Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 239/240: Keine Chance für den Frieden?

Ab wann nahm das Verhängnis seinen Lauf? Zu den Beziehungen zwischen EU, Russland und Ukraine

Die Ukraine ist inzwischen zum Beitrittskandidaten der EU geworden. Davor lag eine wechselvolle Beziehung von Distanz und Annäherung. Die Ukraine wollte seit Beginn des neuen Jahrhunderts in guter Nachbarschaft zu Russland leben. Dass später von der EU auf Russland keine Rücksicht mehr genommen wurde im Hinblick auf die EU-Assoziierung der Ukraine, gehört mit zum Entfremdungsprozess des Westens gegenüber Russland, das vom Partner zum Gegner und schließlich zum Feind definiert wurde. Die USA hatten eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Russland den Beitritt zur NATO anzubieten. Zeichnete man den Weg dieser Konfrontation nach, so zeigt sich, dass die Verantwortung dafür nicht so eindeutig auf einer Seite liegt, wie die Leitartikler heute glauben machen wollen.

In der Rückschau hält der Autor es für einen unbegreiflichen Fehler, dass sich die EU in die inneren Angelegenheiten der Ukraine, u.a. in den Maidan, massiv einmischte. Der Autor fragt sich, ob der ganze Minsker Prozess ein Täuschungsmanöver gewesen ist, um Russland hinzuhalten und die Ukraine in eine günstigere militärischen Lage zu manövrieren. Das Steinmeier-Wort vom Irrtum in der Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte sei deshalb so gefährlich, weil es eine Politik diskreditiert, die auch in Zukunft die einzig mögliche ist, wenn man den Weltfrieden für das wichtigste Politikziel hält.

 

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union gewährten der Ukraine und dem viel kleineren Nachbarland Moldawien den Status von EU-Beitrittskandidaten. Das geschah im Fall der Ukraine mit viel Emphase, eine „historische“ Entscheidung soll es gewesen sein und seitdem verspricht die EU der Ukraine allen Rückhalt, legt sich aber nicht fest.

In Wahrheit kann sich die Ukraine dafür nicht viel kaufen. Die Gewährung einer Beitrittsoption hat keinerlei rechtliche Bedeutung, es ergeben sich daraus keine Verpflichtungen für die EU. Es handelt sich um reine Symbolpolitik, wobei zugestanden sei, dass für die Ukraine in ihrer bedrängten Lage ein solches Symbol als Zeichen von Solidarität und Zusammengehörigkeit seine Bedeutung hat. Man sollte sich aber in Kiew keine Illusionen machen. Bis zur Mitgliedschaft ist noch ein sehr langer und steiniger Weg zurückzulegen, und der Erfolg ist keineswegs sicher. Die Türkei zum Beispiel wurde 1999 zum Beitrittskandidaten erklärt, sie ist es tatsächlich auch heute noch, aber nie war sie weiter entfernt von einem Beitritt als jetzt.

Eine Analyse der EU-Ukraine-Beziehungen sollte mit zwei grundsätzlichen Feststellungen beginnen. Erstens: Das europäische Integrationsprojekt bezieht sich auf den gesamten Kontinent. Im EU-Vertrag heißt es, dass jeder europäische Staat sich um die Aufnahme in die EU bewerben kann. Es ist also kein Land per se ausgeschlossen, selbst Russland nicht, obwohl die Vorstellung einer EU, die von Lissabon bis Wladiwostok reichen würde, sehr verwegen wäre. Aber gesamteuropäische Integration bedeutet nicht notwendigerweise, dass sich die EU über ganz Europa ausbreitet. Andere Formen der Kooperation und Partnerschaft sind möglich, wie das Beispiel des Europäischen Wirtschaftsraumes oder der Schweiz zeigt, denn es gibt keine Verpflichtung auf Teilnahme an der EU. Aber wie dem auch sei, die Ukraine kann EU-Mitglied werden, wenn sie es will und die dafür notwendigen Bedingungen erfüllt. Zweitens: Die Ukraine ist der Nachbar von vier EU-Mitgliedstaaten, aber eben auch der größte westliche Nachbar Russlands. Sie ist zudem mit Russland auf vielfältige Weise historisch, kulturell und wirtschaftlich eng verflochten. Und deshalb wurde das Land Gegenstand eines geopolitischen Tauziehens zwischen den USA und Russland. Die strategische Position der USA ist offenkundig. Um zu verhindern, dass Russland noch einmal zu einem machtpolitischen Rivalen aufsteigen würde, soll die Ukraine nicht zu einer wie auch immer gearteten russischen Einflusszone gehören. Es geht bei dieser Politik nicht um das Wohlergehen der Menschen der Ukraine, sondern um die strategische Schwächung Russlands.

