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Wem die Schulstunde schlägt... Ein aktueller Litera­tur­be­richt

Täuscht der Eindruck oder lassen sich gegenwärtig Ermüdungserscheinungen in der zuvor unerwartet heftig aufgeflammten bildungspolitischen Diskussion feststellen? Dabei ist weiterhin die Frage offen, welche Punkte aus der Reformdebatte am Ende prägend für eine neue deutsche Schulwirklichkeit sein könnten. Ein Blick auf aktuelle Veröffentlichungen zeigt das breite Spektrum von Ideen, die landauf, landab debattiert wurden, deren konkrete Umsetzung aber aussteht.

Eines der Kennzeichen des Post-PISA-Diskurses ist dabei die unreflektierte Kurzatmigkeit, mit der schnelle und möglichst einschneidende Bildungsreformen gefordert werden. Manche Reformvorschläge wirken so, als würde die Reparatur eines havarierten Autos diskutiert. Um so bemerkenswerter, dass es ausgerechnet die Klempner und Mechaniker der deutschen Wirtschaft, nämlich die Unternehmensberater von McKinsey, sind, die jetzt eine nachhaltige Bildungsdebatte initiiert haben:

Nelson Killius/Jürgen Kluge/Linda Reisch (Hg.): Die Zukunft der Bildung, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2002, 225 5., ISBN 3-518-12289-4; 10,- Euro

Die Autoren des Bandes treten einen Schritt zurück und fragen nach den ethischen, materiellen, individuellen und pädagogischen Voraussetzungen von Bildung im 21. Jahrhundert. So wehrt sich der Soziologe Hans Joas dagegen, die Geschichte von Bildung in der postindustriellen Gesellschaft nur als Verfallsgeschichte zu schreiben und setzt dieser kulturkritischen Perspektive seinen eigenen Ansatz der Wertevermittlung in der fragmentierten Gesellschaft entgegen: im „Zeitalter der Kontingenz“ müsse Wertbildung unter den Kategorien von „Prozedualisierung, Wertegeneralisierung und Empathie“ erfolgen. Der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß plädiert in seinem Beitrag über Bildung und ethische Maßstäbe dafür, das Orientierungswissen und die praktische Vernunft gegenüber dem wissenschaftlich-technischen Verstand zu stärken. Der Neurophysiologe Wolf Singer fragt, unter welchen Bedingungen der Mensch wann was lernen kann, während Zygmunt Bauman sich in brillanter Manier mit den Prinzipien der verantwortlichen Wissenschaft auseinandersetzt. Gemeinsam ist allen Aufsätzen, dass sie den Bildungsbegriff grundlegend auf den Prüfstand stellen und damit Ansätze zu einer ganzheitlichen Neu-Definition bieten. Im Anschluss an die Beiträge, die durchgehend als Vorträge bei den Werkstattgesprächen der Initiative McKinsey bildet gehalten wurden, dokumentiert das Buch ein von Jürgen Baumert, Johannes Fried, Hans Joas, Jürgen Mittelstraß und Wolf Singer verfasstes Manifest, das Grundfragen einer zukünftigen Bildungsdiskussion aufzeigt und konkrete Forderungen für deren Ausgestaltung erhebt.

Einen krassen Gegenentwurf zu diesen reflexiven Visionen eines humanistischen Bildungswesens bietet der Praktikerband von

Bernd Fahrholz/Sigmar Gabriel/Peter Müller (Hg.): Nach dem PISA-Schock. Plädoyers für eine Bildungsreform, Hoffmann und Campe: Hamburg 2002, 319 S., ISBN 3-455- 10415-0; 14,90 Euro

