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Das Völkerrecht der gerechten Krieger Oder: Wie alt ist das, neue Europa´?

vorgängevorgänge 16311/2024Seite 103-109

Der monatelange Countdown zum jüngsten Irakkrieg hat zu erstaunlich intensiven Debatten über das Völkerrecht und, genereller noch, über die normativen und institutionellen Grundlagen der Organisation des Zusammenlebens der Völker und Staaten in globalem Maßstab geführt. Eine transnational debattierende Öffentlichkeit, deren Nicht-Existenz in Wissenschaft und Politik oftmals bedauert wurde, hat sich, sehr zum Missmut mancher Regierungen, in unerwarteter Weise entwickelt. Auch wenn die plötzlich erwachte ,globale Öffentlichkeit‘ nur von kurzer Dauer sein und schnell von alten und neuen Institutionen absorbiert und kanalisiert werden wird, stellt sie doch eine wichtige Erfahrung dar, die für das weitere politische Denken und Handeln relevant sein wird. Dies gilt um so mehr, als die Probleme, um die es in dieser Debatte über den konkreten Anlass hinaus — die Frage der Legitimität des Irakkrieges — geht, die politische Agenda der nächsten Jahre und Jahrzehnte in weitem Maße bestimmen wird.

Glanz und Elend der aktuellen Völker­rechts­de­batten

Bereits die Auseinandersetzungen, die in der politischen Öffentlichkeit und im UN-Sicherheitsrat nach dem Ende der Kampfhandlungen um die Verantwortung der ‚Siegermächte‘ stattgefunden haben, zeigen an, dass uns die hier aufgeworfenen politischen und rechtlichen Fragen noch lange beschäftigen werden. Und dies ist bei allem Bemühen, die aufgerissenen Gräben wieder zu überbrücken, sachlich notwendig. Im Brennpunkt stand und steht nicht weniger als die Frage des Rechts: Inwieweit ist es notwendig und möglich, die gegenwärtigen. Probleme der ,einen Welt‘ — vom internationalen Terrorismus über die Folgeprobleme der Globalisierung in allen nur denkbaren Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bis hin zur Garantie der elementaren Menschenrechte — in Gestalt des Rechts zu organisieren, wie ist dieses Recht begründet, wie und von wem kann es institutionell organisiert und umgesetzt werden? Diese seit längerem akuten Probleme haben sich im Streit um die Rechtmäßigkeit des Angriffs auf den Irak nochmals zugespitzt und zur Bildung zweier ‚Lager‘ geführt, die als solche zwar nicht ohne Widersprüche und dauerhaft sein mögen, doch in der Praxis wie auch theoretisch aufschlussreich sind. Denn obwohl sie, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, hinsichtlich der Grundlagen und Verwirklichungsbedingungen internationalen Rechts gänzlich heterogene Positionen vertreten, beanspruchen doch alle Seiten gleichermaßen, dass es ihnen um nichts anderes als ,das Recht‘ gehe. Angesichts dieser Einmütigkeit ist es fast schon erfrischend, wenn Richard Perle aus diesem Konsens auszubrechen scheint und den Zusammenbruch des internationalen Rechts und „den intellektuellen Schiffbruch der liberalen Einbildung von Sicherheit durch internationales Recht, ausgeübt durch internationale Institutionen“, feiert (Perle 2003).

Die in dieser Auseinandersetzung vertretenen Rechtspositionen sind in den letzten Monaten zwei Lagern zugeordnet worden, die einerseits durch die (US-) Amerikaner, andererseits durch die — mal abwertend, mal als Auszeichnung gemeinten — ‚Alt-Europäer` repräsentiert werden. Dies ist angesichts der Hauptprotagonisten des Streits verständlich. Doch nicht nur der Umstand, dass die ,Frontlinien` bei näherem Hinsehen sehr viel komplexer sind, Regierungen und Bevölkerungen spalten und Europa selbst in ein ‚neues‘ und ein ‚altes‘ zu teilen scheinen, machen deutlich, dass solche Etikettierungen wenig hilfreich sind. Die Gegensätze, die in der Debatte deutlich werden, verweisen vielmehr auf grundsätzliche, einander ausschließende Optionen hinsichtlich des Verständnisses und der Institutionalisierung internationaler Rechtsverhältnisse. Deshalb wäre es theoretisch und praktisch verfehlt, die Debatte auf die Option ,Europa versus Amerika‘ zu verengen, wie es Derrida und Habermas (2003) tun, wenn sie die Konflikte durch eine Art ‚gesamteuropäischem Nationalismus‘ überwinden zu können glauben. Durch eine solche politische Frontenbildung geriete die systematische Fragestellung aus dem Blick, die auch eine genuin ‚europäische‘ ist.

