Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 239/240: Keine Chance für den Frieden?

Ausge­mus­tert, aber unver­zicht­bar: Pazifismus in Zeiten des Krieges

Die seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine medial gestützte Diskreditierung des Pazifismus und der Entspannungspolitik vergangener Jahrzehnte nährt die Sorge, dass unter Berufung auf die „Zeitenwende“ Lehren aus der Konfliktgeschichte ignoriert und Weichen in Richtung militärisches Handeln gestellt werden, ohne strategischen Kompass für eine friedlichere Zukunft. Die Autorin analysiert das historisch gewachsene Selbstverständnis des Pazifismus in Deutschland und zeigt u.a. seine „Doppelveranlagung“ aus Ethos und Wissenschaftlichkeit. Staatsräson sei der Pazifismus in Deutschland nie geworden. Die Forderung nach „mehr Verantwortung in der Außenpolitik“ sei wesentlich militärisch und weniger im Sinne von Konfliktdiplomatie und -mediation gedeutet worden. Militärisches Eingreifen habe allzu oft zivile Konfliktbearbeitung konterkariert. Die Gefahr einer weiteren, auch atomaren Eskalation des Ukrainekrieges erfordert dringlich neue Kommunikation über Verhandlungen. „Realpolitik“ habe heute zu verstehen, dass Sicherheit auf unserem Planeten nur gemeinsam zu haben ist. Das bedeute, auch Russland eines Tages wieder als „konstruktiven Akteur auf der Weltbühne“ zurückzugewinnen.

Seit Wladimir Putin vor fast einem Jahr mit dem Angriff auf die Ukraine ein neues Kapitel der Kriegsführung in Europa eröffnet hat, erleben wir gleichzeitig mit der Welle der Hilfe und Solidarität für die kämpfenden und fliehenden Ukrainerinnen und Ukrainer eine medial gestützte Diskreditierung des Pazifismus, dem von Naivität gegenüber der Kriegsrealität bis zur Unterwerfung gegenüber Putin ziemlich viel vorgeworfen wird. Im Zuge dessen wird auch die Ost-West-Entspannungspolitik der 1970er Jahre, also die auf Deeskalation und Friedenssicherung gerichtete deutsche Außenpolitik, in Zweifel gezogen. Das aber nährt die Sorge, dass im Sog des Krieges wichtige Lehren aus Konfliktgeschichte und -analyse über Bord geworfen, dass unter Berufung auf eine „Zeitenwende“ neue, vor allem auf militärisches Handeln ausgerichtete Weichen ohne ausreichenden strategischen Kompass für eine friedlichere Zukunft gestellt werden.i Allzu umstandslos wurden umgehend kooperative außenpolitische Paradigmen der vergangenen Jahrzehnte – zumindest im Hinblick auf die Russlandpolitik – als „illusionär“ oder gar „verlogen“ verabschiedet. Das aber ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern diskreditiert wissenschaftlich begründete Friedens- und Sicherheitspolitik, wie sie aus den bitteren Lehren der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Und zugleich erkennt man negative Konnotationen für den Pazifismus wieder, die unter anderen Vorzeichen auch schon in anderen Epochen, etwa in den 1930er, aber auch in den 1980er Jahren eine toxische Rolle im öffentlichen Diskurs gespielt haben.

Es steht außer Frage: Auch viele Pazifistinnen und Pazifisten tun sich schwer mit diesem vielleicht sogar neuen Typus von Krieg, in dem Putin national-revisionistische Ziele mit geopolitischen Ambitionen vermischt und sogar vor der atomaren Drohung nicht zurückschreckt. Wie wäre unter diesen Vorzeichen das (staatliche) Recht auf Selbstverteidigung zu vereinen mit pazifistischen Grundsätzen? Auch in der Geschichtswissenschaft findet zurzeit eine Renovierung der deutschen Erinnerungskultur gegenüber Ostmitteleuropa statt. Was bedeutete der „Sieg des Westens“ nach dem Kalten Krieg für einen Interessenausgleich zwischen „alten“ und „neuen“ Europäern? Und sollte dieser ein- oder ausschließlich Russlands gedacht werden? In den gegenwärtigen akademischen und politischen Diskursen stellen sich viele Fragen neu, nicht erst seit Beginn von Putins Krieg.