Hier dürfen Angehörige der deutschen Feuilleton-Prominenz und des big business mal sagen, was sie an Bildung in Deutschland schon immer gestört hat. Zu den usual suspects der Beiträger gehören Sigmar Gabriel, Peter Müller, Guido Westerwelle, Jürgen Rüttgers und andere Spitzenpolitiker (auch die Bildungsministerin Bulmahn ist vertreten), vor allem aber auffällig viele Vertreter der Großindustrie (BDI-Präsident Rogowski, Porsche-Chef Wiedeking, Ex-Bertelsmann-Boss Middelhoff). Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: natürlich hat auch die Wirtschaft legitime Interessen am Bildungssystem. Doch ob das Buch außer der ritualhaften Beschwörung des überfälligen „Rucks“ bei den Bildungsreformen einen roten Faden hat, kann bezweifelt werden. Eher wirkt es so, als ob jeder gegen die Barrikaden anrennt, die den eigenen Zielen gerade am stärksten im Weg stehen. Prägnant in Erinnerung bleibt von der Lektüre vor allem Guido Westerwelles Forderung, die „Kuschelecken-Pädagogik“ zugunsten des rauen, aber ehrlichen Wettbewerbs abzuschaffen. Ob er sich damit als potenzieller Bildungsminister empfohlen hat?

Einen kompakten Reformvorschlag für das marode deutsche Erziehungssystem haben die beiden Bildungsberater Kurt Bohr und Rüdiger Pernice entwickelt. Würde man das Buch auseinander reißen und die einzelnen Teilkapitel an die Mitglieder des Bundeskabinetts verteilen, wüsste jeder Fachminister sofort, was er bzw. sie an Hausaufgaben abzuarbeiten hätte:

Kurt Bohr/Rüdiger Pernice: Absturz in die zweite Liga? Plädoyer für einen Kurswechsel in der deutschen Bildungspolitik, Nomos: Baden-Baden 2002, 245 S., ISBN 3-78908207-4; 19,90 Euro

Die Autoren fordern ein grundsätzliches Umdenken in der Bildungspolitik, verharren dabei aber meist im dominierenden Management-Diskurs. Es geht um Machbarkeit und Finanzierbarkeit, um Zuständigkeiten und Zustimmung. Der Blick für’s große Ganze geht dabei mitunter verloren. Im Mittelpunkt steht der in der öffentlichen Diskussion überstrapazierte PISA-Schock und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, hinter die pädagogische oder humanistische Überlegungen vielfach zurücktreten.

Der Reiz des Buches liegt in dem konkreten und konzisen Reformvorschlag, der hier unterbreitet wird: Er erstreckt sich auf alle Bereiche des Bildungssystems — vom Kindergarten bis zum Professorenamt. Kompakt durchdekliniert wird diese Reform an Haupt und Gliedern gleich zu Beginn des Buches in 58 zusammenfassenden Thesen bzw. Forderungen, z.B. nach der Abschaffung des ineffizienten und ungerechten dreigliedrigen Schulsystems oder nach einer Re-Pädagogisierung der Grundschullehrerausbildung. Würde von diesem Programm auch nur die Hälfte umgesetzt — das Land sähe anders aus.

Das folgende Buch hat ein Manager geschrieben:

Jürgen Kluge: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept, Campus: Frankfurt/Main/New York 2003, 241 S., ISBN 3-593-37189-8; 24,90 Euro

Kluge, Chef von McKinsey Deutschland, macht auch keinen Hehl daraus, dass die deutsche Bildungsmisere für ihn vor allem in der Verschwendung von Ressourcen und Humankapital besteht, der Kern des Problems also ein ökonomischer ist: „Bildungsarmut erzeugt Wachstumsarmut.“ Und trotzdem hat Kluge ein kluges Buch geschrieben. Denn ein Großteil unserer Bildungsprobleme ist ja tatsächlich finanzieller oder administrativer Art —warum sollte man dann nicht einen Unternehmensberater im Diskurs ernst nehmen? Kluges Rezepte — Lernen schon in frühester Kindheit, mehr Ganztagsschulen, mehr Autonomie für die einzelnen Bildungseinrichtungen bei gleichzeitiger Einführung zentraler Qualitätsstandards — werden auch von vielen Pädagogen für richtig gehalten. Zudem bringt Kluge eine international vergleichende Perspektive in die Debatte ein, die deutlich macht, in welchen Feldern wir von unseren europäischen Nachbarn lernen können, und wo das deutsche System (wie bei der dualen Berufsausbildung) nach wie vor weltweit vorbildlich ist. Benchmarking im Bildungsbereich kann also durchaus nützlich sein.

