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Gewerk­schaften und Zivil­ge­sell­schaft. Gesell­schaft­liche Fundamente prüfen und Zukunfts­chancen nutzen

vg. Die deutschen Gewerkschaften stecken in einer Krise. Neue Konzepte und eine Öffnung der Organisationen zu anderen politischen Akteuren sind gefragt. Das Forum Zukunft der IG-Metall-nahen Otto Brenner-Stiftung ist ein Diskussionskreis, dem Menschen aus Universitäten, Verbänden, Kirchen und Politik angehören. Es debattiert gewerkschaftliche Zukunftsfragen und begleitet kritisch die gewerkschaftliche Reformdebatte.

Der hier abgedruckte Diskussions-Impuls aus dem Juni 2003 will den Diskurs um die Ausgestaltung einer demokratischen Zivilgesellschaft und die Rolle der Gewerkschaften beim Einsatz für Demokratie und Gerechtigkeit anregen und gleichzeitig eine breitere Diskussion über die Zukunft der Gewerkschaften anstoßen.

Der Begriff „Zivilgesellschaft“ erlebte in den vergangenen Jahren eine Renaissance; als viel versprechendes – gelegentlich auch vieldeutiges – Konzept. Die Mitwirkung und Beteiligung der Menschen an der politisch-gesellschaftlichen Gestaltung steht neben der – und gelegentlich gegen die – Autorität des Staates im Zentrum der zivilgesellschaftlichen Leitidee.

Die soziale und demokratische Verfassung der Arbeitsgesellschaft wird von Wissenschaft, Politik und Medien als wichtige Errungenschaft gewürdigt. Die Gewerkschaften haben daran einen maßgeblichen Anteil: Sie haben entscheidend mit dafür gesorgt, dass die Individuen überhaupt Teilhaberechte in der Gesellschaft wahrnehmen können – eine der wesentlichen Voraussetzungen für Zivilgesellschaft. Die Übermacht der Märkte droht aber die Fundamente einer stabilen demokratischen Zivilgesellschaft zu unterspülen.

Heute steht der Begriff der Zivilgesellschaft vor allem für eine soziale Utopie, die darauf setzt, dass der globalen ökonomischen und politischen Integration durch die soziale Integration begleitet werden muss. Es geht um das solidarische Zusammenleben von Menschen in einer sozialen Demokratie, die Elemente von Markt und Staat vereint. Auch für die Zukunft gilt, dass die Zivilgesellschaft sozialer Ordnungssysteme und Institutionen bedarf, um ihre Kraft überhaupt entfalten zu können. Gewerkschaften spielen also als Garanten von Gerechtigkeit eine bedeutende Rolle. Die Weltbank stellt in einer aktuellen Studie fest: In Ländern ohne oder mit schwachen Gewerkschaften sind die Arbeits- und Lebensbedingungen schlechter, Ungerechtigkeiten größer und die Menschenrechte bedroht.

In den vergangenen Jahren sind angesichts der ökonomischen Globalisierung und der drohenden ökologischen Verwüstung neue Akteure in der Zivilgesellschaft aktiv geworden. Diese gesellschaftlichen Gruppen, sozialen Bewegungen, Initiativen und Organisationen spielen bei der Gestaltung des Projektes „Zivilgesellschaft“ eine wichtige Rolle. Unabhängig davon gilt aber weiterhin: In modernen Gesellschaften sind viele wichtige Teilhaberechte von der Integration der Menschen in das Erwerbssystem abhängig; auch die Informations- und Wissensgesellschaft ist zunächst eine Arbeitsgesellschaft.

Der Wandel der Industrie- und Arbeitsgesellschaft, die Folgen der Globalisierung und der technischen Entwicklung verlangen von den Gewerkschaften Veränderungen und programmatische Anpassung. Sie sind gefordert, sich selbst zu erneuern und glaubwürdige gesellschaftliche Reformperspektiven zu entwickeln, ohne ihre emanzipatorische Substanz aufzugeben. Die Gewerkschaften sollten zudem mit den neuen Akteuren der Zivilgesellschaft ihre Positionen und Zukunftsideen intensiver austauschen und gemeinsame Programm-Plattformen entwickeln.

Vor allem zwei Fragen sind es, die nicht nur die Politik, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteure wie die Gewerkschaften alsbald beantworten müssen. In beiden Bereichen werden kreative, konzeptionell durchdachte und zukunftsfähige Ideen dringend gebraucht, um die fundamentalen Veränderungen in Wirtschaft und Politik sozial und gerecht (mit-) zu gestalten und den Sozialstaat als Errungenschaft zu erhalten und zu reformieren.

Zum einen geht es um die gerechte Beteiligung möglichst Vieler an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben. Die politische Arena darf nicht denjenigen überlassen werden, die ihre Medienmacht und ihren öffentlichen Einfluss massiv einsetzen, um ihre Botschaften als die einzig gültigen darzustellen. Das rationale Modell der Aufklärung und das Vertrauen auf das bessere Argument darf nicht aufgegeben werden.

Zum anderen geht es um die soziale Absicherung und gesellschaftliche Integration derjenigen, die in der Erwerbsgesellschaft am Rande stehen: also Menschen mit nicht dauerhaft existenzsichernder Erwerbsarbeit. Die jetzt geplanten Reformen des Arbeitsmarktes bergen die Gefahr einer Entwicklung hin zum amerikanischen Modell der working poor; das heißt, immer mehr Menschen aus dem unteren Drittel der Gesellschaft werden ihre Arbeitskraft über das übliche Maß hinaus bereitstellen, aber trotzdem damit ihren Lebensunterhalt nicht alleine finanzieren können. Gleichzeitig wird das obere Drittel der Gesellschaft von dieser Entwicklung profitieren. Um die soziale Balance wieder herzustellen, wird vor allem auch diese Gruppe einen finanziellen Beitrag für die Gesellschaft leisten müssen.

Wir stellen fest:

Eine entwickelte Zivilgesellschaft, die auf die Eigenständigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger ebenso setzt wie auf ihren solidarischen Zusammenhalt, bedarf starker und zukunftsfähiger Gewerkschaften. Wer ihre Entmachtung und „Ausmerzung“ fordert, will keine Entfaltung der demokratischen Zivilgesellschaft, sondern die Entwicklung hin zu einer unsozialen und ungeregelten Marktgesellschaft. Zu einer funktionierenden Zivilgesellschaft gehören auch starke, reformbereite und zukunftsfähige Gewerkschaften. Diese müssen sich allerdings mit überzeugenden Konzepten und glaubwürdigen Ideen präsentieren. Nur so kann die notwendige Begeisterung und Überzeugung bei ihren Mitgliedern und Unterstützern entstehen, ohne die eine wirksame, gestaltende Rolle in der Zivilgesellschaft nicht möglich ist.

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