„... es geht um den Menschen und um die Wahrheit” Zur Vorgeschichte von Georg Pichts: Notstandsszenario „Die deutsche Bildungskatastrophe”
Politikberatung durch Hartz-, Rürup- oder Herzog-Kommissionen hat derzeit in Deutschland Konjunktur. Doch die zumindest vorübergehende Auslagerung zentraler politischer Streitfragen aus Parlament und Kabinett in Expertenkommissionen ist kein neues Phänomen. So hatten schon 1953 die Regierungen von Bund und Ländern ganz ähnlich auf die nicht verstummende öffentliche Kritik am uneinheitlichen deutschen Schulsystem — dem so genannten „Schul-Chaos“ — reagiert: Sie beriefen gemeinsam einen Sachverständigenrat, den Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen.
Rasch wurde der Philosoph und Altphilologe Georg Picht, mit vierzig Jahren zunächst der Benjamin in diesem Gremium, zu einem seiner profiliertesten Repräsentanten. Neun Jahre lang arbeitete er hier ehrenamtlich für eine umfassende Bildungsreform. Der breiten Öffentlichkeit wurde sein Name ein Begriff, als er — nach seinem Ausscheiden aus dem Ausschuss — 1964 mit der Artikelserie Die deutsche Bildungskatastrophe (Picht 1964) einen Zeitungscoup landete: Nun war das Thema Bildung in aller Munde und stand tatsächlich ganz oben auf der politischen Agenda der deutschen Innenpolitik.
Picht gilt, dieses Textes wegen, konservativen Bildungskritikern als einer der Mitverantwortlichen für die Folgen der massiven Bildungsexpansion der späten 1960er und 1970er Jahre (zuletzt Adam 2002: 18f.). Heute, nachdem uns die PISA-Studie eine neue Bildungsdebatte beschert hat, macht sein Wort von der Bildungskatastrophe wieder die Runde — wobei nur noch wenige wissen, worin die Katastrophe in seinen Augen bestand.
Den Dreh- und Angelpunkt der Picht’schen Argumentation bildete die Zahl der Abiturienten. Er verlangte ihre rasche Verdoppelung, also tatsächlich einen enormen Ausbau des höheren Schulwesens. War dies die Vorwegnahme des sozialdemokratischen Slogans „Bildung für alle“ oder welches politische und welches pädagogische Konzept standen hinter dieser Forderung? Gehen wir zurück zu den Anfängen von Pichts pädagogischem Engagement in das Jahr 1946 und begleiten ihn auf seinem Weg als „Bildungsaktivist“ bis in das Jahr 1964.
Wiederaufbau mit Platon: Humanistisches Gymnasium und wissenschaftliche Forschungsstätte unter einem Dach
Am 6. Januar 1946 wurde in Hinterzarten im Hochschwarzwald unter Pichts Leitung die private Schule Birklehof wiedereröffnet, um „inmitten der Trümmer eines völlig zerrütteten Erziehungswesens“ dafür Sorge zu tragen, „daß wir in Zukunft wieder gute Pfarrer, Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler und Beamte haben.“ (Picht o.J. [1946]: 43)
Picht, dessen Familie dem Eigentümer des 1932 gegründeten Landerziehungsheims eng verbunden war, hatte hier von 1940 bis 1942 Latein und Griechisch unterrichtet, bis er aus Protest gegen den vom Schulleiter unterstützten zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten die Schule verließ und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Freiburger Universität zurückkehrte. Dort hatte er 1942 bei Martin Heidegger über die „Ethik des Panaitios“ promoviert.
Der Neuanfang auf dem Birklehof sollte an die noch junge Tradition der Schule anknüpfen. Der Erziehungsstil des Landerziehungsheims — Jugendbewegung und Reformpädagogik verpflichtet — wurde beibehalten. In zweierlei Hinsicht aber ging es Picht um eine Neuausrichtung: Statt der ehemals alt- und neusprachlichen Zweige sollte der neue Birklehof ein „rein humanistisches Gymnasium“ sein, das sich als eine konfessionell nicht gebundene, aber dezidiert christliche Schule verstand. Der christliche Anspruch manifestierte sich im Schulalltag kaum; anfangs bestand die Verpflichtung zum sonntäglichen Kirchgang und eine Weile noch das Verbot, am Sonntagvormittag Sport zu treiben oder Unterhaltungsmusik zu hören.