Ein elder statesmen der Bildungsdebatte konnte in diesen Zeiten nicht abseits stehen:

Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken. Eine Übung in pädagogischer Vernunft, Beltz: Weinheim 2003, 279 S., ISBN 3-407-22119-3; 12,90 Euro

Dass der Titel manchem altvertraut vorkommt, ist kein Wunder: Das Buch ist zum ersten Mal vor genau zehn Jahren erschienen. Nun hat es der Autor um eine 48seitige Vorrede ergänzt und neu auflegen lassen. Welch wohltuenden Kontrast bietet Hentigs Prosa gegenüber dem technizistischen Mainstream-Diskurs! Der Bielefelder Bildungsreformer beschwört einmal mehr die Schule als Polis, als Gesellschaft im Kleinen, die von gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme geprägt sein muss. Doch Hentig sieht auch die Krisensymptome: „Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.“ Wer den Geist einer humanistischen Vision von Bildung atmen will, sollte zu diesem Buch greifen.

Vom Praktiker zum Theoretiker: Der Nachlass des 1998 verstorbenen Soziologen Niklas Luhmann enthielt eine Reihe von nahezu fertig gestellten Manuskripten, darunter auch ein Buch zu Bildung und Erziehung:

Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft (hg. von Dieter Lenzen), Suhrkamp: Frankfurt/Main 2002, 236 S., ISBN 3-518-29193-9; 11,- Euro

Im Zentrum der Luhmannschen Systemtheorie steht die Frage nach der Selbstreproduktion von Gesellschaft. Keine Frage also, dass das Erziehungssystem aus dieser Sicht eine zentrale Rolle spielt, werden doch hier die Grundsteine für die Adaptation der nachwachsenden Generationen an das bestehende System gelegt. Wer allerdings in dem Buch große Gesellschaftstheorie im Makro-Modus erwartet, dürfte enttäuscht werden. In Mikro-Analysen widmet sich Luhmann ganz konkreten Momenten der Situation Erziehung, etwa der Interaktion von Lehrern und Schülern. Hier allerdings brilliert Luhmann, in dem er Rollenverhältnisse und wechselseitige Erwartungen analysiert und aufzeigt, dass die Rolle des Lehrers in der Unterrichtssituation eine gänzlich andere ist, als sie ihm abstrakt in den Lehrplänen der Kultusministerien zugeschrieben wird. Ein Vademekum, nicht nur für soziologisch interessiertes Lehrpersonal.

Auch die Redaktion der Berliner Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation hat sich dem Bildungsthema gewidmet:

Ästhetik & Kommunikation, Heft 120, 34. Jg., Frühjahr 2003: Holzweg Bildung, Verlag
Ästhetik & Kommunikation: Berlin 2003, 126 S., ISSN 0341-7212; 11,- Euro

Was im kryptischen Hefttitel mit „Holzweg“ gemeint ist, wird aus dem Heft nicht deutlich. Im Gegenteil: Lauter bildungsbeflissene Autoren schreiben dort begeistert über Bildung — als Aufforderung zur Abkehr von ihr kann das nur schwerlich gewertet werden. Die Lektüre des Heftes ist gleichwohl interessant: Dort finden sich zwei bemerkenswerte Beiträge über die zunehmende Kommodifizierung und Ökonomisierung der deutschen Bildungseinrichtungen (Winfried Pauleit und Dierk Spreen), ein schöner Rückblick von Jens Hacke auf den 1978 von konservativen Professoren organisierten Kongress Mut zur Erziehung und die linken Reaktionen darauf, konkrete Handreichungen einer Lehrerin für das Überleben im Schulalltag (Ilse Bindseil) und ein trinationaler Schulvergleich aus der Feder einer Elftklässlerin (Thea Hoffmann-Axthelm). Gerade diese anarchisch-disparat anmutende Heftkonzeption sichert Ä&K einmal mehr Avantgarde-Anspruch: Sammelbände zur Bildungspolitik gibt es schließlich genug.