Angesichts dieser Ausgangslage ergibt sich, dass die Gestaltung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine idealerweise einer gleichzeitigen, tragfähigen Regelung des Verhältnisses zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen der EU und Russland bedarf. Eine Zeitlang sah es so aus, als könnte das gelingen, obwohl die EU, das sollte man nicht vergessen, lange Zeit nicht so recht wusste, wie sie mit der Ukraine und derem Drängen nach einer europäischen Perspektive umgehen sollte. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts war die EU eindeutig um Distanzierung bemüht. Die Devise war, dass der Ukraine auf keinen Fall irgendwelche politischen Zusagen gemacht werden sollten. Und tatsächlich ist es so, dass es ein klares Beitrittsversprechen der EU bis zur Entscheidung über den Kandidatenstatus nicht gab. Noch nicht einmal der Assoziierungsvertrag von 2014 enthielt eine Beitrittsperspektive. Die Strategie der EU war die einer schrittweisen Heranführung ohne Definition eines endgültigen politischen Ziels.

Die Grund­stim­mung in der EU war lange nicht ukrai­ne­freund­lich

Nach meiner Erinnerung – ich war damals für die Erweiterungspolitik zuständig in der Europäischen Kommission – war die Grundstimmung in der EU bis zur sogenannten „Orangenen Revolution“ nicht ukrainefreundlich. Ein Gespräch 2003 auf der Krim mit dem damaligen Präsidenten Kutschma konnte nur begrenzte Wirkung haben, weil die Mitgliedstaaten von der Kommission (einschließlich mir) größte Zurückhaltung verlangten und erwarteten, dass keine Hoffnung auf einen möglichen EU-Beitritt genährt werden würde. Kutschma war mit dem damaligen EU-Angebot absolut unzufrieden. Angeboten wurde die Mitwirkung in der sogenannten Nachbarschaftspolitik in Form eines Aktionsplanes mit sehr konkreten Vorhaben (eher Vorgaben). Was danach kommen sollte, blieb im Dunkeln. Die damalige Skepsis der EU gegenüber der Ukraine hatte auch damit zu tun, dass man Kutschma, wie dann einige Jahre später Janukowitsch, vorwarf, eine „Schaukelpolitik“ zwischen Moskau und Brüssel zu betreiben. Man hielt die Ukraine für einen unsicheren Kantonisten. Dass das Land in guter Nachbarschaft auch mit Russland leben wollte, konnte man ihm damals ernsthaft nicht zum Vorwurf machen. Im Gegenteil.

Tatsächlich war eine klare Orientierung auf die EU seit Beginn des neuen Jahrhunderts ukrainische Politik. Das war dadurch ermutigt, dass die Erweiterungsgrunde 2004 zu keinerlei russischen Widerständen geführt hatte. In der EU gab es durchaus auch Sympathien für die Ukraine. Das zeigte sich in der breiten Solidarisierung mit Personen und Zielen der „Orangenen Revolution“, vor allem durch die neuen EU-Mitgliedstaaten. Damit allerdings war das Problem der schwachen Governance der Ukraine nicht gelöst: endemische Korruption, unkontrollierter Einfluss mächtiger Oligarchen auf Politik, Wirtschaft und Medien, fehlende Gemeinwohlorientierung der Parteien und eine käufliche Gerichtsbarkeit.

In der EU hoffte man, dass mit dem neuen Präsidenten Juschtschenko Reformen energisch vorangetrieben würden. Tatsächlich aber wurde nichts besser, sondern eher schlimmer. Insofern erklärt es sich nicht von selbst, warum dann doch Verhandlungen über eine EU-Assoziierung der Ukraine in Gang kamen. Heute bin ich mir sicher, dass damals bereits die sich verschlechternde geopolitische Lage den Ausschlag gab. Es ging um die Frage, wer den Einfluss auf Osteuropa haben würde, Russland oder die EU.

Gegen eine schrittweise Heranführung der Ukraine an die EU gab es zunächst keinerlei russische Widerstände. Die Verhandlungen über die EU-Assoziierung der Ukraine waren bereits 2011 abgeschlossen. Die Ukraine war unter ihrem als „pro-russisch“ deklarierten Präsidenten damals zur Unterschrift auch bereit. Es war die EU, die damals nicht unterschreiben wollte, weil einige „Strategen“ in Washington und Berlin es für angemessen hielten, mit parteipolitisch motivierten Schachzügen die politische Zukunft eines großen europäischen Landes aufs Spiel zu setzen (siehe den Fall Tymoschenko und die Verbindung mit antirussischen Kräften).