Ins Zentrum des schulischen Selbstverständnisses rückte eine sich auf die platonische Philosophie berufende Idee der humanistischen Bildung, die Picht von dem angeblich sophistischen Bildungsideal des Neuhumanismus abgrenzte. Die Tradition des christlichen Abendlandes — ein im gebildeten Deutschland damals sehr gebräuchlicher Topos — war für ihn die Bezugsgröße, an der das in Trümmern liegende Deutschland sich wieder aufrichten sollte: Humanistische Bildung bedeute die Pflege der Tradition, in der die Einheit Europas gründe. Es sei kein Zufall, dass die politische Entfremdung Deutschlands von Europa mit der Abkehr von dieser Bildungswelt unter Wilhelm II. beginne: „Wenn wir […] den Weg nach Europa zurückfinden wollen, so ist es nicht damit getan, daß wir willig den Weisungen der alliierten Militärregierungen Folge leisten und den guten Willen zur Verständigung haben […]“ Deutschland müsse wieder „europäisch zu denken wissen, d. h. […] die Vertrautheit mit einer geistigen Welt zurückgewinnen, die in Frankreich und England immer ein selbstverständliches Lebenselement geblieben ist.“ (ebd.: 44)
Picht ging davon aus, dass diese Rückbesinnung nicht nur auf dem Birklehof stattfinden werde: Das humanistische Gymnasium, prophezeite er, werde wieder die Vorschule für die akademischen Berufe sein, die Oberrealschule hingegen vorwiegend auf die nicht akademischen Berufe, die eine höhere Schulbildung verlangten, vorbereiten.
Auch den Landerziehungsheimen schrieb er in der neuen Zeit neue Aufgaben zu: In Anbetracht des Zerfalls der Familie hätten sie die Aufgabe, in der Lebensgemeinschaft von Lehrern und Schülern Geborgenheit zu geben und den Kindern Zeit zu lassen, sich zu entfalten. Ihr Anspruch müsse es sein, einer Auswahl der Begabtesten die beste erreichbare Schulbildung zu gewähren. Als private Schulen müssten sich die Landerziehungsheime von dem Image der „Kapitalistenschulen“ befreien und mit Hilfe eines umfangreichen Freistellensystems auch mittellose Kinder fördern. Konkret dachte er 1946 an ein durch Spenden finanziertes Patensystem für begabte Flüchtlingskinder, die so „dem Jammer und der Verwilderung unserer Stadtruinen enthoben auf dem Lande eine wirklich gute und behütete Erziehung erhielten“ (ebd.: 45).
1949 realisierte Picht den zweiten Teil seines Bildungskosmos auf dem Birklehof: ein wissenschaftliches Forschungsinstitut, das ein umfangreiches Platon-Lexikon erstellen sollte. Es gelte, die zerbrochene geistige Einheit zwischen Gymnasium und Universität wiederherzustellen. Er wolle, schrieb er dem badischen Kultusministerium, mit der Gründung des Platon-Archivs ein praktisches Beispiel geben für die Möglichkeit des lebendigen Kontakts zwischen höherer Schule und Wissenschaft.[1]
Diese enge Beziehung sei aus drei Gründen lebenswichtig für Schule und Universität: Die höhere Schule sei das Bindeglied zwischen der Welt der Wissenschaft und den Gebildeten. Sie halte im allgemeinen Bewusstsein die Tradition lebendig und sorge für ihre Weitergabe. Ohne enge Beziehung zur akademischen Welt verlören die Lehrer aber den Anschluss an die Wissenschaft, auf die sie ihre Schüler vorbereiten sollten. Ohne Teilnahme der Lehrer an der Forschung verlöre der Beruf des Lehrers zudem an Prestige und damit an Attraktivität für den akademischen Nachwuchs.
Das Platon-Archiv, das zunächst von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft unterstützt und dann weitgehend aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde, sollte Lehramtsstudenten schon während des Studiums die Möglichkeit der Verbindung von Schule und Wissenschaft vorleben. Als Praktikanten könnten sie gleichzeitig in der Schule ein „Pädagogicum“ und im Archiv ein „Philosophicum“ absolvieren. Zunächst funktionierte diese Konstruktion leidlich, doch seit Mitte der 1950er Jahre, als die Phase der „Verzettelung“ abgeschlossen war, geriet der Fortgang der Arbeit am Lexikon ins Stocken. Das Projekt war für diesen Rahmen zu groß.