Im Folgenden soll versucht werden, den systematischen Kern der beiden in der Debatte verwandten Begriffe von Recht, Völkerrecht und internationalen Organisationen freizulegen. Diese Optionen sind entgegen der verbreiteten Annahme, mit dem 11. September 2001 habe sich das ganze bisherige Spektrum an Problemen und Lösungen verschoben, durchaus nicht neu. Gerade um zu verhindern, dass überholte Konzepte unter dem Eindruck neuer Problemlagen unreflektiert wieder ausgegraben — oder auch bewusst zur Unterstützung bestimmter Politikstrategien reaktualisiert — werden, muss das Instrumentarium der Analyse und des politischen Handelns erneut durchdacht werden.

Legitimität und Legalität des Völker­rechts im UN-System

Wenn das Handeln der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak als Völkerrechtsbruch bezeichnet wird, so liegt dem ein spezifisches Völkerrechtsverständnis zugrunde. Bezugspunkt hinsichtlich der Rechte und Pflichten der Akteure im internationalen Verkehr sind hier vor allem die Institutionen und die Charta der Vereinten Nationen. Im Zentrum stehen einerseits territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten, andererseits werden diese verpflichtet, im Umgang miteinander bestimmte Regeln und Schranken einzuhalten, insbesondere jene, bei der Interessenverfolgung auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Zwangsmaßnahmen gegen Staaten, die gegen die in der Charta niedergelegten Rechtsprinzipien verstoßen, dürfen demzufolge nur von den dazu ermächtigten Institutionen der UN angeordnet werden. Legitim und legal — zwei Begriffe, die in diesem Zusammenhang zusammengebunden werden — sind nur solche Akte, die den im Rahmen der UN und sonstiger Übereinkünfte beschlossenen völker- und menschenrechtlichen Regeln entsprechen bzw. nicht widersprechen; Gewaltanwendung ist nur im Falle unmittelbarer Selbstverteidigung oder auf UN-Beschluss erlaubt.

Das Völkerrecht wird mithin als eine positive Rechtsordnung verstanden: Es gründet im Willen eines Gesetzgebers, der eine Rechtsordnung gibt, durch die bestimmte Handlungen ge- bzw. verboten und Sanktionen für den Fall angedroht werden, dass diese Rechtsordnung verletzt wird. Rechtliche Legitimität und rechtstaatliche Legalität fallen hier zusammen. Bei dieser völkerrechtlichen Argumentationslogik wird die Form innerstaatlicher Rechtssetzung und -durchsetzung gleichsam auf die internationale Ebene transferiert. Völkerrecht wird analog zum staatlichen Recht verstanden, bei dem das zur Gesetzgebung befugte Organ spezifische Rechtsprinzipien und -ansprüche positiviert und gegebenenfalls mit Zwang umsetzt. Von daher sind die monatelangen Auseinandersetzungen um die Formulierung der UN-Resolution 1441 durchaus verständlich. Sowohl die Befürworter als auch die Gegner einer militärischen Intervention versuchten, ihre politischen Positionen durch die Berufung auf die genannten ,positiv-rechtlichen` Grundlagen zu legalisieren, d.h. aus ihren jeweiligen politischen Ansprüchen ‚positiv‘ geltende Rechtsansprüche zu machen.

