Kindergärten sind Bildungseinrichtungen: Plädoyer für eine Aufwertung der frühkindlichen Erziehung
In der derzeitigen Debatte um den Zustand der Bildung in Deutschland herrscht in Hinblick auf die Stoßrichtung weitgehend Einigkeit: Bildung muss wieder zu einer zentralen Aufgabe der Gesellschaft werden, zu einem Feld für Zukunftsinvestitionen. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen dabei die schulische und die berufliche Bildung. Gegen diese Verengung der Diskussion möchte ich einen weiter gefassten Bildungsbegriff setzen, der insbesondere auf die Notwendigkeit frühkindlicher Bildung abhebt. Denn hier, im Kindergartenalter, werden die Fundamente für die spätere Entwicklung des Menschen gelegt, schon hier wird über seine Zukunft entschieden.
Erstaunlicherweise werden Fragen der frühkindlichen Bildung und damit der Förderung von emotionalen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten von Kindern unter sechs Jahren viel weniger intensiv thematisiert, als es die Zentralität dieses Lebensabschnitts nahe legt. Schließlich werden hier die Weichen gestellt für die Entwicklung der funktionellen Systeme neuronaler Netzwerke. Entsprechend sind emotionale und soziale Entwicklungsschritte die unabdingbare Voraussetzung für kognitive Entwicklungen.
Allgemein konstatieren Pädagogen, Kinderärzte und -psychologen ein wachsendes Defizit so genannter ,weicher‘ Fähigkeiten bei Kindern: Kompetenzen, die auf sozialen und emotionalen Fähigkeiten beruhen (wie die Selbst- und Fremdwahrnehmung, das Einfühlungsvermögen, die Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, die Motivations- und Leistungsfähigkeit und die Beziehungsfähigkeit), sind bei vielen Kindern unzureichend ausgebildet. Die Gründe hierfür sind nicht nur in den Familien zu suchen, sondern auch bei jenen Institutionen, die für die frühkindliche Bildung verantwortlich sind, vor allem also den Kindergärten. Die Mängel in der finanziellen und personellen Ausstattung dieser Einrichtungen sind offensichtlich: Wenn eine Erzieherin 25 Vierjährige zu betreuen hat, geht es in erster Linie um Unfallvermeidung. Schwierig erscheint es, in dieser Situation dem Erlebens- und Wahrnehmungsspielraum der Kinder angemessen zu agieren. Doch diese Problematik wird in den Bildungsdebatten vernachlässigt. In diesem Zusammenhang ist auch die deutsche Eigenart zu berücksichtigen, die frühe Kindheit und die sie begleitenden Institutionen erst gar nicht dem Bereich der Bildung zuzurechnen, wie es in Frankreich, Belgien oder Spanien üblich ist, sondern die Verantwortlichkeiten in Sozialministerien zu verankern. Ausnahmen von dieser Regel gibt es bisher nur in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und in Berlin. Auch existieren in Deutschland bislang keine verbindlichen Rahmenrichtlinien dafür, was in Kindergärten zu erlernen ist — obwohl das Kinder- und Jugendhilfegesetz neben Betreuung und Erziehung auch den Bildungsauftrag von Kindertagesstätten festschreibt. Wenn man sich dann noch vor Augen führt, dass Deutschland und Österreich die einzigen europäischen Länder sind, die auf eine einheitliche Hochschulausbildung für Erzieher(innen) verzichten, sind damit die Hauptprobleme der frühkindlichen Bildungsdebatte umrissen.
