Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 239/240: Keine Chance für den Frieden?

Selbst­be­stim­mungs­recht und terri­to­riale Integrität im Ukrai­ne­krieg

Beim Krieg zwischen Russland und der Ukraine geht es nicht nur um eine neue globale Weltordnung, sondern auch um den territorialen Bestand der Ukraine sowie die abtrünnigen Regionen der Ostukraine. Der Beitrag geht auf die historischen Wurzeln des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts sowie dessen Außen- sowie Binnenwirkung ein. Sezessionsbestrebungen werden als eine Ausprägung dieses Rechts verstanden, die aber nur in Fällen extremer Diskriminierung von nationalen Minderheiten sowie der innerstaatlichen Desintegration völkerrechtlich anerkannt werden. Vor diesem Hintergrund beleuchtet Norman Paech den Russland-Ukraine-Konflikt.

Der Krieg in der Ukraine hat – obwohl Domäne der Politik und des Militärs – von Anfang an auch die Juristen auf den Plan gerufen. Unmittelbar nach dem Einmarsch der russischen Armee vor einem Jahr entschied nicht nur die UN-Generalversammlung, dass dieser Angriff völkerrechtswidrig sei, sondern der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) kündigte sofortige Untersuchungen möglicher Kriegsverbrechen auf beiden Seiten an. Schon vorher, bei der Annexion der Halbinsel Krim 2014 und ihrer Integration in die Russische Föderation, hatte sich Präsident Putin auf das Selbstbestimmungsrecht der überwiegend russischstämmigen Bevölkerung berufen. Präsident Selenskyi hingegen beruft sich auf das Recht auf territoriale Integrität. Mit der Unabhängigkeitserklärung und der Annexion der Donbas-Oblaste durch Russland stehen sich nun beide Prinzipien gegenüber, um jeweils die Positionen der Angreifer und der Verteidiger zu begründen und zu rechtfertigen. Die folgenden Zeilen sollen versuchen, den juristischen Gehalt und die normative Kraft der beiden Prinzipien zu klären und ihren offensichtlichen Konflikt gegeneinander abzuwägen.

Selbstbestimmungsrecht

Idee und Zielsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker gehen auf die bür­gerliche Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurück. Seinen ersten revolutionären Einsatz erlebte es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1775, die das Recht des Volkes auf Befreiung von einem Regime forderte, das die unveräußerlichen Rechte der Menschen missachtet und nicht mehr von der „Übereinstimmung der Regierten“ getragen werde. Deutlicher noch und in konsequenter Verbindung mit dem Prinzip der Volkssouveränität erschien das Selbstbestimmungsrecht in der Französischen Revolution, wo allen Völkern, die sich von ihrer Obrigkeit befreien wollten, brüderliche Unterstützung und Hilfe durch die französische Armee ver­sprochen wurde.i Gleichwohl bekräftigte die Verfassung vom Juni 1793 das Prin­zip der Nichtintervention. Die erste Bewährungsprobe hatte das Selbstbestim­mungsrecht in der Kolonialfrage zu bestehen, als sich in den Jahren 1790/1791 die Mulatten und „Neger“ auf der Insel Saint Domingue in der Karibik erhoben. Nach heftigen Debatten in der Nationalversammlung wurde im Februar 1794 mit großer Mehrheit die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien beschlossen.

Dennoch spielte im folgenden Jahrhundert das Selbstbestimmungsrecht in der Ko­lonialfrage keine entscheidende Rolle. Erst im zwanzigsten Jahrhundert, am Aus­gang des ersten Weltkrieges, wurde es von dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson als zentrales Prinzip einer zukünftigen Friedensordnung wieder in die Diskussion gebracht. In seinen „Vierzehn Punkten“ vom Januar 1918 ver­band er die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit aller Staaten mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Schutz nationaler Minderheiten. Nicht die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts an die Völker sei der Grund für Kriege, sondern seine Verweigerung. Gleichwohl fand das Recht als ausdrückliches Ziel noch keinen Eingang in die Völkerbundsatzung.