Die normativen und empirischen Defizite dieses Völkerrechtsbegriffs und der mit ihm verbundenen Institutionen sind jedoch nicht zu übersehen. Das zeigen die jahrzehntelange Blockade der UN-Strukturen in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes wie auch die zahllosen ungeahndeten Aggressionen, Bürgerkriege, Genozide und Interventionen. Der Preis, der für die Positivität und institutionelle Geltung des Völkerrechts zu zahlen ist, liegt in seinem ‚Positivismus‘ und ‚Formalismus‘. Was als Recht und Unrecht bestimmt und geahndet wird, hängt in diesem System vom Interesse und vom Willen der Mitgliedstaaten ab. Wo dieses Interesse mangels materieller oder strategischer Relevanz oder aufgrund eigener Verwicklung in die inkriminierten Akte fehlt, werden diese — vor allem, wenn es sich um Mächte mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat handelt — nicht geahndet. Justiziabel, rechtlich geahndet und durchgesetzt werden kann innerhalb dieses staatenzentrierten Völkerrechtssystems nur das, was es aus politischen oder anderen Gründen für die einflussreichsten Staaten ‚wert‘ ist und nicht durch konträre Interessenlagen blockiert werden kann. Dies ist die Achillesferse der Identifikation von Legalität und Legitimität, von Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit mit den bestehenden Strukturen des internationalen Rechts. Nach der ,positiv-rechtlichen` Argumentationslogik handelt es sich immer dann um legale Akte, wenn sie im Einklang mit dem Völkerrecht stehen oder diesem doch zumindest nicht auf ‚strafbare‘ Weise widersprechen; und was strafbar ist und sanktioniert wird, entscheiden die Institutionen, deren Mitglieder entweder selbst beteiligt sind oder aber aus verschiedensten Gründen oftmals desinteressiert sind.

Das revidierte Völkerrecht — Legitimität jenseits der Legalität?

Seit mehr als einem Jahrzehnt gewinnt zunehmend eine andere Argumentations- und Begründungsstrategie völkerrechtlichen Denkens und Handelns die Oberhand. Dabei wird nicht mehr primär auf ,positiv-rechtliche Grundsätze und internationale Institutionen rekurriert, sondern auf übergreifende Werteordnungen, die für die verschiedenen Akteure im internationalen Verkehr gleichermaßen verbindlich und erkennbar sein sollen. Verursacht wurde dieser Wandel durch heterogene Entwicklungen und Interessen, deren Ineinandergreifen zu einer Reihe von irritierenden Allianzen und Legitimationsmustern geführt hat. Auf der einen Seite stehen die genannten Defizite des UN-zentrierten Völkerrechtssystems, das nur selten in der Lage ist, Krisen, Konflikte und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern oder auch nur zu skandalisieren. Dieser Appell an allgemeine Werte ist jedoch auf neuartige Weise praktisch relevant geworden, seitdem mit dem Zusammenbruch des Ost-West-Dualismus für die Vereinigten Staaten als einzig verbliebener Supermacht die Gründe entfallen sind, sich Institutionen unterzuordnen, die die eigene Handlungsfreiheit substantiell beschneiden. Nicht erst die mühsamen, selbst lange nach dem Ende des Krieges gegen den Irak noch nicht abgeschlossene Suche nach ‚gerechten Kriegsgründen‘ zeigt: Effektiver ist es, die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns aus Quellen begründen zu können, über die man selbst verfügt und die der eigenen Interpretationshoheit unterliegen.

Die Etappen, in denen dieser Wandel hinsichtlich der Geltungsbasis der völkerrechtlichen Normen und der Legitimationsgrundlagen für militärische Interventionen vollzogen wurde, sind unschwer auszumachen. Fand der Irakkrieg des Jahres 1991 noch ganz in den Formen des internationalen Rechts statt — eine Allianz von Staaten ahndet im Auftrag der UNO die Verletzung der territorialen Integrität eines ihrer Mitglieder — und konnte so als Beginn einer neuen ‚Weltordnung‘ unter dem Dach der UN (miss-)verstanden werden, zerbrach diese Vorstellung schnell. Katalysatoren dieser Entwicklung waren die Menschenrechtsverletzungen, die im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens begangen wurden, und der Genozid in Ruanda in der Mitte der 1990er Jahre. Schon im militärisch ausgetragenen Konflikt um den Kosovo im Frühjahr 1999 war die Lektion gelernt und umgesetzt. Hier ist eine neue Struktur der Rechtfertigung militärischer Interventionen erkennbar. So berief sich die Nato, um ohne UN-Mandat intervenieren zu können, auf humanitäre Prinzipien, die Teil eines allgemeinen humanitären Völkerrechts seien. Da diese Rechtsgrundlagen unabhängig von den Strukturen und Institutionen der UN sind, sollen sie direkt, das heißt ohne jede weitere Vermittlung, verpflichten — und ermächtigen —, politisch und militärisch zu intervenieren, wenn man diese allgemeinen Regeln bedroht oder verletzt sieht. Deshalb konnten sich die westlichen Staaten in der Nato zu Interpreten, Anwendern und Exekutoren dieses allgemeinen humanitären Völkerrechts erklären (Kühne 2000: 452f.). Diese Argumentationsstruktur findet sich in generalisierter Form, wo man sich auf universale Normen, Werte und Prinzipien beruft. Hier geht es nicht mehr nur um Völkerrecht im engeren Sinne, sondern um die Bedrohung universeller Werte selbst: das Recht auf Leben, auf Freiheit und Selbstbestimmung oder die Menschenrechte insgesamt. Gerade der Krieg um den Kosovo ist unter Hinweis auf solche Werte legitimiert worden, in der Bundesrepublik nochmals verschärft durch den strategischen Einsatz der Erinnerung an den Nationalsozialismus, um die moralische Pflicht Deutschlands zu demonstrieren, einen vermeintlich geplanten oder bereits im Gange befindlichen Völkermord mit militärischen Mitteln zu verhindern (Schildmann 2002: 76ff.).