EU-Ein­mi­schung in die Ukraine war ein unbegreif­li­cher Fehler

2013 hatte sich die ökonomische und finanzielle Lage der Ukraine substantiell verschlechtert. Die EU verweigerte damals dem ukrainischen Präsidenten großzügige makroökonomische Unterstützung, was dazu führte, dass der ukrainische Präsident zunächst die Aussetzung der Assoziierung vorschlug. Dieser Vorschlag löste die Ereignisse des Maidan aus. Auf dem Maidan versammelten sich keineswegs nur leidenschaftliche Europäer. Der Maidan wurde zum Sammelplatz der gesamten Opposition gegen Janukowitsch, und die Kontrolle übernahm praktisch deren extrem rechter, russophober Flügel.

In der Rückschau erscheint es nicht nur als unbegreiflicher Fehler, dass die EU sich in die internen Angelegenheiten der Ukraine massiv einmischte. Zudem erschließt sich einem vernünftigen Nachdenken auch nicht, warum die EU die Ukraine grundsätzlich vor die Wahl stellte, Freihandel mit der EU zu betreiben oder mit der von Russland etablierten Eurasischen Union. Es gab durchaus Stimmen, die es in der EU ganz im Gegenteil für vorteilhaft hielten, wenn die Ukraine mit beiden Wirtschaftsblöcken verbunden sein und so die Brücke zu einem großen europäischen Wirtschaftsraum bilden würde. Eine solche Lösung hätte auch zum inneren Frieden in der Ukraine beigetragen, denn ausweislich zahlreicher Umfragen bis in die jüngste Zeit hinein wissen wir, dass die Mehrheit der Menschen in der Ukraine diese Entweder-Oder-Politik ablehnte. Zu den Unbegreiflichkeiten gehörte auch, warum seit 2011 mit Russland nicht mehr über die Auswirkungen einer EU-Assoziierung der Ukraine auf Russland gesprochen wurde. Das Argument, die Verhandlungen der EU mit einem souveränen Staat gingen Dritte nichts an, ist barer Unsinn. Auch die EU betont ständig, dass sie keine Verträge zu Lasten Dritter abschließt. Das war auch der Grund, weshalb über die Auswirkungen der EU-Osterweiterung 2004 vorher sehr wohl mit Russland über dessen politische und wirtschaftliche Besorgnisse gesprochen wurde. Damals wurden tragfähige Lösungen gefunden – warum hätte das im Fall der Ukraine nicht auch gelingen sollen?

Beim Minsker Abkommen wurde Vertrauen in die deutsche Außen­po­litik verspielt

Das wesentlich von Deutschland vorangetriebene Minsker Abkommen war ein Versuch, mit diplomatischen Mitteln den Ukraine-Konflikt zu entschärfen, bevor er unkontrollierbar sein würde. Es wurde seit langem vermutet, dass die Regierung in Kiew die Verwirklichung des Abkommens sabotierte, weil sie dazu notwendige Reform des Staatsaufbaus nicht bewerkstelligen konnte oder wollte. Tatsächlich war es aber noch schlimmer. Der damalige Präsident Poroschenko hat 2022 in Interviews, darunter mit der Deutschen Welle, preisgegeben, dass es der Ukraine nur darum ging, Zeit zu gewinnen, um den Krieg mit Russland vorbereiten zu können. Poroschenkos Eingeständnis fand in den westlichen Medien keine große Beachtung. Über die Sache war eigentlich schon Gras gewachsen, da kam Angela Merkel aus der Deckung. Sie ging noch weit über Poroschenko hinaus und erklärte, dass es auch ihr nur darum gegangen wäre, mit dem Abkommen Zeit zu kaufen für die Vorbereitung (Aufrüstung) der Ukraine auf einen unvermeidlichen Krieg mit Russland. Frankreichs Ex-Präsident Hollande sprang Merkel bei und schloss sich ihrer Darstellung an.

Im Klartext kann das nur so verstanden werden, dass der ganze Minsker Prozess von Anfang an ein einziges Täuschungsmanöver war, dazu bestimmt, Russland hinzuhalten und die Ukraine in eine günstigere militärische Lage zu manövrieren.

Es fällt schwer, Merkels Einlassung für wahr zu halten. Zu viele ihrer Äußerungen in den wichtigsten nationalen und internationalen Gremien besagten das genaue Gegenteil.