Erst nach dem zweiten Weltkrieg gelang es, das gerade geschei­terte System kollektiver Sicherheit in der Organisation der Vereinten Nationen wieder zu beleben und das Selbstbestimmungsrecht in der Charta von 1945 (Art. 1 Z. 2, 55 UNO-Charta) zumindest zu erwähnen. Allerdings macht die eher ver­steckte und unauffällige Platzierung des Begriffs in der Charta deutlich, dass weder über die inhaltliche Präzisierung noch die rechtliche Geltungskraft bei den Autoren genauere Vorstellungen herrschten – der Schutz nationaler Minderheiten fand überhaupt keine Erwähnung. Dementsprechend wurde dem Selbstbestimmungs­recht in jener Nachkriegszeit allgemein auch jede konkretisierbare Rechtsverbind­lichkeit abgesprochen und es mehr in das Feld allgemeiner Programmatik verwie­sen.ii

Seine inhaltliche Aktualisierung und rechtliche Präzisierung erhielt es erst in der kommenden Phase der kolonialen Befreiungskämpfe. Was die Gründungsstaaten der UNO nicht vermocht hatten, sich definitiv von ihrem kolonialen Erbe zu be­freien, mussten die unterdrückten Völker in die eigenen Hände nehmen, und in z.T. blutigen und verlustreichen Kämpfen durchsetzen. Die völkerrechtliche Basis der antikolonialen Bewegungen bildete das Selbstbestimmungsrecht, womit sie folge­richtig an die Wurzeln und ersten Prinzipien der bürgerlichen Befreiungsbewegung des ausgehenden 18. Jahrhunderts anknüpften. Je mehr Völker ihre staatliche Un­abhängigkeit in den 1950er Jahren gegenüber den alten Kolonialmächten durch­setzen konnten und als souveräne Staaten in die UNO aufgenommen wurden, desto mehr waren sie in der Lage, ihre Vorstellungen von Unabhängigkeit, Gleich­berechtigung und Selbstbestimmung in relevanten Dokumenten der UNO-General­versammlung zu verankern. Ersten Ausdruck fand dies am 14. Dezember 1960 in der berühmten Dekolonisationsresolution 1514 der 15. Generalversammlung, der inzwischen 18 neue unabhängige Staaten angehörten:

„1. Die Unterwerfung von Völkern unter fremde Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung stellt eine Verweigerung grundlegender Menschenrechte dar, widerspricht der Charta der Vereinten Nationen und beeinträchtigt die Sache des Weltfriedens und der weltweiten Zusammenarbeit.

2. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung; auf Grund dieses Recht bestimmen sie frei ihren politischen Status und gestalten sie frei.“

Die Resolution war vor allem der Durchbruch zur Rechtfertigung des Befreiungskampfes. Es gehörte von nun an zur alljährli­chen Selbstverständlichkeit, „das unveräußerliche Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung“ der Völker unter Kolonialherrschaft zu bestätigen.iii

Die Resolution hatte ferner erstmalig eine Verbindung zwischen der Unterwerfung unter fremde Herrschaft und den Menschenrechten aufgestellt. Noch 1948 war ein Antrag der Sowjetunion abgelehnt worden, das Selbstbestimmungsrecht in die All­gemeine Erklärung der Menschenrechte zu übernehmen. Doch 1966 hatte sich die Situation gewandelt, und die UNO-Generalversammlung stellte das Selbstbestim­mungsrecht jeweils an den Anfang der beiden Menschenrechtspakte. Art. 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte formulieren gleich­lautend:

„Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“

Damit war ein Doppeltes erreicht. Die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts in zwei rechtlich verbindliche Menschenrechtspakteiv stellte seine rechtliche Verbind­lichkeit außer jeden Zweifel. Zum anderen war zum ersten Mal eine Legaldefinition vorhanden, die über Inhalt und Umfang des Selbstbestimmungsrechts Klarheit brachte. Diese Entwicklung war dadurch unterstützt worden, dass 1970 die letzten westlichen Staaten ihren Widerstand gegen das Selbstbestimmungsrecht in seiner antikolonialen Stoßrichtung aufgege­ben hatten und einstimmig die grundlegende „Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenar­beit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nati­onen“ (sog. Prinzipiendeklaration) verabschiedet hatten.v In der Deklaration heißt es u.a.:

„Auf Grund des in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grund­satzes der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker haben alle Völker das Recht, frei und ohne Einmischung von außen über ihren politi­schen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten, und jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht im Einklang mit den Bestimmungen der Charta zu achten….

Die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Verei­nigung mit einem unabhängigen Staat oder die freie Eingliederung in einen solchen Staat oder das Entstehen eines anderen, durch ein Volk frei be­stimmten politischen Status stellen Möglichkeiten der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch das Volk dar…“

Seit diesem Zeitpunkt wird das Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr nur als politisches Prinzip oder unverbindliche Programmatik in den internationalen Bezie­hungen, sondern als verbindliche Regel des internationalen Gewohnheitsrechts im Range zwingenden Rechts (ius cogens) angesehen. Dies hat die UN-Generalver­samm­lung in zahlreichen Resolutionen immer wieder bekräftigt.vi Die International Law Commission hat das Selbstbestimmungsrecht schon vor 1970 als ius cogens anerkannt und später seine Verletzung als ein Beispiel für ein Internationales Verbrechen angeführt.vii Der Internationale Gerichtshof hat seine verbindliche Gel­tung als Gewohnheitsrecht in seinen Gutachten zu Namibiaviii und zur Westsaharaix sowie in seinem Rechtsstreit zwischen Nikaragua und der USAx bestätigt.

Der eindeutige antikoloniale Hintergrund des Inhalts und der Stoßrichtung des Selbstbestimmungsrechts hat allerdings dazu geführt, dann seine volle Gültigkeit für die nachkoloniale Situation wieder in Frage zu stellen. Mit der Auflösung der kolonialen Herrschaftsverhältnisse habe auch das Selbstbestimmungsrecht seine Bedeutung verloren, es sei gleichsam durch Erfüllung seiner Zielsetzung überflüs­sig geworden.xi Dies mag für einige Elemente seines Inhalts wie die Forderung nach Eigenstaatlichkeit und Durchsetzung mittels militärischer Gewalt gelten, nicht jedoch für das Recht als solches. Denn Träger des Selbstbestimmungsrechts sind nach Art. 1 der Menschenrechtspakte „alle Völker“ und nicht nur die kolonial un­terdrückten Völker. Das bedeutet auch nicht, dass nach Auflösung der Kolonialrei­che das Selbstbestimmungsrecht allein auf die Staatsvölker übergegangen ist, wo­mit es auf ein Recht reduziert würde, das lediglich die heutige Staatenwelt konser­viert und die vielen innerstaatlichen ethnischen Konflikte negiert. Inhalt und Reichweite des Rechts mögen sich durch das Ende der Kolonialepoche verändert haben, nicht aber die Träger und Subjekte. Die Aufnahme des Selbstbestimmungs­rechts in nachkoloniale Konventionen und Deklarationen spricht eindeutig dafür. So bestimmt Art. 20 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 27. Juni 1981:

„Alle Völker haben ein Existenzrecht. Sie haben das unbestreitbare und un­veräußerliche Recht auf Selbstbestimmung. Sie entscheiden frei über ihren politischen Status und gestalten ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach der von ihnen frei gewählten Politik.“