Diese Argumentationen postulieren mithin allgemeine Werte wie Freiheit, Menschenrechte oder Demokratie als universale und unangreifbare Grundlage des Völkerrechts, an dem sich alle Akteure zu orientieren hätten. Der Vorteil dieser Konstruktion gegenüber dem positiv-rechtlichen Modell der UN ist evident: sie scheint unabhängig von pragmatischen Überlegungen, von sachfremden Interessen, Koalitionen oder Vetos einzelner Staaten, die im Sicherheitsrat die Durchsetzung dieser universalen Werte verhindern bzw. ihre Verletzung zulassen könnten. Vielmehr ist unabhängig von solch ‚formalistischen‘ positiv-rechtlichen Erwägungen jeder Staat und jedes Staatenbündnis ermächtigt und verpflichtet, „human zu intervenieren“, wo es erforderlich ist.

Was ist Recht im ,neuen Völker­recht‘?

Die Neuausrichtung des völkerrechtlichen Denkens und der Stellung zu den Institutionen des internationalen Rechts, wie sie in den skizzierten Entwicklungen zum Ausdruck kommt, erweist sich bei näherem Hinsehen als äußerst ambivalent und im Hinblick auf die proklamierten Werte und Ziele sogar kontraproduktiv. Dies zeigen nicht nur die empirischen Erfahrungen, sondern dies ist in diesem Völkerrechtsbegriff selbst angelegt.

Nicht erst die Ereignisse um den jüngsten Irakkrieg haben deutlich gemacht, in welchem Maße eine Berufung auf universale Werte —Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Rechte der Frauen oder von Minderheiten — zur Legitimation ganz anderer Interessen dienlich sein kann. Heftig wurde und wird darüber gestritten, welche Motive für den Krieg gegen den Irak nun ausschlaggebend seien: ‚legitime‘ Gründe wie die besagten Werte, die Sicherung des Weltfriedens oder die Beseitigung von Massenvernichtungswaffen, oder ,illegitime` Gründe wie die Sicherung der Ölvorkommen, das Streben nach Hegemonie in der Nahostregion oder die geostrategischen Bemühungen der USA, ihre Position als letzte Supermacht zu festigen. Ohne die Richtigkeit dieser verschiedenen Argumente diskutieren zu müssen, zeigt schon ihre Zahl und Kontingenz, dass diese Argumentationsstruktur selbst fundamentale Defizite aufweist. Die Frage des internationalen Rechts und der Rechtfertigung von Kriegen wird hier zur Sache der Erforschung von Motivation und Gewissen der Entscheidungsträger. Selbst wenn man unterstellen würde — was empirisch wenig wahrscheinlich, aber auch sachlich nicht zwingend ist —, dass es stets eindeutige Motive gibt und diese als ‚aufrichtig‘ oder nicht und schließlich auch noch als ‚legitim‘ oder nicht beurteilt werden können, würde dadurch die rechtliche Problematik nicht aufgehoben.