Frage: Betrügt eine deutsche Regierungschefin systematisch die eigene und die Weltöffentlichkeit in einer so zentralen Frage? Eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen, aktuell aber ist der größtmögliche Schaden angerichtet. Welche vermittelnde Rolle können Deutschland, Frankreich und die EU überhaupt noch erwägen? Wer soll der deutschen Außenpolitik international noch Vertrauen schenken?

Merkel hat die ohnehin geringen Spielräume für eine eigenständige EU-Position im Ukraine-Konflikt vollständig beseitigt. Sie mag ihre Gründe dafür gehabt haben, aber sie hat dem Frieden in Europa und dem Ansehen Deutschlands in der Welt einen schlechten Dienst erwiesen.

EU sollte Strategie für den ganzen Kontinent vorlegen

Während man also mit guten Gründen argumentieren kann, dass die EU mehr hätte tun können, um die Konfrontation zu vermeiden, die jetzt im Krieg explodierte, ist es sehr schwer einzuschätzen, ob sie mit dem Beitrittsversprechen kurzfristig etwas erreichen kann.

Die Frage wird sich mit großer Dringlichkeit erst stellen, wenn es um die Nachkriegsordnung gehen wird. Erst dann wird sich zeigen, ob und wie über den von der Ukraine gestellten Beitrittsantrag entschieden werden wird. Aber unabhängig von einem nächsten rechtsverbindlichen Schritt sollte die EU ihre bisherige Hinhaltetaktik aufgeben und nunmehr eine Strategie für den ganzen Kontinent vorlegen, in der auch die Ukraine ihren richtigen Platz findet.

Zumindest in einem Punkt hat die EU dafür gesorgt, dass keine unrealistischen Erwartungen geweckt werden. Die Idee der Kommissionspräsidentin von der Leyen, die Ukraine im Blitzverfahren zum Mitglied zu machen, wurde ohne großes Aufsehen von den Staats- und Regierungschefs ad acta gelegt. Denn tatsächlich würde ein EU-Beitritt der Ukraine unter Kriegsbedingungen und ohne Beachtung der Beitrittsregeln die europäische Integration in ihren Grundfesten erschüttern und möglicherweise sogar zerstören.

Der Bericht der EU-Kommission, der den Staats- und Regierungschefs vorlag, war – vorsichtig ausgedrückt – sehr wohlwollend verfasst. Die enormen Defizite der Ukraine werden nur angedeutet: Die verderbliche Rolle einer Handvoll von Oligarchen, die grassierende Korruption, wobei der Fisch definitiv vom Kopf her stinkt, die Unterdrückung der Opposition, das dysfunktionale Justizsystem und vieles andere mehr. Und dazu werden dann noch die Kosten des Wiederaufbaus kommen, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist und wir wissen, mit was für einer Ukraine und was für einer EU wir es dann überhaupt zu tun haben werden.

Die Ukraine-Krise ist für die EU ein Teil eines wesentlich größeren Problems. Sie sucht nach ihrem Platz in der Welt von morgen, deren Konturen inzwischen deutlich genug sind. Die Zeit der einen globalen Supermacht geht unwiderruflich zu Ende. Den rasanten Aufstieg Chinas als führende Wirtschaftsmacht beobachten wir mit einer Mischung aus Bewunderung und Furcht und fragen, welche politische Rolle China daraus ableiten wird. Was der sogenannte „Westen“, also die USA, die EU und eine Handvoll verbündeter NATO-Partner, in seiner krankhaften Selbstbezogenheit nicht wahrnimmt, ist, dass der größere Teil der Weltbevölkerung nicht mehr bereit ist, den westlichen Vorgaben zu folgen. Die großen Staaten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas haben die westliche Bevormundung satt. Man sollte genauer hinschauen, wie Länder wie Indien, Brasilien, Südafrika und andere auf der internationalen Bühne agieren. Im aktuellen Fall, der Ukraine-Krise, folgen sie keineswegs dem Versuch des Westens, Russland zu einem ewigen Paria zu machen. Leider ist auch die deutsche Außenpolitik voll auf die amerikanische Linie eingeschwenkt. Die Russlandsanktionen sollen nicht dazu dienen, Russlands Fähigkeit zur Kriegsführung zu schwächen, sondern sie sollen laut Frau Baerbock „Russland ruinieren“. Einmal abgesehen davon, ob es wirklich ratsam ist, die zweitgrößte Atommacht der Welt ruinieren zu wollen oder ob es überhaupt gelingen kann: Kann das die Vision der EU von der Zukunft des europäischen Kontinents sein?