Eine an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main entstandene Dissertation beschäftigt sich mit einem pädagogischen Laboratorium der besonderen Art: Die Autorin untersucht, welche Folgen die Einführung des westdeutschen Bildungssystem in Ostdeutschland nach 1990 für die Chancengleichheit hatte:

Susanne von Below: Bildungssysteme und soziale Ungleichheit. Das Beispiel der neuen Bundesländer, Leske + Budrich: Opladen 2002, 236 S., ISBN 3-8100-3531-9; 24,90 Euro

Untersucht wurde die Bildungsbeteiligung der 16-19jährigen für die Jahre 1991 bis 1997 — mit teilweise aufschlussreichen Ergebnissen. So sind — trotz des ebenso wie im Westen ausschlaggebenden Faktors der Bildung der Eltern — Kinder von Arbeitern relativ geringer benachteiligt als ihre westlichen Mitschüler. Es lässt sich zudem ein deutlicher Vorsprung von Mädchen im ostdeutschen Bildungssystem konstatieren, der noch stärker als in Westdeutschland ausfällt: Man könne angesichts der Überrepräsentiertheit der Mädchen von einer „Benachteiligung der Jungen“ (185) sprechen. Insgesamt lassen sich die Unterschiede in der Beteiligung aber vor allem auf die verschiedenen westdeutschen Bildungssysteme zurückführen, die in den fünf ostdeutschen Ländern eingeführt wurden: traditionell-konservativ (Mecklenburg-Vorpommern), traditionell-liberal bzw. reformiert-konservativ (Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt) und reformiert-liberal (Brandenburg, Berlin). Damit nähert sich der Osten dem Westen auch in diesem Punkt an.

Das Problem der Chancengleichheit treibt auch die Autorinnen und Autoren des folgenden Bandes um:

Marita Kampshoff/Beatrix Lumer (Hg.): Chancengleichheit im Bildungswesen, Leske + Budrich: Opladen 2002, 349 S., ISBN 3-8100-3566-1; 29,90 Euro

Bei der Lektüre kann man auf einige spannende Fragestellungen stoßen. So untersucht Sigrid Metz-Göckel das Verhältnis von Elite und Geschlecht sowie die bekannte Divergenz zwischen Bildungs- und Karriereerfolg bei Frauen aus bildungssoziologischer Perspektive. Irmhild Kettschau widmet sich den Benachteiligungen von Frauen in Männerberufen, Heidrun Hoppe den Gefährdungen ihrer promovierenden Geschlechtsgenossinen. Aber auch Mathematik- und Musikunterricht sowie der Bereich der neuen Medien eignen sich für die Darstellung spezifischer Chancen und Benachteiligungen von Mädchen. Insgesamt bietet der Band einen guten Überblick über die neuere Forschung. Am Ende steht ein Vergleich von Chancengleichheit und ihrer Umsetzung in Europa.

Die als Globalisierung bezeichnete Entwicklung hat auch Rückwirkungen auf die politische Bildung. Denn Globalisierung kennzeichnet ja nicht nur eine neue Form des Kapitalismus, sondern hat auch tief greifende Folgen für die Gesellschaft und die Handlungsfähigkeit des Individuums in ihr. Genannt seien nur eine rapide ablaufende ,Internationalisierung von Kultur und Berufsleben, eine zunehmend entkoppelte „Folgenreflexivität“ (Horst Pöttker) politischer Aktionen, neue Aushandlungsmechanismen auf der internationalen Bühne und ein globalisierter Rechtsrahmen. Politische Bildung muss dem Rechnung tragen; in ihren Inhalten — Stichwort Eurozentrismus, in ihren Formen — Stichwort computervermittelte Kommunikation, in ihren Zielen — Stichwort Autonomie des Individuums. Untersucht werden diese Herausforderungen in:

Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.): Politische Bildung und Globalisierung, Leske + Budrich: Opladen 2002, 320 S., ISBN 3-81000-2602-6; 18,- Euro

Es ist ein bunter Strauß, den die Autorinnen und Autoren offerieren. Die Herausgeberin Hentges etwa untersucht den in den letzten Jahren erfolgten Wandel der Bundeszentrale für politische Bildung, während sich Herausgeber Butterwegge fragt, wie sich die Bildungsarbeit als Abwehrwaffe gegen den weltweiten Siegeszug neoliberaler Ideologie ausgestalten lässt (vgl. auch seinen Beitrag in diesem Heft der vorgänge). Weiter stehen im Mittelpunkt: Wege zu einer geschlechterdemokratischen Politiksicht (Annette Kuhn), Rechtsextremismus und Antirassismus (Albert Scherr und Rudolf Leiprecht) sowie die Zukunft der politischen Bildung im 21. Jahrhundert. Bemerkenswert ist vor allem der
Einleitungsbeitrag von Wolfgang Sander über die „Geschichte der politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft“.

Quasi die empirische Unterfütterung für die andauernde Notwendigkeit politischer Bildung liefert der folgende Band:

Detlef Oesterreich: Politische Bildung von 14-Jährigen in Deutschland. Studien aus dem Projekt Civic Education, Leske + Budrich: Opladen 2002, 286 S., ISBN 3-81003507-6, 14,90 Euro

Bei dieser Studie handelt es sich um die deutschen Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie Civic Education, die ab 1994 von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement in Den Haag durchgeführt wurde. Den deutschen Teil der Untersuchung verantwortete das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Abgefragt wurde detailliert, über welches politische Wissen die Generation der 14-Jährigen in Deutschland verfügt, wie die politische Handlungsbereitschaft dieser Jugendlichen ausgeprägt ist, welche Bedeutung sie etwa der demokratischen Mitbestimmung in der Schule zuweisen und welche politischen Organisationsformen sie bevorzugen. Insgesamt stellt die Studie dem deutschen Politik-Unterricht ein solides Zeugnis aus: Die deutschen Schüler wissen in etwa so viel über das sie umgebende politische System wie ihre Altersgenossen in anderen OECD-Ländern; bei einigen Indikatoren (etwa der Bereitschaft zur Mitarbeit in NGOs) fallen ihre Kompetenz und Aktivität sogar überdurchschnittlich aus.

Der Heidelberger Erziehungswissenschaftler Volker Lehnhart hat einen Versuch unternommen, die Rolle des Menschenrechtsdiskurses für die Erziehungswissenschaften zu systematisieren:

Volker Lenhart: Pädagogik der Menschenrechte, Leske + Budrich: Opladen 2003, 192 S., ISBN 3-8100-3726-5; 13,90 Euro

Nach einer Einführung in die Institutionalisierungsprozesse, der Menschenrechte seit 1948 stellt der Autor die verschiedenen internationalen Dokumente zur Menschenrechtsbildung vor, die in den 1990er Jahren verabschiedet worden sind (so von der Unesco 1993/94 oder von Amnesty International 1996). Anhand von Fallbeispielen aus seiner eigenen Lehrerfahrung schildert Lenhart die Möglichkeiten von Menschenrechtspädagogik; hinzu kommen Analysen verschiedener Lehrmaterialien sowie der Schwierigkeiten in der Ausbildung in „menschenrechtsrelevanten Berufsfeldern“ (Polizisten, Soldaten, Sozialarbeiter usw.). Am Ende steht ein umfangreicher Abschnitt über Kinderrechte. Hervorzuheben ist Lenharts integrierender Ansatz: Soziologie, Pädagogik und Rechtswissenschaften werden von ihm in einen engen, interdisziplinären Zusammenhang gestellt.