Die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts 1975 in die Schlussakte von Helsinki beweist darüber hinaus die Unabhängigkeit der Geltung des Selbstbestimmungs­rechts von einer kolonialen Situation. Denn dieser Vertrag bezieht sich nur auf den europäischen Kontinent, der nur noch marginale koloniale Verhältnisse aufweist. D.h. ein Volk verliert nicht dadurch sein Selbstbestimmungsrecht, dass es sich aus einer Situation der Unterdrückung und Fremdherrschaft befreit hat. Es wird auch nicht dadurch gegenstandslos, dass sich das Volk in einem eigenen Staat konstituiert hat. Es verändert nur seine Stoßrichtung von der Abwehr äußerer Bedrohung zur freien Gestaltung der inneren staatlichen Ordnung. So fordert die UN-Menschen­rechtskommission die Staaten auf, in ihren Berichten auch zum Selbstbestim­mungsrecht gem. Art. 1 des Internationalen Paktes für politische und bürgerliche Rechte Stellung zu nehmen:

„In Bezug auf Art. 1 Abs. 1 sollten die Vertragsstaaten die verfassungsmä­ßigen und politischen Prozesse beschreiben, die die Ausübung dieses Rechts in der Praxis ermöglichen.“

Sezession

In letzter Konse­quenz ist die Sezession als die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts gegen unerträgliche Herrschaft völkerrechtlich begründbar. Sie beinhaltet das Recht auf eine eigene staatliche Organisation. In der ohnehin schwachen Ausformung des Selbstbestimmungsrechts in der UNO-Charta hatte die Sezession als Alternative ihrer Verwirklichung keinen Platz. 1961 hatte der UN-Sicherheitsrat die Sezessionsbewegung Katangas in seiner Resolution 169 als illegal verurteilt, obwohl die Bewegung bereits bedeutende Teile der Pro­vinz unter Kontrolle hatte. Ebenso wenig fand das Sezessionsbestreben Biafras 1967 bis 1969 die Unterstützung der Vereinten Nationen. Und noch 1970 erklärte der damalige UNO-Generalsekretär U Thant:

„Die UNO hat niemals das Prinzip der Sezession eines Teils von einem Staat akzeptiert und wird es auch niemals, denke ich, akzeptieren.“xii

Diese Position war bereits 1964 von den Staats- und Regierungschefs der Block­freien Staaten auf ihrer Konferenz in Kairo eingenommen worden, wo sie ein ein­deutiges Bekenntnis zur territorialen Integrität der Staaten ablegten nach dem Prinzip des uti possidetis, d.h. „behaltet, was ihr besessen habt“. Die Organisa­tion Afrikanischer Einheit (OAU) hat diese Haltung im Grunde bis in die 1990er Jahre vertreten, wie das Beispiel Eritrea zeigt. Sie hat die Eritreische Be­freiungsbewegung und ihren Kampf um einen eigenen Staat nie anerkannt, bis sie 1993 vor das Ergebnis der Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien und die separate Staatsgründung gestellt wurde.

Der Prozess der Dekolonisation hatte allerdings gezeigt, dass die Realität den poli­tischen Positionen vorausgeeilt war, und sich auch in der UNO langsam durch­setzte. So hat die Generalversammlung zur gleichen Zeit als ihr Generalsekretär noch die Sezession auch für die Zukunft ausschloss, in ihrer Prinzipiendeklaration drei Arten der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts anerkannt:xiii

„Die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Ver­einigung mit einem oder die freie Integration in einen unabhängigen Staat oder die Erringung irgendeines anderen durch das Volk frei bestimmten Status.“

Dieses Bekenntnis zur Eigenstaatlichkeit als Konsequenz des Selbstbestimmungs­rechts wird auch durch den folgenden Paragraphen, in dem die territoriale Integri­tät im Zentrum steht, nicht wieder aufgehoben:

„Keine Bestimmung der vorstehenden Paragraphen ist als Ermächtigung oder Ermunterung zu irgendeiner Handlung aufzufassen, die die territoriale Integrität oder die politische Einheit souveräner Staaten teilweise oder voll­ständig zerstören oder beeinträchtigen würde, die sich von dem oben be­schriebenen Prinzip der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungs­rechts der Völker leiten lassen und folglich eine Regierung besitzen, die das ganze Volk des Territoriums ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens und der Hautfarbe vertritt.“

Im Umkehrschluss wird aus diesem Satz das Recht auf Sezession abgeleitet, wenn eine Regierung nicht das ganze Volk vertritt, sondern Teile davon diskriminiert. D. h. dass in jenen Fällen, in denen Völker, Minderheiten oder Gebiete unter Verlet­zung des Völkerrechts unterjocht werden und kein anderer Ausweg besteht, die verletzten Rechte wiederherzustellen, die Sezession das letzte und einzige Mittel zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts bleibt.

Derartige Situationen werden mit denen des Kolonialismus verglichen, die zu einem „Recht auf Dekolonisation“ führen. Unter den Umständen, unter denen

a minority within a sovereign state – especially if it occupies a discrete ter­ritory within that state – persistently and egregiously is denied political and social equality and the opportunity to retain its cultural identity … it is con­ceivable that international law will define such repression, prohibited by the Political Covenant, as coming within a somewhat stretched definition of colonialism, even by an independent state not normally thought to be ‘im­perial’ would then give rise to a right of ‘decolonisation’.xiv

Trotz der verbreiteten Abneigung der Staaten, ein Recht auf Sezession anzuerken­nen, ist ihre Praxis doch immer wieder widersprüchlich. Es ist nur auf die frühzei­tige Anerkennung der Sezession Sloweniens und Kroatiens von Jugoslawien durch die deutsche Bundesregierung im Jahr 1991 hinzuweisen. Sie erfolgte, obwohl sich diese Provinzen zweifellos nicht in einer kolonialen Situation oder schwerster Un­terdrückung befanden. Hingegen hat die internationale Staatengemeinschaft die Unabhängigkeitsforderungen Dudajews im Fall des Tschetschenien-Konflikts nie akzeptiert. Sie stellte sich vielmehr hinter die Position der USA, die die territoriale Integrität Russlands für unantastbar erklärte:

We strongly support the territorial integrity of Russia and would be op­posed to any attempt to change its borders either through aggression from outside or through armed insurrection from inside.“xv

Der Konflikt wurde zu einem Problem der inneren Sicherheit erklärt, während die Situation der tschetschenischen Bevölkerung zwar beklagt, ihr aber kein Recht auf Sezession zuerkannt wurde. Es ist also eine Frage der Verhältnismäßigkeit, bis zu welchem Grad der Diskriminierung einem Volk das Verbleiben in einem Staatsver­band zugemutet werden kann.xvi Ein akzeptabler Ausgleich zwischen dem Recht auf staatliche Integrität und dem Selbstbestimmungsrecht ist zweifellos dann beachtet, wenn ein Recht auf Sezession erst dann anerkannt wird, wenn die Rechte der be­troffenen Bevölkerungsgruppe aufs schwerste dauerhaft und nachhaltig verletzt werden und der Anspruch auf Schutz der Identität verweigert wird. Ein derartiger Fall wird z.B. angenommen, wenn der interne Konflikt zwischen der Zentralregie­rung und dem Volk in der Minderheit Formen des Völkermords angenommen hat.xvii

Um es aber nicht bis zu diesem Stadium der Destabilisierung und Desintegration souveräner Staaten kommen zu lassen, auf der anderen Seite aber auch das Recht auf Selbstbestimmung und Achtung der Identität von Völkern zu erfüllen, wird allgemein auf die Konzepte der Autonomie und des Föderalismus verwiesen. So wurden z.B. zur Lösung des Kosovo-Problems unterschiedliche Formen der Auto­nomie vorgeschlagen, dann aber die Unabhängigkeit durch Sezession durchgesetzt. In der Konsequenz bietet sich also das „innere“ Selbstbestimmungsrecht in Form zahlreicher Alternativen der Autonomie und des Föderalismus an, um einen akzeptablen Mittelweg zwischen territorialer Integrität und „äußerem“ Selbstbestimmungsrecht in Form der Sezession sowohl für den Staat wie für die Minderheit zu finden.