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben es versäumt, grundsätzliche Orientierungen zu liefern, was das Projekt europäische Einigung heute noch bedeutet und welche realistischen Möglichkeiten bestehen, es voranzubringen. Eine Möglichkeit wäre es, der Erweiterungspolitik wieder Priorität einzuräumen und eine ähnlich große Anstrengung wie vor der Osterweiterung von 2004 / 2007 zu unternehmen. Dabei würde es zunächst um die Westbalkan-Länder gehen müssen, die seit 1999 im Wartesaal sitzen. Wenn die Kommission will, kann sie einen Beitrittsprozess enorm beschleunigen. Nicht, indem sie Probleme kleinredet und Defizite ignoriert, sondern indem sie das Gelingen des Prozesses zu ihrem eigenen Ziel macht und alle ihre Ressourcen einsetzt, den Beitrittskandidaten zu helfen, die schweren Hürden zu überwinden. Wirklich realistisch ist das aber nicht, denn tatsächlich ist die EU auf lange Zeit nicht erweiterungsfähig. Es fehlen die finanziellen und institutionellen Voraussetzungen, aber vor allem fehlt die politische und öffentliche Unterstützung in den Mitgliedsländern.

Gesam­t­eu­ro­pä­i­sche Kooperation nicht ohne Russland

Wenig hoffnungsvoll ist die Lage auch, wenn man sich fragt, was jenseits der EU-Erweiterung geschehen müsste, um gesamteuropäische Kooperation auf den Feldern zu erreichen, die für die Selbstbehauptung Europas zentral sein werden: Sicherheit, Klima, Handel usw. Eine solche gesamteuropäische Kooperation ohne Russland aber wäre ein Widerspruch in sich. Wenn die EU es trotzdem versuchen sollte, würde sie die Achse Peking-Moskau schmieren und sähe sich der kombinierten Macht Chinas und Russlands ausgesetzt.

Dass von deutschen Medien seit Beginn des Krieges ständig wiederholte Mantra, Russland sei prinzipiell zur Partnerschaft nicht fähig und jede anderslautende Botschaft aus Moskau sei jahrzehntelang nichts anderes als Heuchelei und Betrug gewesen, ist ein windiges Ablenkungsmanöver. Die praktischen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Russland aus der Zeit vor der Konfrontation zeigen sehr klar, dass die Strategische Partnerschaft funktionieren kann und dass eine europäische Sicherheitsarchitektur und ein gesamteuropäischer Wirtschaftsraum keine Spinnereien waren, sondern realistische Optionen. Das heute zu sagen, löst hysterische Reaktionen aus: naiv, dumm, illusionär, Wunschdenken, Anbiederung, so tönt es dann in unseren Leitmedien, die gerne vergessen, wie wohlwollend sie die Politik begleitet haben, die sie heute verdammen. Selbstkasteien gehört zu der „Zeitenwende“, die der Bundeskanzler ausgerufen hat.

Wir haben uns geirrt“, sagte der Bundespräsident. Wir? Man sollte ihn mit der Darstellung der Russland-Politik der letzten 30 Jahre als bloßen Irrtum nicht so einfach davonkommen lassen, weil diese Darstellung bestenfalls Selbstbetrug ist. Wenn alles nur ein Irrtum war, dann muss man nicht die Frage stellen, welche Fehler der Westen im Umgang mit Russland womöglich gemacht hat. Wenn mit dem kollektiven Irrtum gemeint sein sollte, dass „wir“ uns speziell in der Person Putin getäuscht haben oder er „uns“ ständig getäuscht hat, dann wird der entscheidende Punkt ausgeblendet. Man kann Weltpolitik nicht auf das Persönlichkeitsbild eines einzigen Mannes reduzieren. Würde Putin morgen abtreten, dann würden seine Nachfolger, egal aus welcher politischen Richtung sie kämen, die sicherheitspolitische Lage Russlands und seine vitalen Interessen haargenau so sehen wie er. Es ist ja auch wirklich nicht schwer, sich vorzustellen, wie das Vorrücken der NATO nach Osten aus russischer Perspektive aussieht.

Es gab die Idee, Russland den NATO-­Bei­tritt anzubieten

In der Charta von Paris im Jahr 1990 haben die Europäer unter Beteiligung der USA die Gorbatschow-Idee vom gemeinsamen europäischen Haus zu ihrem gemeinsamen Ziel erklärt. Wann und warum wurde dieser Weg verlassen? Wann fing es an, Russland nicht als Partner zu sehen, sondern als Gegner, den es klein zu halten gilt, und schließlich als Feind? Die USA hatten eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Russland den Beitritt zur NATO anzubieten. Das wurde fallengelassen. Es ließen sich die einzelnen Stationen auf dem Weg in die Konfrontation auflisten und es würde sich zeigen, dass die Verantwortung dafür nicht so eindeutig auf einer Seite liegt, wie die Leitartikler heute glauben machen wollen.