Aber dieser historisch-geografische Hintergrund – deutsche Kriegsschuld und „Kampfplatz Europa“ – erklärt nur zum Teil, warum angesichts des Ukrainekrieges, mehr als bei anderen Kriegen, der Pazifismus ins Visier geraten ist. Woher rührt die besondere – moralische und politische – Schärfe in der Auseinandersetzung im Vergleich zu anderen aktuellen Gewaltkonflikten? Zum Beispiel gegenüber dem Krieg in Syrien, aus dem fast ebenso viele Menschen in die EU flohen wie bisher aus der Ukraine, oder dem fast zwanzigjährigen Kampfeinsatz in Afghanistan, der bei uns offiziell lange Zeit nicht „Krieg“ heißen durfte und der jetzt von einer Enquetekommission im Bundestag aufgearbeitet wird. In diesen Fällen waren Klagen über einen „falschen Pazifismus“ii in Deutschland kaum zu hören. Die Friedens- und Konfliktforschung etwa, die sich in ihrer Mehrheit gar nicht explizit pazifistisch versteht, begleitete diese Kriege im Mittleren Osten, etwa in den jährlichen Friedensgutachten, mit einer kritischen Analyse, die meist auch die deutsche Militärbeteiligung in diesen Konflikten einschloss.

Die Frage nach der Bedeutung des deutschen Pazifismus und seiner Kernanliegen für die (kriegerische) Gegenwart scheint grundsätzlicher aufgeworfen zu sein. Da kann ein Blick auf das historisch gewachsene Selbstverständnis des Pazifismus in Deutschland nicht schaden.

Doppel­ver­an­la­gung aus Ethos und Wissen­schaft

Der Pazifismus spielt(e) in der deutschen Geschichte zweifellos eine erheblich größere Rolle als in der so manches anderen Landes, was maßgeblich mit Deutschlands Verantwortung für beide Weltkriege zusammenhängt. Niedergeschlagen hat sich dies seit 1945 allerdings vor allem in einem wachsenden zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Engagement und weniger in Gestalt einer neuen staatlichen Identität.

Der deutsche Pazifismus speiste sich, seit er vor rund 120 Jahren als Gegenentwurf zum nationalistisch geprägten Militarismus in Europa Gestalt gewann, vor allem aus zwei Quellen: Erstens aus der moralischen Empörung und ethischen Überzeugung, dass staatliche Kriegführung das Schlimmste sei, was Menschen Menschen antun können. Und zweitens aus den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die zwischenstaatlichen und innergesellschaftlichen Ursachen von Gewaltkonflikten einerseits und über die verheerenden Wirkungen und Dynamiken fast aller Waffen (technologien), insbesondere der Atomwaffen, andererseits.

Diese „Doppelveranlagung“ des Pazifismus aus Ethos und Wissenschaftlichkeit war mit unterschiedlichen Akzenten schon in den bürgerlichen Diskursen des frühen 20. Jahrhunderts präsent – und von Beginn an nicht ohne Dilemmata und Kontroversen. Man denke an Bertha von Suttner, Alfred Hermann Fried oder Ludwig Quidde, die bürgerlichen Mütter und Väter des Pazifismus. Interessant im deutschen Kontext ist darüber hinaus das Hineinwachsen des Pazifismus in die Arbeiterbewegung, also die Tatsache, dass die Sozialdemokratie bis kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mehrheitlich antimilitaristische, also im Kern pazifistische Antikriegspositionen vertrat. Das Einschwören auf einen nationalistisch-imperialen „Burgfrieden“ durch den Kaiser führte dann zu der bekannten fast einhelligen Kehrtwende und Unterstützung der SPD für die Bewilligung der Kriegskredite.

Konnte sich der Pazifismus also ironischerweise immer erst ex post vor der Geschichte beweisen? Was wäre – kontrafaktisch gefragt – gewesen, wenn der Erste Weltkrieg nicht mit der Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten begonnen hätte? Für einige Historiker bedeutete 1914 den „Zusammenbruch der pazifistischen Utopie“ (Karl Holl), andere sahen im Weltkrieg geradezu einen Geburtshelfer für den Pazifismus: „Die Geschichtsauffassung des Pazifismus ist im Kriege zur öffentlichen Meinung der Welt geworden und in der deutschen Revolution auch zum offenen Bekenntnis breiter Schichten des deutschen Volkes.“ (Paul Herre)

In den 1920er Jahren radikalisierte sich der Pazifismus, zerfiel in „gesinnungsethische“ bzw. „revolutionäre“ Strömungen: An der Kriegsschulddebatte oder der Frage, ob Sozialismus die letztliche Voraussetzung für eine internationale Friedensordnung wäre, vor allem aber schließlich daran, wie dem aufkommenden Nationalsozialismus von innen und außen zu begegnen sei, schieden sich die Geister auch der deutschen Pazifist:innen wie Kurt Hiller, Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky.