Reformansätze: Die Tübinger Tagung Universität und Schule von 1951
Nachdem eine grundsätzliche Umgestaltung der deutschen Universität wegen des Widerstands der Hochschulen ausgeblieben war, diskutierten reformorientierte Wissenschaftler über Möglichkeiten einer Universitätsreform „von innen“. Ein Studium generale in den Anfangssemestern und die Etablierung neuer akademischer Lebensformen, eine „Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“, sollten der Auflösung der Universität in normierte Fachstudiengänge entgegenwirken.
Picht erkannte in diesen Bestrebungen sein Anliegen wieder: Die Bildungsidee, die sich hinter der Forderung nach einem Studium generale verberge, sei ein gemeinsames Anliegen von Universität und Gymnasium. Deshalb schlug er vor, die Reformpläne für beide Institutionen gemeinsam zu erörtern und organisierte – unterstützt von dem späteren Gründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Hellmut Becker und dem Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, engen Freunden seit Jugendtagen — 1951 in Tübingen eine Tagung zum Thema „Universität und Schule“. Die Leitfragen sollten sein: Was erwartet die Universität von der Schule? Und: Was leistet die Universität für die Schule?
Picht legte Wert darauf, alle Teilnehmer als „Privatpersonen“ einzuladen. Infrage komme, wer den Anliegen des Kongresses positiv gegenüberstehe und über genügend Einfluss verfüge, sich für die Verwirklichung der Vorschläge wirksam einzusetzen. Aus den Kultusministerien und Schulverwaltungen sollte lediglich eingeladen werden, wer „eine persönliche Verbindung“ zu den zu verhandelnden Themen besäße.
Die auf dieser Tagung verabschiedete Resolution blieb denn auch ganz auf der Linie der bildungspolitischen Vorstellungen Pichts: Als Hauptschuldige für die oft mangelhafte Hochschulreife der Abiturienten wurden die Stofffülle und die ungenügende Einführung in wissenschaftliches Denken und Arbeiten ausgemacht. Durch Schwerpunktsetzung in der Oberstufe, „paradigmatisches Lernen“ und die Beschränkung der Prüfungsfächer im Abitur sollte Abhilfe geschaffen werden (Resolutionen 1951). In Ansätzen ist dies der Entwurf der Reform der gymnasialen Oberstufe, die 1972 durch Beschluss der Kultusministerkonferenz bundesweit eingeführt wurde.
Auch das Thema Modellschulen bildete einen Schwerpunkt der Tagung: Es wurde gefordert, einzelnen privaten und öffentlichen Schulen die Möglichkeit zu Schulversuchen zu gestatten. Sie sollten die Zusammenstellung ihres Lehrkörpers frei wählen und den Lehrplan zwecks „Vertiefung in das Wesentliche“ freier gestalten dürfen. Außerdem sei ihnen probeweise die Beschränkung der Prüfungsfächer im Abitur zu gewähren (ebd.: 384). Das waren genau die Freiheiten, um die Picht seit der Eröffnung der Schule Birklehof mit der Freiburger Schulbehörde stritt. Der Birklehof war unter den ersten Schulen, die 1958 als Modellversuch die reformierte Oberstufe erprobten (Weidauer 1960).
Auf dem Abstellgleis: Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen
Der Tübinger Tagung über Universität und Schule verdankte Picht 1953 seine Berufung in den Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen. Dieser Beirat von zwanzig „unabhängigen Persönlichkeiten“ sollte, so lautete der vage formulierte, gemeinsam vom Bundesinnenminister und dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz erteilte Auftrag, fünf Jahre lang von einem „auf das Wohl der Gesamtheit gerichteten Standpunkt die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens […] [zu] beobachten und durch Rat und Empfehlung […][zu] fördern“ (Empfehlungen I 1955: 5). Sein Arbeitsprogramm, hieß es weiter, solle er selbst bestimmen.