Entwicklungsland Deutschland
Seit 1996 hat in Deutschland jedes Kind ab dem vollendeten dritten Lebensjahr einen rechtlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz. Derzeit sind ungefähr 2,5 Millionen Kinder in Kindergärten untergebracht. Damit ist zumindest rechnerisch das Angebot ausreichend. Doch Zahlen müssen wie immer interpretiert werden, um wirklich aufschlussreich zu sein: So haben die meisten Länder den Preis für die gestiegene Versorgung nicht aus ihren ohnehin leeren Kassen finanziert. Stattdessen wurden kurzerhand die Standards abgesenkt, zumeist wurde einfach die Gruppengröße heraufgesetzt. Die durchschnittliche Gruppengröße in deutschen vorschulischen Einrichtungen liegt laut einer Untersuchung der OECD bei 23 Kindern. Das Netzwerk Kinderbetreuung der Europäischen Kommission, in dem fünfzehn Landesvertreter zusammenarbeiten, hatte schön 1996 einen Standard definiert, der für die über Dreijährigen eine Gruppengröße von maximal fünfzehn Kindern, für die unter Dreijährigen von maximal acht Kindern pro Gruppe vorschlägt. Doch für die unter Dreijährigen ist in Deutschland ein Krippenplatz ohnehin schwer zu bekommen: für 2,4 Millionen Kleinkinder stehen nur 170.000 Krippenplätze zur Verfügung, in einigen westdeutschen Flächenstaaten läuft das auf eine Versorgungsquote von zwei Prozent hinaus. Vor diesem Hintergrund erscheint Deutschland tatsächlich als „Entwicklungsland“ (Kluge 2002: 115).
Einer der wichtigsten Gründe für dieses Versagen ist sicherlich — zumindest in den alten Bundesländern — die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz der außerfamiliären Betreuung von Kindern vor dem Schuleintritt. Diese Haltung spiegelt sich auch in den Medien wieder, etwa wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung postuliert, dass Ganztagskindergärten für Vier- bis Sechsjährige „nur aus sozialen Sondersituationen“ gerechtfertigt sein können und weiter feststellt: „Ganztags-,Betreuung für Kinder unter zwölf Jahren kann nur Hilfe für Notlagen sein wie Krippe und Kinderhort.“ (Pechstein 2003) Folgerichtig fordert der Autor den Erhalt der „Grundbindiing an die Eltern als Hort der inneren Sicherheit“. Willkommen im Adenauer-Land der fünfziger Jahre. Eltern ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen, wenn sie ihr Kind in eine Tagesbetreuung geben, ist schon ein bemerkenswert reflektierter Debatten-Beitrag. Und leider nicht der einzige, der zumindest unterschwellig so argumentiert.
Dabei können Kindergärten für die kindliche Entwicklung eine enorm positive Rolle spielen. Die Interaktion mit Gleichaltrigen, das Lernen von und miteinander ist nicht durch ein Zusammensein mit Erwachsenen — seien sie auch noch so zugewandt — zu ersetzen. Schon heute, trotz der berechtigten Klagen über die Ausstattung der Kindergärten, gibt es Hinweise, dass die sozialen und sprachlichen Fähigkeiten von Kindergartenkindern bei Schulbeginn ausgeprägter sind, als die Fähigkeiten Gleichaltriger, die keinen Kindergarten besuchten. Die Frage der Halbtags- oder Ganztagsbetreuung ist denn auch weniger unter der Frage der Quantität des Betreuungsausmaßes als vielmehr der Qualität des Betreuungsangebots zu diskutieren. Was wir brauchen, ist eine breite Diskussion über Auftrag und Ausstattung unserer Kindergärten.
Qualitative Standards für die frühkindliche Erziehung etablieren
Im Mittelpunkt dieser Debatte müsste die Entwicklung qualitativer Standards für Kinderkrippen und Kindergärten stehen. Denn eines dürfte klar sein: Kindergärten brauchen andere Lerninhalte als Schulen. Im Vorschulalter müssen daher andere Prioritäten gesetzt werden als die Förderung von Fähigkeiten, die in PISA- und IGLU-Studien abgefragt werden können. Hier geht es zunächst um die Ausbildung von sprachlichen, motorischen und sozialen Kompetenzen, es werden eher Werte als Wissen vermittelt. Aktives Erfahren und Erleben, Dialog und Interaktion sollten im Mittelpunkt stehen. Die Angemessenheit im Umgang mit Kindern setzt dabei Respekt vor den individuellen Möglichkeiten des einzelnen Kindes, die Welt zu erfahren, voraus. Da ein komplexes kognitives Leistungsvermögen erst relativ spät ausgebildet wird und Kinder ihren eigenen Lernprozess erst ungefähr ab dem fünften Lebensjahr reflektieren, kann die richtige Strategie eigentlich nur in einem breiten, reichen Angebot bestehen, aus dem die Kinder auswählen können. Diese Auswahl kann man dann mit möglichst vielen Anregungen unterstützen, um die jeweiligen Fähigkeiten des einzelnen Kindes zu fördern.