Pazifismus in der Bundes­re­pu­blik: Impulsgeber, aber keine Staatsräson

Nach 1945 wurde der Nuklearpazifismus, verbunden mit Namen wie Albert Einstein, Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg, als radikale, aber zugleich wissenschaftlich rationale Begründung für den deutschen Pazifismus prägend. Ohne die fundierten Warnungen in der Erklärung der „Göttinger Achtzehn“ von 1957 und die scharfen Proteste auf der Straße wäre die Bundeswehr vermutlich heute mit Atomraketen ausgestattet. Zu Beginn der 1980er Jahre war es wieder das Zusammenspiel von wissenschaftlicher „Gegenexpertise“ über Atomkriegsfolgen und einer bis dato ungekannten öffentlichen Mobilisierung, das der bis dato größten außerparlamentarischen Bewegung der Bundesrepublik – gegen die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa – auf die Beine half und zu einer messbaren Politikrelevanz des Pazifismus führte.

In der Folge kam der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt, der den Nato-Doppelbeschluss maßgeblich mitverantwortet hatte, zu Fall, und sein Vorgänger Willy Brandt avancierte zum Hauptredner auf der Großdemonstration der Friedensbewegung im Bonner Hofgarten 1983. Mit den Grünen zog eine Partei in den Bundestag ein, die dies wesentlich ihren pazifistischen Wurzeln verdankte. So erlangte dieser „rationale Pazifismus“ zeitweise in Deutschland eine gewisse Deutungshoheit und beförderte zwischen den internationalen Hauptkontrahenten des Ost-West-Konfliktes ein Klima, in dem 1987 Ronald Reagan und Michail Gorbatschow mit dem INF-Vertrag das erste Abkommen über atomare Abrüstung unterzeichneten. Pazifistische Kernanliegen wie die Beilegung von Gewaltkonflikten durch Vermittlung, Verhandlungen und Vereinbarungen sowie die Absage an militärische Drohung und Waffeneinsatz kamen am Ende des Kalten Krieges in einem bestimmten Zeitfenster der Geschichte paradigmatisch zum Vorschein – sie blieben jedoch ein uneingelöster Gutschein auf die Schaffung einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung.

Gegenüber diesen bemerkenswerten zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Impulsen – das mag paradox klingen – blieb der Pazifismus als Teil staatlicher Identität der Bundesrepublik eher blass und unbestimmt und nach 1989/90 zunehmend ambivalent. „Friedensmacht“ zu sein, war zwar Anspruch und staatliche Selbstdeutung Bonner Außenpolitik im Rahmen der wachsenden Europäischen Union. Und „militärische Zurückhaltung“ war aus Weltkriegsschuld und neuer Westbindung jahrzehntelang gültiges Mantra westdeutscher Friedens- und Sicherheitspolitik. Das war aber eine Außenpolitik, die sich selbst explizit nicht als pazifistisch verstand. Konrad Adenauer war sicher kein Pazifist, aber auch Willy Brandt hätte sich selbst nicht als solchen bezeichnet – und auch keine:r seiner Nachfolger:innen von Helmut Schmidt bis Angela Merkel. Die Gründung der Friedens- und Konfliktforschung unter Bundespräsident Gustav Heinemann war schon 1969/70 als wissenschaftliche Begleitung der Politik, insbesondere der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, gedacht. Und eben auch kein Akt des Pazifismus.

Kurz gesagt: Staatsräson ist der Pazifismus in Deutschland nie geworden.iii Es hat zwar immer wieder Wellen verstärkten pazifistischen Einflusses auf Parteien- und Regierungspolitik gegeben und pazifistische Kernanliegen haben auch Eingang gefunden in staatliche Politik, in Deutschland im Rahmen der Wiedervereinigung und danach. International wurde das vielleicht am sichtbarsten in den Formulierungen der Charta von Paris 1990 für friedliche Streitbeilegung und Rüstungskontrolle und der Transformation der KSZE in die OSZE.

Verpasste Chancen

Aber die neuen, auch pazifistischen Hoffnungen auf eine Friedensdividende und kooperative Sicherheit in Europa erwiesen sich aus vielen Gründen als trügerisch.iv Zu ungleich oder „ungerecht“ erschien das Ergebnis des Kalten Krieges in der Wahrnehmung der ehemaligen Hauptkontrahenten. Der wachsende Einfluss des Westens, auch der Nato, nährte Misstrauen auf Seiten Russlands, das sich gerade erst auf einen holperigen Pfad in die Marktwirtschaft begeben hatte. Die Rückkehr der Krieges in Europa beim Zerfall Jugoslawiens forderte auch Deutschland zur Parteinahme, politisch wie militärisch.