Der Ausschuss ging aufs Ganze und beschloss, die Neuordnung des gesamten Schulwesens in Angriff zu nehmen. In den elf Jahren seines Bestehens erarbeitete er 29 Gutachten und Empfehlungen zu beinahe allen Bereichen des Schulsektors inklusive der Erwachsenenbildung. Zunehmend mussten die Mitglieder aber feststellen, dass ihr Rat von politischer Seite nicht gefragt war: Die Idee eines Bildungsbeirats war auf Bundesebene entstanden. Die Kultusminister witterten in ihm zu Recht den Versuch, die Kulturhoheit der Länder zu untergraben, und trugen deshalb von Anfang an Sorge, dass dieser Ausschuss als ein zahnloses Wesen ins Leben trat. Finanziell und personell mager ausgestattet, zwischen den beiden Auftraggebern Bund und Länder institutionell in der Luft schwebend und weder mit klarem Auftrag noch Kompetenzen versehen, diente er einigen Ländern lediglich als ein Feigenblatt zur Beruhigung der öffentlichen Debatte um die bundesweite Vereinheitlichung des Schulsystems.
Schon beim Festakt zur Konstituierung des Beirats hatte der Bundespräsident, Theodor Heuss, die entscheidende Frage gestellt: „Wird eigentlich dieser Ausschuß die ganz neue große Bundeslokomotive sein, der die Strecke freigegeben ist zur stürmischen Fahrt in die Länderbereiche, oder ist er ein Güterzug mit interessanten Problemen, der auf einem Abstellgleis placiert wird, wo er weiter niemanden stört?“ (ebd.: 15)
Picht und der Publizist Walter Dirks hatten die institutionellen Schwächen ihres Gremiums rasch erkannt. Sie drängten deshalb auf eine intensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, um über diesen Umweg bei den Kultusministern Gehör zu finden. Die Taktik ging nicht auf, aber Picht entwickelte sich in den neun Jahren Ausschussarbeit zu einem Medienprofi. Und nachdem er zunächst dem Kulturföderalismus nicht besonders ablehnend gegenübergestanden hatte, betrachtete er seit dem Ende der 1950er Jahre die Kulturhoheit der Länder als den ärgsten Feind einer Bildungsreform.
Gymnasium und Studienschule
Nach sechs Jahren Arbeit legte der Ausschuss 1959 seinen großen Entwurf zur Neuordnung des bundesrepublikanischen Schulsystems vor: den so genannten „Rahmenplan“. Im internationalen Maßstab seien seine Grundüberlegungen eher antiquiert gewesen, urteilte Ludwig von Friedeburg. Unter den damaligen Verhältnissen in der Bundesrepublik aber hätten die Vorschläge „nahezu revolutionär“ gewirkt (Friedeburg 1989: 327f.). Entsprechend heftig war die öffentliche Debatte um diesen Entwurf, der das dreigliedrige Schulsystem beibehalten, zur verbesserten Auslese aber die Klassen 5 und 6 in eine Förderstufe überführen und die Oberstufe in der schon erwähnten Weise reformieren wollte.
Neben dem nun sieben Jahre umfassenden Gymnasium sollte eine neue Schulform etabliert werden: eine die 5. und 6. Klasse behaltende neunjährige Studienschule mit humanistischer sowie neusprachlicher Sprachenfolge als „Schule der europäischen Bildungstradition“ für die kleine Zahl eindeutig hochbegabter Kinder. Das war, in kaum abgewandelter Form, Pichts Idee einer Eliteschule, wie er sie auch 1946 vertreten hatte. Es hagelte Kritik von allen Seiten: Die Hochschulen verwahrten sich gegen ein Zweiklassen-Abitur. Der konservative Soziologe Helmut Schelsky meinte, alles spräche für den Verdacht, dass sich in der Studienschule „,der alte Humanistenhochmut noch stärker ausbilden‘ wird als bei der heutigen Typentrennung“ und bemerkte spitz: „Um eine schulisch institutionalisierte Sozialgruppe ,Früh erkennbare Begabungen‘ hat der Ausschuß unsere ‚pluralistische Gesellschaft‘ auf jeden Fall bereichert.“ (Schelsky 1961:68) Und der dreißigjährige Habermas konstatierte, hier werde „der imaginäre Sieg der philologischen über die mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildungswerte […] in einem Zeitpunkt institutionell verewigt, da sich der Weltgeist deutlich auf die Seite der Naturwissenschaften geschlagen hat.“ (Habermas 1959: 47) Die Studienschule war eine Totgeburt. Mit der Bildungsidee, die ihm wirklich am Herzen lag, war Picht also gescheitert.