Erste Grundlagen für ein solches Benchmarking unserer Kindergärten liegen bereits vor, wie beispielsweise die empirischen Daten des Berliner Pädagogen Wolfgang Tietze aus seiner Studie Wie gut sind unsere Kindergärten? von 1998 zeigen. Und dass die Politik auf bedrohliche Befunde durchaus reagieren kann, zeigt die darauf basierende Nationale Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungen für Kinder.
Untrennbar verbunden mit dieser Debatte ist aber auch die Frage nach der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Bisher ist das Abitur nicht Voraussetzung, es genügt die Realschule mit einem anschließenden Fachschulabschluss. Im Ergebnis verdienen dann Erzieher(innen) in Deutschland nur etwa zwei Drittel des Gehalts einer Grundschullehrerin bzw. eines Grundschullehrers. Das gesellschaftliche Ansehen der Erzieher ist relativ niedrig, die Anforderungen dagegen sind mit den überhöhten Gruppenzahlen und der mangelhaften Ausstattung eher hoch. Die „Attraktivität” dieses Berufsbildes ist entsprechend gering.
Für die Gesellschaft wäre es mit Sicherheit lohnend, mehr Ressourcen für die Kindergärten bereitzustellen. Denn auf die Familien und die dort vermittelte Lebenshaltung können Politik und Gesellschaft nur indirekt einwirken. Anders in den Institutionen, in denen immer mehr Kinder immer mehr Zeit verbringen. Hier gibt es Gestaltungsmöglichkeiten und die Chance, Defizite auszugleichen. Folgende Eckpunkte scheinen für eine Verbesserung der frühkindlichen Erziehung von herausgehobener Bedeutung:
- Kindergärten sind Bildungseinrichtungen. Als solche sollten sie ein allgemeines Curriculum mit verbindlichen Standards erhalten, in dem besonderen Wert auf die Förderung und Entwicklung sozialer und emotionaler Fähigkeiten, aber auch auf die grundlegende Entwicklung kognitiver Fähigkeiten, besonders der sprachlichen Entwicklung, gelegt wird.
- Eine Qualitätsprüfung der Kindergärten könnte Eltern die Entscheidung erleichtern, welcher Institution sie ihr Kind anvertrauen. Auch die finanzielle Unterstützung durch den Staat könnte zumindest teilweise davon abhängen.
- Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher muss neu geordnet werden; es sollte darüber nachgedacht werden, die Ausbildung von Erziehern und Grundschullehrern in einem universitären Studiengang zusammenzulegen. Hiermit einher ginge eine Steigerung der finanziellen, aber auch der gesellschaftlichen Anerkennung des Berufsbildes.
- Der Ausbau von Kindertagesstätten und besonders von Krippenplätzen mit Ganztagsangeboten sollte zumindest an die Versorgungsquoten der anderen europäischen Länder herangeführt werden.
Gelänge es in Deutschland, dieses Programm in den nächsten Jahren auch nur zu Teilen zu verwirklichen, wäre das ein Stück Bildungsreform, von dem auch die nachgelagerten Bildungseinrichtungen erheblich profitieren würden.
Literatur
Kluge, Jürgen 2003: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept, Frankfurt/Main
Pechstein, Johannes 2003: Zu Lasten der Schwächsten; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.05.2003
Tietze, Wolfgang (Hg.) 1998: Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen
Qualität in deutschen Kindergärten, Weinheim
Zur Nationalen Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungen für Kinder siehe: www.ifpbayern.de/cms/TQ2.pdf
Literatur