Die EU macht bei alledem keine gute Figur. Sie folgt willig der amerikanischen Strategie, die günstige Gelegenheit zu nutzen, da Putin sich offensichtlich ins Unrecht gesetzt hat. Gehorsam liefert die EU ein Sanktionspaket nach dem anderen ab, obwohl sehr wahrscheinlich ist, dass die Sanktionen uns selber mehr schaden als dem Adressaten. Nun sind wir auf Jahre auf hohe Energiepreise festgelegt. Wie gravierend sich das auf die industrielle Basis Deutschlands auswirken wird, muss man sehen. Die industrielle Abwanderung hat ja offenbar begonnen.

Die eifrig nachgeplapperte Parole, Putin darf nicht gewinnen, bedeutet im Klartext, dass dem Westen an einer Verhandlungslösung nichts liegt. Für die USA ist das kein Problem, für uns Europäer kann es die Existenzfrage sein. Ist es eigentlich noch erlaubt, in der Außenpolitik von den eigenen Interessen zu reden, oder ist das schon Moskau-Hörigkeit? Ein sich immer länger hinziehender Krieg mit immer mehr Opfern – ist das unser Interesse?

Ist es unser Interesse, dass wir uns in der Ukraine an einem Stellvertreterkrieg beteiligen, bei dem es um die geopolitischen Interessen der USA geht? Dabei ist die Ukraine nur ein Opfer. Sie muss immer weiterkämpfen, auch wenn ein Sieg längst unerreichbar scheint. Das andere Opfer wird die EU sein. Sie wird wirtschaftlich und politisch so geschwächt, dass aus dieser Richtung kein Widerspruch gegen die US-Politik mehr zu erwarten ist und die Vorstellung von ihrer strategischen Emanzipation zum echten Partner zur Lachnummer wird.

Hätte die EU die Rolle eines eigenständig handelnden globalen Akteurs und würde die Bundesrepublik Deutschland, dem friedenspolitischen Auftrag des Grundgesetzes folgend, die EU in diese Richtung führen, dann könnte die EU ihr Gewicht einbringen, um den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden.

Wie in der Frage der militärischen Unterstützung erhöht die Ukraine permanent den moralischen Druck auf die EU in der Beitrittsfrage. Noch allerdings begnügt sich die EU mit Symbolpolitik, wie der sehr ungewöhnliche Aufmarsch der halben EU-Kommission mitsamt der Präsidentin und dem Präsidenten des Europäischen Rates jüngst in Kiew zeigte.

Die Ukraine setzt auf den Umstand, dass sie Opfer einer Aggression ist, als politisches Druckmittel. Sie weiß ganz genau, dass sie auf dem normalen Weg ihr Ziel, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahren gründlicher Reformen, erreichen kann. Wenn die ukrainische Regierung jetzt von einem Beitritt innerhalb von zwei Jahren spricht, offenbart sie, dass sie einen politischen Rabatt erwartet, der unvereinbar ist mit dem Wesen der Integration. Das ukrainische Argument, die Ukraine habe 72 Prozent der Beitrittsbedingungen erfüllt, verkennt völlig den Charakter von Beitrittsverhandlungen. Zwar muss die Gesamtheit des Gemeinschaftsrechts vollständig übernommen werden, aber Fortschritte dabei sind keine quantitative Frage. Ich will nicht einmal ausschließen, dass ein hoher Prozentsatz der zu übernehmenden EU-Rechtsakte schon gilt oder demnächst unproblematisch übernommen werden könnte. Aber im Rest können sich die Probleme verstecken. Zudem gilt in der EU das Recht aller, genau hinzuschauen und zu prüfen, ob Erklärungen und Realität auch zusammenpassen. Wer das aushebeln will, gefährdet den Ratifikationsprozess.