Bildung für Nicht-Kinder: 1953 wurde in Nordrhein-Westfalen das erste Erwachsenenbildungsgesetz in der Bundesrepublik verabschiedet. Es sah die Förderung von Volkshochschulen, Heimvolkshochschulen und sonstigen Volksbildungseinrichtungen vor. Diese Einrichtungen stießen mit ihrer Tätigkeit bald in ein Spannungsfeld von briti-
schen Reeducation-Bemühungen, Ausläufern der Jugend- und Arbeiterbewegung sowie mentalen und personellen Überresten der NS-Diktatur. Mehr als gründlich und facettenreich ausgeleuchtet wird dies jetzt in:

Paul Ciupke/Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich/Norbert Reichling (Hg.): Erwachsenenbildung und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen. Themen — Institutionen — Entwicklungen seit 1945, Klartext Verlag: Essen 2003, ISBN 3-89861-230-9; 17,90 Euro

Historiker, Sozialwissenschaftler, Bildungshistoriker und in der Erwachsenenbildung Tätige beleuchten in einer Vielzahl von Aufsätzen die Geschichte der Erwachsenenbildung in Nordrhein-Westfalen von 1945 bis in die Gegenwart: Es werden die Leistungen der Erwachsenenbildung im Hinblick auf die Demokratisierung der politischen Kultur und die Öffnung der sozialen Milieus beleuchtet, die Wechselwirkungen zwischen Weiterbildung und Öffentlichkeit, Bildungsarbeit und gesellschaftlichem Wandel untersucht, aber auch beispielhaft Personen, Institutionen, Orte und Arbeitsfelder portraitiert. So erinnert sich der Historiker Reinhard Rürup z.B. „an die Befreiung aus politischen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten“ im Zuge der Diskussionen auf dem Jugendhof Vlotho, und der Politikwissenschaftler Thomas Meyer thematisiert, warum politische Bildung sich in einer Dauerkrise befindet, wie man dem Abhilfe verschaffen kann und wo die Zukunft der politischen Erwachsenbildung liegt. Insgesamt bietet der Band weit mehr als „nur“ eine Geschichte der politischen Bildung in Nordrhein-Westfalen — verhandelt wird hier die politische Kultur der Bundesrepublik.

Sie ist in Deutschland ein Mythos, doch über ihre Geschichte war bislang wenig bekannt — die Studienstiftung des deutschen Volkes. 1925 in Dresden begründet, 1934 von den Nationalsozialisten aufgelöst und 1948 in Westdeutschland wiedererstanden, ist sie die bekannteste Elitenschmiede Deutschlands und die älteste zentrale Institution zur Förderung des Hochschulstudiums. Jetzt hat sie ihren ersten Biografen gefunden:

Rolf-Ulrich Kunze: Die Studienstiftung des deutschen Volkes seit 1925. Zur Geschichte der Hochbegabtenförderung in Deutschland, Akademie Verlag: Berlin 2001, 418 S., ISBN 3-05-003638-9; 64,80 Euro

Der Autor, wie sein Bruder, der Rockmusiker Heinz-Rudolf Kunze, selbst Stipendiat der Stiftung, beschreibt in dieser als Habilitationsschrift entstandenen Arbeit die Entwicklung der Studienstiftung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Die Verlaufsform der Studie folgt dabei den unterschiedlichen Verständnissen von Begabung und Förderungswürdigkeit, die zu verschiedenen Zeiten dominierten: Zu Beginn, in der krisengeschüttelten Weimarer Republik, war die Studienstiftung vor allem eine studentische Selbsthilfeeinrichtung, die Arbeiter- und Mittelschichtskindern ein Hochschulstudium ermöglichen sollte. Nach 1945 dominierte dann eine Begabtenauslese, die frei von allen sozialen Erwägungen war und sich an alten bildungsbürgerlichen Idealen orientierte. Ab 1970 verschrieb sich die Institution unter ihrem neuen Generalsekretär Hartmut Rahn dann der Hochbegabtenförderung nach quasi-wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das Ideal dieser professionalisierten Studienstiftung beschreibt der Autor als „soziale und zivile Leistungs- und Wissensgesellschaft mit Chancen für jede Form von Begabung.” Kunzes Studie, die auch die Studienkarrieren von Stipendiaten aus unterschiedlichen Jahrgängen detailliert dokumentiert, kann allerdings nicht mehr als ein Auftakt zu weiteren Forschungen sein. Der Autor bietet eine Institutionengeschichte, vermag aber über die gesellschaftliche Wirksamkeit der von der Studienstiftung und ihren Absolventen vertretenen Ideale wenig zu sagen.