Der publizistische Paukenschlag: Pichts Artikelserie Die deutsche Bildungskatastrophe
Im Ettlinger Kreis, einem 1957 von dem Weinheimer Unternehmer Hans Freudenberg initiierten Gesprächskreis von Industriellen, lernte Picht eine Sicht auf Probleme der Schul- und Ausbildung kennen, die den Bedarf der Industrie an qualifiziertem Nachwuchs in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellte. In diesem Kreis, dem Picht als Berater angehörte, begegnete er den in der Bundesrepublik damals noch in den Kinderschuhen steckenden Forschungszweigen Bildungsökonomie und Bildungsplanung. Die auf statistischen Erhebungen beruhenden Referate der Frankfurter Wissenschaftler Hans Heckel und Friedrich Edding über Bildungsökonomie, Bedarfsfeststellung, und Bedarfsprognosen fand er so überzeugend, dass er dem Journalisten Clemens Münster vorschlug, auf der Basis dieser Zahlen eine Fernsehsendung zum Reformbedarf des Bildungssystems zu produzieren. „Bekanntlich“, so Picht, „lassen sich ja im Fernsehen statistische Fragen besonders gut zur Anschauung bringen“.[2]
Vier Jahre später, im Februar 1964, rief er – gestützt auf eine Fülle von Daten verschiedener Studien (Carnap/Edding 1962; Dokumentation OECD-Konferenz 1962; Bedarfsfeststellung 1963) – in der Wochenzeitung Christ und Welt die „Bildungskatastrophe“ aus und zeigte eindrucksvoll, dass er nicht des Fernsehens bedurfte, um Zahlen zum Sprechen zu bringen: Im internationalen Vergleich landete, so wie Picht die Zahlen interpretierte, das Bildungssystem der Bundesrepublik „am untersten Ende der europäischen Länder neben Jugoslawien, Irland und Portugal.“ (Picht 1964: 16)
Im Zentrum seiner Argumentation stand wieder die höhere Schule, aber nun im Blick auf die Quantität: Die Abiturienten bildeten „das geistige Potential eines Volkes“, von dem in der modernen Welt „die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialproduktes und die politische Stellung“ abhänge (ebd.: 26). Andere Nationen hätten längst begriffen, „daß die Selbstbehauptung eines Staates nicht von der Zahl der Divisionen, sondern allein von der Fähigkeit abhängt, in jenem Leistungswettbewerb nicht zurückzubleiben, der das Gesicht der heutigen Welt bestimmt.“ (ebd.: 28) Neben dieser nationalökonomistischen Begründung nahmen sich die Hinweise auf gerechte Auslese und Chancengerechtigkeit in diesem Text sehr bescheiden aus. Schon 1954 hatte Picht bekannt: „Das massive Nützlichkeitsdenken, von dem die erzieherische Wirklichkeit in unserer Arbeitswelt bestimmt wird, ist mir immer noch zugänglicher als der wurzellose Idealismus, in dem sich unsere erzieherische Phraseologie so leicht bewegt.“ (Picht 196’5a: 47)
Sachlich war keine der von Picht vertretenen Thesen haltbar, weder seine „Lückentheorie“, wonach das Grundgesetz eine Leerstelle biete, die es erlaube, den Ländern die Planungskompetenz für Bildungsaufgaben zu entziehen, noch die Bedarfsprognose über den Lehrernachwuchs, noch die Schreckensvision, im Kalten Krieg ökonomisch hinter den Ostblock zurückzufallen. Picht setzte diesen Rundumschlag dennoch ganz gezielt an: Er wollte die Öffentlichkeit — insbesondere die den Reformbestrebungen bisher reserviert gegenüberstehenden protestantischen Konservativen, die die Leserschaft von Christ und Welt bildeten — mobilisieren und auf diesem Weg den Bundesländern wenigstens eine Planungskompetenz für den Bund abtrotzen. Die Öffentlichkeit wurde mobilisiert, aber sein Ziel — den Eingriff des Bundes in die Kulturhoheit der Länder — erreichte Picht nicht.