Die Zäsur kam 1998/99, als mit rot-grüner Parlamentsmehrheit eine deutsche Beteiligung auf Seiten der Nato am völkerrechtlich höchst umstrittenen Kosovokrieg beschlossen wurde. Bereits 1994 hatte das Bundesverfassungsgerichtsurteil über mögliche Auslandseinsätze der Bundeswehr („out of area“) hierfür die Voraussetzung geschaffen – vielen Pazifist:innen galten dieses Urteil und der Bundeswehreinsatz im Kosovo als schwerster Tabubruch der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Nach dem Angriff auf die Twin Towers am 11. September 2001 und mit Beginn des folgenden War on Terror entstanden neue Legitimationsfiguren für militärische Interventionen, in deren Zuge die Vereinten Nationen als Friedensstifterin noch mehr marginalisiert wurde, die Nato sich dagegen als Interventionskraft zunehmend selbst autorisierte. Die auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 angestoßene Debatte über „mehr Verantwortung in der deutschen Außenpolitik“ offenbarte das, auch aus der pazifistischen Tradition begründete, deutsche Dilemma, diese Verantwortung künftig vor allem militärisch definieren zu sollen (und zu wollen). Die dann einsetzende Erhöhung des Verteidigungshaushaltes und der Nato-Beiträge stellten entsprechende Weichen. Rückblickend waren dagegen die Initiativen des Auswärtigen Amtes wie das PeaceLab-Projekt von 2016 ein eher bescheidener Reflex auf die zivilgesellschaftlichen, auch pazifistischen Impulse der vergangenen Jahre: Die in der Zivilen Krisenprävention und im Zivilen Friedensdienst tätigen deutschen NGOs wollten „mehr deutsche Verantwortung“ vor allem auf den Gebieten von verbesserter Konfliktdiplomatie und -mediation verstanden wissen. Ließ sich Deutschland gleichzeitig als größerer Truppensteller und als Vermittler in Gewaltkonflikten profilieren? Friedenswissenschaft und Kirchen kritisierten den unvermindert hohen Rang, den Deutschland im internationalen Rüstungsexport einnahm (und bis heute einnimmt).

Eskala­ti­ons­ge­fahr ernst nehmen

Denn zu den wissenschaftlichen Erträgen der pazifistisch inspirierten Konfliktforschung gehört: Militärisches Eingreifen, sei es durch Truppenentsendung oder durch Waffenlieferungen, auch wenn dies in „stabilisierender“ oder „abschreckender“ Absicht geschah, hat in fast allen Fällen eher eskalierend und eben nicht sicherheitsbildend gewirkt (siehe Afghanistan oder Mali). Häufig wurden dagegen die parallel und mit dem Ziel einer politischen, ökonomischen oder humanitären Stabilisierung laufenden zivilen Missionen durch militärisches Handeln konterkariert. Zivil-militärische Einsätze der vielgepriesenen „vernetzten Sicherheit“ können heute vielerorts als gescheitert gelten; Helfer:innen wurden unversehens Kriegspartei. Denn militärische Gewaltanwendung entwickelt fast immer eine gefährliche Eigendynamik, der Drang zur Eskalation hängt auch mit der martialischen Natur der Waffen und den Irrationalismen derer zusammen, die sie einsetzen.

Die Angst vor einer drohenden Eskalation des Ukrainekrieges, bis hin zum Einsatz atomarer Waffen, ist also durchaus berechtigt und aus friedenspolitischer, aber auch wissenschaftlicher Erfahrung begründet. Festzuhalten ist an diesem einflussreichen pazifistischen Grundgedanken also, dass die militärische Anwendung von Waffen aller Art nicht nur moralisch verwerflich oder zumindest problematisch ist, sondern eben auch in ihrer Natur eskalatorische und eben nicht friedensfördernde Mechanismen in Gang setzen kann – und zwar auch und gerade mit Blick auf die Ukraine und eine nach wie vor mögliche atomare Eskalation. Das ist eine Kernerkenntnis aus über 50 Jahren Friedens- und Konfliktforschung, die man auch haben kann, wenn man nicht gesinnungsethischer Pazifist ist.