Krisen und Umbrüche des deutschen Bildungssystems sind keineswegs nur ein gegenwärtiges Phänomen. Der Blick zurück lohnt deshalb in jedem Fall — zum Beispiel auf die reformatorischen und humanistischen Neuerungen im 15. und 16. Jahrhundert. Der institutionelle wie inhaltliche Wandel in Schule und Universität vor fünfhundert Jahren hat jetzt eine ebenso leicht zugängliche wie umfassende Darstellung gefunden:

Notker Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, Oldenbourg: München 2003 [= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 64], 170 S., ISBN 3-486-55592-8; 19,80 Euro

Der emeritierte Professor für Geschichte der frühen Neuzeit in Frankfurt/Main und profilierte Kenner der Epoche schildert die Entstehung der Universitäten aus den Kloster-und Domschulen, die späteren unterschiedlichen konfessionellen Ausrichtungen der Universitäten, das im 16. Jahrhundert neu entstehende evangelische Schulwesen. Gelehrte wie Erasmus von Rotterdam oder Philipp Melanchton werden von ihm ebenso vorgestellt wie die allmähliche Entwicklung eines Stipendienwesens. Dem didaktisch bewährten Konzept der Buchreihe folgend, gliedert sich Hammersteins Untersuchung in einen ersten darstellenden und einen zweiten rezeptionsgeschichtlichen Teil. Am Ende wird in einer umfangreichen Bibliographie die wichtigste Literatur zu einzelnen Themenkomplexen vorgestellt. Hammerstein zeigt, wie ernst auch in den katholischen Ländern des Reichs die Bildungsanstrengungen genommen wurden — und wie Schule und Universität damals noch als Einheit verstanden wurden.

Problematisch erscheint dagegen ein Band, der soeben in der gleichen Buchreihe erschienen ist — ein einziges zusätzliches Wort im Titel verdeutlicht sein Dilemma:

Frank-Lothar Kroll: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Oldenbourg: München 2003 [= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 65], 150 S., ISBN 3-48655002-0; 19,80 Euro

Nun wäre schon allein eine bildungs- und wissenschaftshistorische Synthese des vergangenen Jahrhunderts auf hundertfünfzig Seiten eine große Leistung. Aber dieses Projekt noch um den Faktor Kultur zu erweitern, erscheint für einen Einführungs- und Orientierungsband dann doch reichlich vermessen. Und so ergibt sich bei der Lektüre ein negativer Eindruck (zumindest bezogen auf den darstellenden Teil des Buches, der in fünf Kapiteln Kaiserreich, Weimar, NS, Bundesrepublik und DDR thematisieren will): Vieles wird kursorisch gestreift, kaum etwas tiefer analysiert. Den Schwerpunkt legt der Autor auf die Inhalte; Institutionen werden dagegen weitgehend ignoriert. Das erweist sich als folgenschwere Verkürzung, die in einem als Überblick gedachten Buch noch bedauerlicher ist. So fallen für die Zeit zwischen 1900 und 1990 zwar viele bekannte Namen, wird vieles angerissen; den übergreifenden Prozessen und Zusammenhängen, Kontinuitäten und Brüchen vermag Kroll auf diese Weise nicht gerecht zu werden — alles bleibt zwangsläufig an der Oberfläche.