Als taktische Waffe in der politischen Auseinandersetzung ließ sich dieses Notstandsszenario vielleicht noch rechtfertigen. Selbst Hellmut Becker mahnte aber, von einem Manuskript ähnlichen Tonfalls aufgeschreckt, den Freund: „[…] ich glaube, daß Du die Mischung von Journalismus und apokalyptischer Prophezeiung unter gelegentlicher Verwendung wissenschaftlicher Kategorien in Christ und Welt einmal mit Recht und Erfolg angewandt hast; doch darfst Du diese Mischung auf keinen Fall in einer nicht journalistischen Veröffentlichung wiederholen.“ [3]
„Consensus“ versus Kompromiss
Picht hat für den Rahmenplan von 1959 stets die besondere Leistung in Anspruch genommen, dass die Verständigung über ihn nicht in der Form eines „politischen Kompromisses“, sondern durch einen „Consensus“, eine „wirkliche Einigung“ zustande gekommen sei. Ein politischer Kompromiss werde erreicht, „indem nach einem längeren Kampf schließlich ein Kräftegleichgewicht erzielt wird, bei dem jede der beteiligten Gruppen von ihren eigenen Ansprüchen genau so viel durchzusetzen vermag, wie ihrer relativen Macht entspricht.“ (Picht 1965b: 104) Nach dem Prinzip do, ut des werde unter den Beteiligten ausgehandelt, welche Zugeständnisse sie sich gegenseitig machen wollten. Es herrsche dabei keine Vertragssicherheit, denn jede Verschiebung der Machtverhältnisse werde notwendig auch zur Revision des derart zustande gekommenen Vertrags führen. In manchen Bereichen des politischen Lebens sei solch ein Verfahren gerechtfertigt, aber auf den Sektor Erziehung und Bildung lasse es sich nicht anwenden: „Denn hier geht es nicht um Machtpositionen, sondern es geht um den Menschen und um die Wahrheit.“ (ebd.)
Wie dagegen ein „Consensus“ zustande kommt, und wie die „wirkliche Einigung“ im Deutschen Ausschuss zustande gekommen war, dafür hat Picht viele Worte, jedoch keine Erklärung parat. Was er beschreibt, klingt nach einem nicht ganz einfachen und nicht sehr glaubwürdigen gruppendynamischen Prozess: Zunächst habe man sich darauf verständigt, nur Vorschläge zu machen, die die mögliche Einigung zum Ziel haben sollten. Deshalb sei man nicht in die Versuchung gekommen, seine eigene Position gegen andere durchzusetzen, jedes Mitglied sei genötigt gewesen, sich „als Treuhänder des ganzen Ausschusses zu betrachten“ und schließlich hätten alle lernen müssen, die Standpunkte der anderen nicht nur zu respektieren, sondern „wirklich zu verstehen“. So habe jeder „in einem oft schmerzhaften Prozess tief verwurzelte Vorurteile“ überwunden (ebd.). Im Vorwort zum Rahmenplan heißt es dazu: „Ein Ausgleich, der danach strebt, jeder begründeten Ausgangsposition gerecht zu werden, ebnet nicht ein, er führt in die Tiefe.“ (Empfehlungen III: Vorwort)
In eine tiefe Krise sah Picht dagegen die Bundesrepublik Mitte der 1960er Jahre versinken und machte dafür eine Politik der „Wahlgeschenke“ und den „Terrorismus der Interessengruppen“ verantwortlich (Picht 1967: 15). Aus der Bildungspolitik, nach seiner Ansicht eines der von diesen Missständen am härtesten betroffenen Politikfelder, zog er sich 1968 völlig zurück: Erst wenn die Kulturhoheit der Länder drastisch beschnitten werde, werde er sein kulturpolitisches Engagement wieder aufnehmen.
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„Konservativer Geist — und die modernistischen Folgen“, so hatte Jürgen Habermas 1959 seine Kritik am Rahmenplan überschrieben (Habermas 1959). Picht hat diese Besprechung, als eine der wenigen unter der Flut von Reaktionen, immer gelten lassen. Den Titel hätte er wohl dennoch kaum für sich reklamieren mögen.