Selbst­be­stim­mung gegen terri­to­riale Integrität im Krieg

Ein Fall schwerster Unterdrückung trifft jedoch auf die Situation der Russen in der Ukraine nicht zu, selbst wenn die Regierung in Kiew versuchte, die russische Sprache aus dem Rechtsverkehr auszuschließen, dies jedoch bald schon wieder aufgab. Die Unabhängigkeitserklärung des Parlaments auf der Krim und das anschließende Referendum waren auf jeden Fall verfassungswidrig, da sie der territorialen Integrität widersprachen, die in Art. 17 der ukrainischen Verfassung von 1996 kodifiziert ist. Schon vier Jahre zuvor hatte Russland, gemeinsam mit den USA, Großbritannien und anderen Staaten, der Ukraine im sog. Budapester Memorandum von 1994 die Achtung ihrer Souveränität und Garantie ihrer territorialen Integrität sowie politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugesichert. Dies war die Gegenleistung für den Verzicht der Ukraine auf Nuklearwaffen. Zudem enthält die Verfassung keine Ermächtigung für ein Referendum mit derart umfassenden und für das Territorium der Ukraine einschneidenden Folgen, lediglich regionale Fragen können gem. Art. 138 Gegenstand eines Referendums sein.

Russland selbst hat 1995 die Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens und das entsprechende Referendum als ungültig zurückgewiesen und war mit Waffengewalt gegen die Separatisten vorgegangen. Das Verfassungsgericht in Madrid hatte das für den 9. November 2014 geplante Referendum in Katalonien für eine Trennung von Spanien und die Bildung eines unabhängigen Staates wegen Verletzung der spanischen Verfassung zurückgewiesen.xviii Die Entscheidung hat u.a. darauf hingewiesen, dass eine Sezession nur dann anerkannt werden kann, wenn ihr die Entscheidung des ganzen Volkes und nicht nur des sezessionswilligen Teiles zugrunde liegt. Beispiele dafür sind die Auflösung der Tschechoslowakei 1992/93 und die Trennung Süd-Sudans von Sudan 2011.

Die Frage, ob eine verfassungswidrige Sezessionserklärung auch völkerrechtswidrig ist, wird mitunter verneint. Das stärkste Argument, auf das sich auch das Krim-Parlament in seiner Entscheidung vom 11. März und Russlands Präsident Putin in seiner Rede vom 18. März gestützt haben, ist die Berufung auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag, welches er auf Anforderung der UN-Generalversammlung zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo erstellt hat.xix Er kam zu der Schlussfolgerung, dass

the adoption of the declaration of independence of the 17 February 2008 did not violate general international law because international law contains no ‚prohibition on declarations of independence’“.

Das Gutachten erhielt vier Gegenstimmen und ist nach wie vor umstritten. Insbesondere Russland widersprach ausdrücklich. Denn gleichzeitig bestätigte der Gerichtshof die Gültigkeit der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates, in der die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien garantiert wird. Das Gericht schwieg sich auch über den endgültigen rechtlichen Status des Kosovo aus und umging die Frage, welchen Rechtsstatus er der „kosovarischen Nationalversammlung“ zuerkennt, die die Unabhängigkeitserklärung ausgesprochen hatte. Der Gerichtshof spricht nur von „Vertretern des Volkes des Kosovo“, eine juristisch ziemlich unspezifische Begriffswahl und übersieht die UNMIK, die derzeit die einzig legitime Verwaltungsmacht darstellt.