(Friedens)strategisch denken

Eine neue Realpolitik, wie sie in Berlin jetzt erkennbar wird, wäre daher in jedem Fall gut beraten, die langen Linien im Blick zu haben – das hieße, friedensstrategisch zu denken und nicht mit zweierlei Maß zu messen, wenn es um die friedliche Bearbeitung der Zukunftsaufgaben geht, vor denen wir alle stehen. Gerade wenn wir an die Klimapolitik denken, ist die Frage der „Schuld“ keineswegs so eindeutig wie im aktuellen Ukrainekonflikt. Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, die der Putin-Krieg erneut nahezulegen scheint, ist daher ausgesprochen kontraproduktiv. Das haben wir zuletzt in den 1980er Jahren, der Schlussphase des Kalten Krieges, und dann wieder mit dem War on Terror erlebt: mit den bekannten Folgen internationaler Verfeindung, die den Gedanken zu vernebeln drohte, dass Sicherheit auf unserem Planeten nur gemeinsam und nicht gegeneinander zu haben sein wird. Eine solche umfassende Verfeindung, wie sie sich gegenwärtig angesichts neuer Geopolitik wieder anbahnt, die auch China mehr als Gegner denn als wichtigen Akteur für Kooperation ansieht, ist eine fatale Entwicklung. Sie ist destruktiv und leugnet die Existenz objektiver Interdependenzen und gleichlaufender Interessen zwischen vielen Staaten und Gesellschaften.

Ohne schließlich auch Russland eines Tages wieder als konstruktiven Akteur auf der Weltbühne zurückzugewinnen, wird es am Ende nicht gehen – sowohl mit Blick auf die Folgen des Ukrainekrieges als auch auf die weiterreichenden Probleme. Denn den allerwenigsten Bedrohungen, allen voran Klimawandel und Ressourcenknappheit, Pandemien, selbst Cyberkonflikten oder Terrorismus, lässt sich mit militärischen Mitteln wirksam beikommen. Wie wichtig zukünftig wieder eine Zusammenarbeit mit Russland in ökologischer Hinsicht sein wird, zeigt schon ein Blick nach Sibirien, wo eine ungehemmte Erderwärmung das Auftauen der Permafrostböden und die Freisetzung ungeahnter Mengen an Treibhausgasen begünstigen und damit den ganzen Planeten noch mehr bedrohen wird.

Gleichzeitig mit der Verteidigung der Ukraine wird es daher, so schwierig das gegenwärtig auch erscheint, darum gehen müssen, auf eine Deeskalation der akuten Kriegssituation hinzuwirken, Gesprächskanäle offenzuhalten, um neue Voraussetzungen für eine langfristig zu denkende europäische Friedensordnung ins Auge fassen zu können. Diese wird nur als Teil einer (klima)gerechten internationalen Ordnung vorstellbar werden. Das sind Aspekte einer „Zeitenwende“, die sich jenseits der Aufrüstung der Bundeswehr bewegen, weil sie Sicherheit in einem umfassenden zivilen Sinne des Zusammenlebens von Staaten und Gesellschaften betreffen.

 

Corinna Hauswedell geb. 1953 in Hamburg, ist promovierte Historikerin und Friedens- und Konfliktforscherin. Zu ihren Schwerpunkten gehören außenpolitische Strategien und Konzepte der Sicherheitspolitik und Gewalteinhegung, sowie Geschichte und Wirkungen des Nordirlandkonfliktes bis hin zum Brexit. Ausgehend von ihrer Tätigkeit am Bonn International Center for Conflict Studies (BICC) von 1994 bis 2006, war sie zwischen 2001 und 2017 Mitherausgeberin des Friedensgutachtens. Heute leitet sie Conflict Analysis and Dialogue (CoAD) in Bonn.

 

Anmerkungen:

i Vgl. auch Corinna Hauswedell, Zeitenwende!?, www.wissenschaft-und-frieden.de, 8.3.2022.

ii Serhij Zhadan, „Freiheit ist Freiheit. Niedertracht ist Niedertracht“, in: „Blätter“, 12/2022, S. 55-62, hier: S. 58.

iii Diese Differenz zwischen einem traditionell pazifistisch geprägten Grundkonsens in der Gesellschaft und einem oft ambivalenten Umgang mit pazifistischen Impulsen in der staatlichen Politik muss nicht negativ sein; sie verweist auf die Spielräume einer diskursiven demokratischen Realität. Besorgniserregend wird es aber, wenn wie seit Beginn des Ukrainekrieges die Dominanz militärischen Handelns friedensstrategische Alternativen minimiert, ausblendet oder sogar diskreditiert. Der DeutschlandTrend vom 19.1.2023 ergab trotz Panzerdebatte keine Eindeutigkeit für weitere Waffenlieferungen (52 Prozent der Unter-35-jährigen dagegen); Berlin sollte das berücksichtigen.

iv Nicole Deitelhoff, Zurück auf Null. Putins Krieg und die Europäische Sicherheitsordnung, in: „Blätter“, 6/2022, S. 69-76.

nach oben