechtsdeklarationen, als dass sie auf Koran und Scharia basieren: In allen islamischen Deklarationen wird explizit betont, dass die genannten Rechte und Freiheiten der islamischen Scharia unterliegen. So wurde unter dem Druck der Ereignisse vom 11. September 2001 auch vom Zentralrat der Muslime in Deutschland im Februar 2002 eine „Islam-Charta“ verkündet. Sie ist jedoch mehr als unverbindlich, nicht repräsentativ, sehr allgemein gehalten und äußert sich nicht zu vielen speziellen Problemen der islamischen Diaspora.

Wie die Menschen­rechte durch­ge­setzt werden können

Sind Bedingungen vorstellbar, unter denen die Scharia reformiert und an westlich-universale Menschenrechtsstandards angepasst werden könnte? Die Antwort auf diese Frage muss mehr als zurückhaltend ausfallen. Der eklatanteste Mangel des islamisches Rechts besteht darin, dass es den jeweiligen Entwicklungen nicht dynamisch angepasst werden kann, sondern sich als Botschaft ewiger göttlicher Offenbarung versteht, die sich jeder Veränderung entzieht. Es beruht nicht – wie das westliche Rechtsverständnis – darauf, dass der Mensch sich irren kann, sondern, dass Allah als Urheber der Gesetze unfehlbar ist. Es bezweckt nicht die Lösung sozialer Probleme, sondern im Wesentlichen die Regelung der Beziehung des Gläubigen zu Allah, damit er sein Leben auf dieser Welt ordnen und dann die Erlösung im anderen Leben erlangen kann. Die Unterwerfung unter das islamische Recht ist für die Muslime also ein Gebot des Glaubens, und wer dagegen verstößt, ist auch vor Allah schuldig. Demzufolge kann es auch keine staatliche Gewalt mit gesetzgeberischer Funktion wie im Westen geben.

Angesichts dieser Sachlage ist es zweifelhaft, ob sich in der Frage der Anpassung des islamischen Rechtsverständnisses an die allgemeinen Standards der Menschenrechte eine Lösung finden lässt. Der einzig realistische Ansatz besteht wahrscheinlich darin, islamische Staaten künftig davon abzuhalten, sich zum Vollstrecker der Scharia zu machen, sie also dazu zu bringen, dass sie sich nicht länger als berufener Arm des Islams verstehen. Eine generelle Abkehr von der Scharia erscheint dagegen in vielen muslimischen Staaten auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar.

Denn individuelle Rechte gegenüber Staat und Gesellschaft gibt es im Islam nicht; zur umma, der islamischen Gemeinschaft, gehören die Menschen als organische Glieder, nicht jedoch als freie Individuen. Das islamische Rechts- und Gesellschaftsverständnis kann freilich durch eine allmähliche, flexiblere Interpretation an das Konzept der individuellen Menschenrechte und bürgerlichen Grundfreiheiten herangeführt werden, indem z.B. die strafrechtlichen Delikte im Koran künftig unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit betrachtet und so an die Moderne angepasst werden und alle unzeitgemäßen Normen der Scharia im Hinblick auf die Menschenrechtserklärungen neu definiert werden. Eine radikalere Lösung bestünde darin, der Scharia ihren Totalitätsanspruch abzuerkennen, ihr also keine Regelungskompetenz für alle menschlichen Lebensbereiche einzuräumen. Dies müsste einhergehen mit einer Reduktion der Scharia auf eine bloß religiöse Ethik. Denn dass der Islam anders ausgelegt und praktiziert werden kann, zeigen die Beispiele Türkei und Tunesien, wo die Scharia für das staatliche Leben keine Rolle spielt.

Ein solcher Prozess hin zur Etablierung einer laizistischen Gesellschaft könnte auch für den Fortbestand eines (toleranteren) Islam in vielen muslimischen Ländern förderlich sein. Denn letztlich wird es auch im Islam auf Dauer nicht möglich sein, die aus der Moderne gespeiste Kritik am Koran zu unterdrücken. Zweifel an dem angeblich vom Himmel gefallenen Buch sind unter muslimischen Intellektuellen sehr viel weiter verbreitet als öffentlich zugegeben wird. Ohnehin wird das traditionelle umma-Konzept zunehmend auch von liberalen Muslimen kritisch hinterfragt. Denn die Berufung darauf wird häufig zur Unterdrückung missliebiger Oppositioneller und zur Missachtung bürgerlicher und politischer Rechte zweckentfremdet. Damit aber Menschenrechte als individuelle Rechte auch im Islam etabliert werden können, ist es notwendig, eine ausgewogene Balance zwischen Pflichten einerseits und Rechten anderseits zu schaffen. Im Prozess der Etablierung der Menschenrechte in islamischen Gesellschaften kann auf die Ethik der Menschenrechte als immanenter Bestandteil der globalen Zivilisation nicht verzichtet werden. Schon der Nachweis einer philosophischen Verwurzelung zumindest grundlegender Menschenrechte in allen Zivilisationen reicht für die Universalität der Menschenrechte aus und entkräftet den unberechtigten Vorwurf, Menschenrechte seien Produkte des „westlichen Kulturimperialismus“. Entgegen der Ansicht der Islamisten muss hier differenziert werden, und zwar zwischen der vorhandenen Dominanz des Westens und der Universalität der internationalen Menschenrechtsstandards. Mit Recht kann der eine Aspekt (die politische Hegemonie des Westens) kritisiert werden; der andere (die Ethik der kulturellen Moderne) ist jedoch elementar und hat universellen Geltungsanspruch.

[1] Alle nachfolgenden Zitate aus dem Koran stammen aus der Übersetzung von Max Henning, Philipp Reclam jun. Stuttgart, durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1991.

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