Auch die Fähigkeit, das EU-Recht vollständig anzuwenden, ist ein unverzichtbares Beitrittskriterium. Die EU kann selbstverständlich Übergangsfristen und hin und wieder (sehr selten) auch Ausnahmen zulassen. Praktisch aber schließen die Vorschriften des geltenden Assoziierungsvertrages diese Flexibilitäts-Option fast vollständig aus. Wohlmeinende Beobachter der Entwicklung in der Ukraine haben vielleicht mit Zufriedenheit zur Kenntnis genommen, dass es in jüngster Zeit in Kiew ein paar Aufräumarbeiten gegeben hat und politisches und militärisches Führungspersonal wegen Korruptionsvorwürfen aus dem Amt entfernt wurde. Die bisherige Erfahrung mit dem Kampf gegen Korruption in der Ukraine lehrt uns aber, dass es dabei selten um das Herausschneiden dieses Krebsgeschwürs geht, sondern dass der Korruptionsvorwurf dazu benutzt wird, politische Hierarchien neu zu ordnen und Einfluss anders zu verteilen. Das ist eine Methode, die die Ukraine nicht erfunden hat.

Wie ernst es der EU mit dem Beitritt der Ukraine ist, wird sich an einer sehr delikaten Stelle zeigen – wenn die nächste Finanzielle Vorausschau (der siebenjährige Rahmenplan für den EU-Haushalt) beschlossen werden muss. Spätestens dann müsste finanzielle Vorsorge für ein neues mögliches Mitglied getroffen werden.

Die EU steht dabei vor einer unangenehmen Alternative. Sie muss entweder den Rahmen für die Ausgaben drastisch erhöhen, was bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten sehr viel mehr in die gemeinsame Kasse einzahlen müssten. Oder sie muss radikal umverteilen. In beiden Fällen ist massiver Widerstand gewiss, denn die Ukraine kann man nicht mit einem EU-Beitritt Polens vergleichen. Zu deren Ansprüchen an die EU kämen die Kriegsschäden hinzu, für deren Finanzierung es aktuell keine Lösung gibt.

Die Verteu­fe­lung Russlands wurde betrieben

Um die politische Situation richtig verstehen zu können, stellt sich die Frage: Wann ist wer falsch abgebogen. Ab wann nahm das Verhängnis seinen Lauf? So zu fragen, ist in Deutschland kaum üblich. Denn die Frage impliziert, dass der Krieg eine Vorgeschichte hat und nicht ein Akt spontaner russischer Aggressionsentladung war.

Man muss ehrlich sagen, dass seit dem Ende der 1990er Jahre, bei allen ermutigenden Tendenzen der Zusammenarbeit, sich immer mehr Konfliktpunkte aufhäuften. Die Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA leitete eine Ära des Abbaus von Abrüstungs- und Kontrollverpflichtungen ein und der Trend ist bis heute nicht gebrochen. Zu diskutieren wären dann auch die unterschiedlichen Interessen und die unterschiedliche Herangehensweise zwischen den USA und Russland in Sachen Serbien, Irak, Syrien und Libyen.

Man müsste die Frage stellen, warum Präsident Obama einerseits einem „reset“ das Wort redete und andererseits Russland als „Mittelmacht“ verspottete.

Es müssten sich auch die US-Demokraten und die US-Geheimdienste kritische Fragen gefallen lassen, warum sie jahrelang die Verteufelung Russlands aktiv betrieben, egal wie dünn die Beweise waren.

Gibt es Hoffnung auf baldigen Frieden?

Jüngst ließ eine Studie der dem Pentagon nahestehenden RAND Corporation aufhorchen. Kurz gesagt und etwas vereinfacht geht deren Argumentation so: Der Ukraine-Konflikt berührt nicht die erstrangigen strategischen Interessen der USA. Er lenkt ab vom zentralen Problem, der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit China. Der Krieg bindet außerdem Ressourcen, die für diese Auseinandersetzung gebraucht würden. Also liegt es, so RAND, im US-Interesse, den Krieg zu beenden und ein politisches Übereinkommen über die Zukunft der Ukraine zu finden. Gleichzeitig mit der RAND-Studie und wohl nicht zufällig wurde bekannt, dass in Washington erwogen wird, einen Teil des Territoriums der Ukraine (20 Prozent) zu überlassen, um so den Krieg zu beenden. Diese Meldung wurde sofort dementiert, aber dass sie überhaupt zustande kommen konnte, zeigte, dass es in Washingtoner Kreisen solche Gedankenspiele gibt.

Es lässt sich heute nicht beurteilen, ob die amerikanische Politik in die von der RAND-Studie empfohlene Richtung gehen wird. Da wird auch die US-Innenpolitik eine wichtige Rolle spielen und wovon sich die US-Demokraten bei der nächsten Präsidentschaftswahl den größten Vorteil versprechen. Festzuhalten ist hier: Ob es zu einem Waffenstillstand und in seiner Folge zu einem Friedensschluss kommt, wird sich in Washington entscheiden und nirgends sonst. Die Vermittlungsangebote Dritter sind aller Ehren wert, aber leider fehlte allen Vermittlern das politische Gewicht.