Die eng an der Nationalökonomie orientierte Argumentation der Bildungskatastrophe ebenso wie die technokratischen Planungskonzepte, die er verlangte, entsprechen durchaus dem Zeitgeist der 1960er Jahre (vgl. Ruck 2000; Metzler 2002). Und ein konservativer Geist spricht nicht nur aus dem Elitekonzept, das an frühneuzeitliche Fürstenschulen erinnert, sondern auch aus Pichts tiefer Skepsis gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik, wie sie in seiner Verurteilung des politischen Kompromisses und den grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber politischen Parteien und Verbänden zum Ausdruck kommt.
- Staatsarchiv Freiburg C25/1 Nr. 60: Picht an das Badische Ministerium des Kultus und Unterrichts, 2.3.1949
- Bundesarchiv Koblenz N 1225 Nachlass Picht/3: Picht an Hans Heckel, 5.11.1959
- Bundesarchiv Koblenz N 1225 Nachlass Picht/250 fol. 1: Hellmut Becker an Picht, 19.1.1965
Literatur
Adam, Konrad 2002: Die deutsche Bildungsmisere. PISA und die Folgen, Berlin/München Bedarfsfeststellung 1963: Bedarfsfeststellung 1961-1970. Dokumentation, hg. v. d. Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart
Carnap, Roderich v./Edding, Friedrich 1962: Der relative Schulbesuch in den Ländern der Bundesrepublik 1952-1960, Frankfurt/Main
Dokumentation OECD-Konferenz 1962: Dokumentation Nr. 2. OECD-Konferenz in Washington 1961. Wirtschaftswachstum und Ausbau des Erziehungswesens. Arbeitsunterlagen, hg. v. Sekretariat der Kultusministerkonferenz, o. 0.
Empfehlungen I-III: Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Empfehlungen und Gutachten. 1. Folge, Stuttgart 1955-1959
Friedeburg, Ludwig von 1989: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt/Main
Teresa Löwe: „… es geht um den Menschen und um die Wahrheit“ 75
Führ, Christoph 1997 [1974): Die Katastrophe sieht anders aus. Rückblick auf die Artikelserie von Georg Picht „Die deutsche Bildungskatastrophe“ aus der Perspektive von 1974; in: ders.: Bildungsgeschichte und Bildungspolitik. Aufsätze und Vorträge, Köln, S. 152-159
Habermas, Jürgen 1959: Konservativer Geist – und die modernistischen Folgen. Zum Reformplan für die deutsche Schule; in: Der Monat, 12. Jg., Heft 133, S. 41-50
Kenkmann, Alfons 2000: Von der bundesdeutschen „Bildungsmisere“ zur Bildungsreform in den 60er Jahren; in: Axel Schildt et al. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg, S. 402-423
Kleemann, Ulla 1977: Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen. Eine Untersuchung zur Bildungspolitik-Beratung in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim/Basel
Metzler, Gabriele 2002: Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre; in: Historische Zeitschrift, Bd. 275, Heft 1, S. 57-103
Picht, Georg o. J. [1946]: Ansprache zur Eröffnung der Schule Birklehof am 6. Januar 1946; in: 50 Jahre Birklehof. Bilder und Texte 1932 bis 1982, S. 42-47
Picht, Georg 1964: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten/Freiburg
Picht, Georg 1965a [1957]: Aus dem Tagebuch eines Schulleiters; in: Ders.: Die Verantwortung des Geistes. Pädagogische und politische Schriften, Olten/Freiburg, S. 40-57
Picht, Georg 1965b [1960]: Die Auffassungen des Rahmenplanes von Wesen und Aufgabe der Bildung; in: ders.: Die Verantwortung des Geistes. Pädagogische und politische Schriften, Olten/Freiburg, S. 100-122
Picht, Georg 1967: Grundlagen eines neuen deutschen Nationalbewußtseins; in: Merkur, Jg. 21, Heft 1, S. 1-18
Resolutionen der Tübinger Tagung über die Beziehung zwischen Universität und Schule (1951); in:
Georg Picht: Die Verantwortung des Geistes. Pädagogische und politische Schriften, Olten/Freiburg 1965, S. 383-387
Ruck, Michael 2000: Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie – Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre; in: Axel Schildt et al. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg, S. 362-401
Schelsky, Helmut 1961: Anpassung oder Widerstand. Soziologische Bedenken zur Schulreform, Heidelberg
Weidauer, Klaus 1960: Schule Birklehof; in: Aus den deutschen Landerziehungsheimen, Heft 3: Oberstufenreform in der Höheren Schule, Stuttgart, S. 79-89