Wohl dem, der im Laufe seines Bildungsweges irgendwann auf einen Gelehrten trifft? Mit einem Fragezeichen muss man diese These wohl versehen, schaut man sich zumindest die zahllosen ironischen Beschreibungen von Wissenschaftlern an, die Romane, Erzählungen und andere Texte seit dem 18. Jahrhundert anreichern. Der Literaturwissenschaftler Alexander Košenina hat sie in einer bewundernswerten Fleißarbeit zusammengetragen und systematisiert:

Alexander Košenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Wallstein Verlag: Göttingen 2003, 487 S., ISBN 3-89244-531-1; 49,- Euro

Gelehrtensatire ist eine durchweg gelehrte Angelegenheit, was der Autor überzeugend unter Beweis stellt; er meistert diese Herausforderung bravourös, inklusive Register und ausführlichem Anmerkungsapparat — und zahllosen Beispielen. Seine Gliederung ist einleuchtend: Erstens Physiognomien (mit Gestalten wie dem buchbesessenen Kien aus Canettis Blendung), zweitens Gegenstände und Verfahren (über Zitat- und Registersatiren ebenso wie die Philosophenparodien des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai) und schließlich drittens Institutionen: Unter dieser Überschrift finden sich u.a. solche Preziosen wie Eckhard Henscheids 10:9 für Stroh, die urkomische Nacherzählung des Promotionsverfahren des früheren FAZ-Redakteurs Gustav Seibt in Konstanz, in Anwesenheit von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher; die verfremdeten Namen der Beteiligten sind, wie zumeist bei Gelehrtensatiren, leicht zu erraten. Das Buch ist jedenfalls eine Fundgrube für jeden, der die skurrilen Seiten der höheren Bildung erfahren bzw. erlitten hat — und/oder zu schätzen weiß.

Wer erschöpft ist von den bildungspolitischen Abwehrkämpfen der letzten Jahre gegen eine zunehmende Ökonomisierung der Schulen, dem Nützlichkeitswahn der Curricula, dem sei zu guter Letzt ein zauberhaftes Büchlein anempfohlen, dass ermunternd wirkt:

Ernst August Evers: Über die Schulbildung zur Bestialität. Nachdruck der Edition Aarau 1807. Eine Streitschrift zugunsten der humanistischen Bildung, hg. v. Michele C. Ferrari, m. e. Vorw. v. Manfred Fuhrmann, Manutius: Heidelberg 2002, 82 S., ISBN 3925678-95-6; 19,80 Euro

Der 1779 in Hannover geborene Evers, Schüler des Hallenser Altphilologen Friedrich August Wolf, war 1804 als Leiter der Kantonsschule in das schweizerische Aarau gekommen. Dort verfolgte er die Sache eines neuhumanistisch geprägten Schulwesens, das dem Menschen zur Vervollkommnung seiner Fähigkeiten am gemäßesten sei. An seiner ironischen Streitschrift, jetzt verdienstvollerweise von einem Heidelberger Verlag wiederaufgelegt, vermag man zu erkennen, dass Bildungsfragen schon immer zur Polemik taugten, heute wie vor 200 Jahren. Evers schildert in seiner Parodie das Streben der Menschheit nach Bestialität als ihrer höchsten Bestimmung, befördert durch Schulen, Lehrer und Gesellschaften, die auf die Berufspraxis, den Nutzen, die Ökonomie fixiert seien: „Was bringt’s mir ein?“ sei die alles bestimmende Frage. In der Evers’schen Anti-Utopie sind deshalb die Lehrer von der Gelehrsamkeit tunlichst fernzuhalten; die klassische Antike darf keine Rolle mehr spielen, sie würde die Kinder nur ablenken. So manchem Unternehmensberater, der sich momentan mit Eifer und Effizienzfiktionen im Kopf über das Bildungswesen hierzulande hermacht, möchte man dieses Pamphlet zur nachdenklich stimmenden Lektüre auf den Nachttisch legen.

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