Wir wissen also nicht, wann und wie dieser Krieg zu Ende gehen wird. Sehr verschiedene Szenarien sind denkbar, aber mit einer einzigen Ausnahme, falls es nämlich nicht gelingt, die militärische Eskalation zu stoppen und wir im nuklearen ´Feuer alle gemeinsam für die Freiheit der dann auch nicht mehr existierenden Ukraine untergehen., Von dieser Ausnahme abgesehen, wird jedenfalls nach dem Krieg wieder Politik gemacht werden müssen.

Vielleicht in einer veränderten internationalen Landschaft, aber jedenfalls mit denselben Akteuren, die wir auch heute haben. Es spricht also alles dafür, schon jetzt darüber nachzudenken, wie die Politik nach dem Krieg aussehen sollte.

Mehr gesam­t­eu­ro­pä­i­sches Denken unter Einschluss Russlands

Man wird das Zusammenleben in Europa organisieren müssen, so oder so. Man wird miteinander reden müssen und man wird bereit sein müssen, den Gedanken zuzulassen, dass Russland nicht von der Weltkarte verschwinden wird. Man wird also Vertrauen zulassen müssen – und wohlgemerkt, dazu gehören zwei Seiten.

Ein eingefrorener Konflikt à la Korea oder Taiwan oder Zypern würde den Versuch, so etwas wie eine gesamteuropäische Einheit herzustellen und eine neue Teilung Europas zu verhindern, von vornherein zum Scheitern verurteilen. Die Annahme, man müsse Russland nur aus Europa wegdenken, und dann wäre das Problem beseitigt, ist naiv.

Warum wir mehr und nicht weniger gesamteuropäisch, das heißt unter Einschluss Russlands denken und handeln müssen, lehrt der Blick um uns herum. Es wird in Deutschland eine Debatte geben müssen, die noch einmal das „wir haben uns leider geirrt“-Motiv aufwirft, das seit der „Zeitenwende“ so gern bemüht wird. Es lässt sich mit guten Gründen bestreiten, dass diese Abwertung der eigenen Geschichte auf einer richtigen Analyse beruht. Man könnte sogar argumentieren, dass die als richtig erkannte Politik der Verständigung und des Dialogs nicht konsequent genug betrieben und konsequent genug verteidigt wurde, als sie unter Attacke geriet.

Das Steinmeier-Wort „Wir haben uns geirrt“ ist auch deshalb so gefährlich, weil es im Nachhinein eine Politik diskreditiert, die auch in Zukunft die einzig mögliche Politik ist, wenn man den Weltfrieden für das wichtigste Politikziel hält. Es darf nicht geschehen, dass das Nachdenken über eine verlässliche europäische Friedensordnung als Außenseitermeinung oder gar Verrat an deutschen Interessen portraitiert werden könnte.

Wir gehen unsicheren, schweren Zeiten entgegen. Für meine Generation war die Idee der europäischen Einigung einmal der Königsweg zu Frieden, Sicherheit und Wohlstand auf dem gesamten europäischen Kontinent. Wir sahen Europa, das jahrhundertelang ein Unglück nach dem anderen über sich und die Welt brachte, als ein mögliches Vorbild dafür, wie Völker ohne Krieg und Gewalt miteinander leben können, als eine Ermutigung auch für andere, denselben Weg einzuschlagen. Dieser Weg bleibt richtig. Wir Deutsche haben nach dem Zweiten Weltkrieg große Versöhnungsbereitschaft erfahren. Wir sollten die Ersten sein, die anderen die Hand zur Versöhnung reichen.

 

Günter Verheugen Jahrgang 1944, studierte nach einem Zeitungsvolontariat Geschichte, Soziologie und Politische Wissenschaft in Köln und Bonn (1965-69). Nach dem Studium arbeitete er als Referatsleiter für Öffentlichkeitsarbeit im Bundesministerium des Innern unter Hans-Dietrich Genscher, mit dem er 1974 ins Auswärtige Amt wechselte. Er wurde 1977 zum Bundesgeschäftsführer und 1978 zum Generalsekretär der FDP gewählt. Nach der Wende 1982 Austritt aus der FDP und Eintritt in die SPD. Von 1983 bis 1999 gehörte er als Mitglied der SPD-Fraktion dem Deutschen Bundestag an, nach der Wahl 1998 zugleich Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer. 1999 wurde er unter Romano Prodi EU-Kommissar für die Erweiterungsverhandlungen und später unter José Manuel Barroso (ab 2004) Industriekommissar sowie stellvertretender Präsident der EU-Kommission.

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