Das Problem jenes Rechts, das das ,neue Europa‘ gegen das ‚alte‘ der Orientierung an Institutionen und Strukturen internationalen Rechts wendet, ist struktureller Art. Es wird die Objektivität von Rechtsprinzipien unterstellt, die für alle Akteure — Individuen und Staaten —verpflichtend seien. Sie stehen mithin über allen ‚bloß‘ positiven Ordnungen und Institutionen und gebieten auch dann, wenn sie diesen widersprechen. Diese Argumentation illustriert die Äußerung, mit der jüngst ein damaliges Mitglied der Bundesregierung deren Entscheidung zum Krieg gegen Jugoslawien 1999 versah: „natürlich stand [dieser Krieg] im Gegensatz zum Artikel 26 des Grundgesetzes, der schon die Vorbereitung eines Angriffskriegs für verfassungswidrig erklärt. Dass er gleichwohl vom Parlament genehmigt und von der großen Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wurde, sprach für das allgemeine menschliche Verantwortungsgefühl, das stärker war als die Gebote der Verfassung und des Völkerrechts“ (Naumann 2003). Diese Erklärung kann nicht nur die Enttäuschung der Amerikaner und Briten darüber verständlich machen, dass sich die ,Alt-Europäer‘ in der causa Irak plötzlich auf die hier so großzügig verworfenen nationalen und internationalen Rechtsordnungen berufen. Sie legt auch wider Willen den Kern des Problems frei. Dieses Rechtsdenken basiert auf der Unterstellung einer überpositiven Werteordnung, die mit ‚säkularen‘ menschenrechtlichen oder demokratischen Werten (oder ‚Gefühlen% aber auch mit transzendenten naturrechtlichen oder religiösen Gehalten besetzt sein kann. Und jeder Akteur, jeder Staat und jede ,coalition of the willing`, muss sein Handeln durch den Rückbezug auf die Anwendung und Umsetzung dieser vorgegebenen Werteordnung rechtfertigen. Da es aber eine institutionelle und allgemein verbindliche Instanz zur Prüfung der Berechtigung dieses Bezuges prinzipiell nicht geben kann und darf, ist die Entscheidung von jedem selbst zu treffen. Der vermeintlichen Universalität und Objektivität dieser Form des (Völker-)Rechts korrespondiert somit die Subjektivität des Rechtsurteils. Jede Bestimmung dessen, was ‚Recht‘ ist, ist notwendig immer ein subjektives, einseitig getroffenes Urteil, gegen das innerhalb dieser Denkfigur kein Einspruch möglich ist. Es gibt sozusagen keine Gewaltenteilung: man ist immer gleichzeitig Interpret, Richter und Exekutor in einer Person.

Das ,neue Europa‘ und die Rückkehr des ‚gerechten Krieges‘

Das Rechtsdenken, das derzeit als das des ‚neuen‘ gegen das ‚alte‘ Europa gerichtet proklamiert wird, ist alles andere als neu: Es greift auf wahrlich , alt-europäische‘ Denkstrukturen zurück. Anders als zuweilen behauptet, ist dies keine Reaktualisierung des Hobbesschen Denkens, sondern greift auf Völkerrechtskonzeptionen zurück, die von diesem gerade überwunden wurden, nämlich die Strukturen antiken und mittelalterlichen Natur- und Völkerrechtsdenkens, wie es von der Stoa bis zum christlichen Naturrecht des Hochmittelalters entwickelt worden war. Kennzeichnend für diese Rechtsideen ist das Konzept einer in der Natur oder in Gott gründenden universalen Rechtsordnung, deren Gesetze „nicht durch den Senat oder das Volk […] abgelöst werden“ können (Cicero 1979, III. 33) und letztlich „keiner anderen Bekanntgabe [bedürfen], als dass sie, als durch sich selbst bekannt, der natürlichen Vernunft eingeschrieben sind“ (Aquin 1977: I-II, q.100, a.3). Die Durchsetzung dieser Gesetze führt zu eben jener Theorie gerechter Kriege, die auch in den gegenwärtigen Debatten implizit oder explizit wieder erkennbar wird. Denn „mit Krieg überzogen“ werden — so Aquin (1966: II-II, q. 40, a.1) im Anschluss an Augustinus — dürfen all jene, die dies „einer Schuld wegen verdienen“, da sie sich außerhalb der gemeinsamen Rechtsordnung gestellt und somit selbst zu ,outlaws` gemacht haben.‘ Die Universalität dieses Rechts aber spricht jedem Akteur im internationalen System das Recht und die Pflicht zu, die Gründe für einen ‚gerechten Krieg‘ zu erkennen und den Rechtsbrecher zur Verantwortung zu ziehen.

Seit der frühen Neuzeit ist diese traditionelle Natur- und Völkerrechtslehre mitsamt der Theorie des gerechten Krieges aufgegeben worden, da mit der Ausbildung der ‚modernen‘ Welt souveräner Staaten jene theoretischen und praktischen Probleme unübersehbar wurden, die ihr von jeher innewohnten. Denn unbeantwortbar bleibt -in ihr die Frage nach der Objektivität des vermeintlich universalen Rechts: Solange in Rechtsfragen jeder Akteur Richter in letzter Instanz ist, negiert sich dieses Recht als Recht selbst (hierzu klassisch Hobbes 1959: 81-83). Die Vorstellung, es könne durch die ‚überpositive‘ Struktur ein objektives, allgemein verpflichtendes Recht gesetzt und von hier aus zwischen ‚gerechten‘ und ‚ungerechten‘ Kriegen unterschieden werden, trägt nur solange, wie de facto eine Macht ein Interpretationsmonopol geltend machen kann. Das ,universale‘ Recht, das die Macht zähmen soll, hängt so letztlich doch wieder vom Recht des Stärkeren ab, das, wie Rousseau (1981: 9f.) bemerkte, kein Recht ist.

Die traditionellen Lehren des Völkerrechts und des gerechten Krieges sind in der frühen Neuzeit nicht nur aus pragmatischen, sondern auch mit guten theoretischen und normativen Gründen überwunden worden. Dass die Alternativen, die sich in der staatenzentrierten Ordnung der Neuzeit herausgebildet haben, und die Institutionen des Rechts, wie sie im 18. Jahrhundert theoretisch vorgedacht (Asbach 2002) und im 20. Jahrhundert ansatzweise umgesetzt wurden, heute nicht mehr hinreichen, ist nicht zu bestreiten. Nichts spricht aber dafür, auf diese Krise ‚moderner‘ Institutionen und Rechtsverhältnisse damit zu reagieren, dass man ,prämoderne‘ Konzepte aktualisiert und als vermeintliche Lösungen für ‚nachmoderne‘ Zeiten präsentiert. Die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre bestätigen eher die theoretische Erkenntnis, dass eine Reanimation traditioneller Völkerrechtslehren mitsamt der Ideen ‚gerechter Kriege‘ die Fundamente jener Rechtsverhältnisse zerstören werden, die sie zu verteidigen vorgeben.

1 Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist die am 19. März 2003 von dem britischen Kommandeur Tim Collins vor Kampfverbänden in der kuwaitischen Wüste an der irakischen Grenze gehaltene Rede, die sich der begeisterte US-Präsident George W. Bush in sein Büro im Weißen Haus gehängt haben soll. Collins gab seinen Truppen das Ziel vor, den Irakern „das Licht der Befreiung“ zu bringen, da man als „Nemesis“, d.h. als strafende Gerechtigkeit, einmarschiere und den „befleckten Seelen“, die der Gerechtigkeit entgegen gehandelt hätten, die „rechtmäßige Zerstörung“ bringe, die sie sich selbst verdient hätten: „As they die they will know their deeds have brought them to this place. Show them no pity“ (vgl. http://journal. dajobe.org/journal/2003/03/collins/).

Literatur

Aquin, Thomas von 1966/1977: Summa theologica, Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 17B u. 13, Heidelberg u.a.

Asbach, Olaf 2002: Die Zähmung der Leviathane. Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbd de Saint-Pierre und JeanJacques Rousseau, Berlin

Cicero 1979: De re publica/Vom Gemeinwesen, hg. v. K. Büchner, Stuttgart

Habermas, Jürgen (2003): Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31. Mai

Hobbes, Thomas 1959: De cive/Vom Bürger, hg. v. G. Gawlick, Hamburg

Kühne, Winrich 2000: Die Vereinten Nationen an
der Schwelle zum nächsten Jahrtausend; in: K. Kaiser/H.-P. Schwarz (Hg.): Weltpolitik im neuen Jahrhundert, Bonn, S. 442-457

Naumann, Michael 2003: Krieg in den Trümmern des Rechts; in: Die Zeit Nr. 14 v. 27. März

Perle, Richard 2003: Thank God for the death of the UN; in: The Guardian v. 21. März

Rousseau, Jean-Jacques 1981: Vom Gesellschaftsvertrag oder: Prinzipien des Staatsrechts, hg. v. H. Brockart, Stuttgart

Schildmann, Christina 2002: Die Bomben aus Stahl, das Pathos aus Hollywood. Die Wiederentdeckung des ‚gerechten Krieges‘ im Medienzeitalter; in: vorgänge 159 „Freiheitsrechte in Zeiten des Terrors“ (Heft 3/ September), S. 71-81

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