Der Widerspruch zwischen der Garantie territorialer Unversehrtheit und einseitiger Unabhängigkeitserklärung lässt sich nur so lösen, dass die Erklärung in der Tat nur innerstaatliche, d.h. verfassungsrechtliche Bedeutung hat, nicht aber bereits völkerrechtliche Wirkung. Diese tritt erst ein, wenn die Erklärung durch die faktische Abtrennung vom Staat, z.B. durch den Aufbau eigener Staatsgrenzen oder den Anschluss an einen anderen Staat, in die Tat umgesetzt wird. Im Fall der Krim darf nicht übersehen werden, dass die Unabhängigkeitserklärung trotz eines über 90%en Referendums gegen die ukrainische Verfassung verstieß, also unwirksam war. Die Krim verwandelte sich noch nicht in eine unabhängige „Republik Krim“, sondern verblieb weiter als „Autonome Republik“ im ukrainischen Staatsverband. Erst durch die Eingliederung in die Russische Föderation wurde die Sezession vollzogen und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt.

Russland hatte bereits am 17. März 2014 die imaginäre „Republik Krim“ anerkannt und durch einen Vertrag am 18. März 2014 in seine Föderation aufgenommen. Überwiegend wird das Verhalten der Russen als völkerrechtswidrige Annexion gewertet,xx da insbesondere die Übernahme der Kontrolle auf der Krim durch russische Truppen, die ihre Kasernen auf der Krim verlassen hatten, als völkerrechtswidrige Gewaltanwendung oder zumindest als Drohung mit Gewalt gewertet wird, die gem. Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta ebenfalls verboten ist. Putin rechtfertigt das Handeln der russischen Truppen – ob aus Russland oder aus den Stützpunkten auf der Krim – mit einem Hilfeersuchen des „abgesetzten“ und nach Russland geflohenen Präsidenten Janukowitsch. Es spricht vieles dafür, zu der Zeit in Janukowitsch noch den legitimen Präsidenten zu sehen, der nicht einfach seine Stellung durch Flucht aufgegeben hatte, sondern vor dem Putsch der sog. Interimsregierung geflohen war. Die nachfolgende Absetzung durch das Parlament war ebenfalls unwirksam, da das für eine solche Entscheidung laut Verfassung notwendige Quorum von 75 % der Stimmen nicht erreicht wurde (72,8 %).

Mag in der Präsenz der russischen Truppen entgegen der vorherrschenden Meinung auch kein Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht gesehen werden, so verletzte jedoch die Eingliederung der Krim und der Donbas-Oblaste in die Russische Föderation eindeutig die territoriale Unversehrtheit der Ukraine. Lange bevor die UN-Charta in Artikel 2, Ziff. 4 das absolute Gewaltverbot und den Schutz der „territorialen Unversehrtheit“ formulierte, hatte schon die Versammlung des Völkerbundes ihre Mitglieder aufgefordert, „keinen Vertrag oder keine Abmachung anzuerkennen, die durch Mittel erreicht wurden, die im Widerspruch zur Völkerbundsatzung oder zum Kellogg-Pakt stehen“. Damit hatte der Völkerbund einen Grundsatz übernommen, den der damalige US-Außenminister H. L. Stimson im Januar 1932, als die Japaner in die Mandschurei einfielen, als Richtlinie seiner Regierung verkündet hatte. Der Grundsatz ist als Stimson-Doktrin in die Völkerrechtsgeschichte eingegangen und auch nach 1945 zum festen Bestandteil des Völkerrechts geworden. Mag unter Annexion gemeinhin der Gebietserwerb mit Gewalt begrifflich verstanden werden, auch der Gebietserwerb ohne physische Gewalt verstößt gegen das Völkerrecht, so er nicht von beiden Staaten im Konsens erfolgt. Nicht die Anwendung von Gewalt entscheidet in diesem Fall über die Völkerrechtswidrigkeit, sondern die Verletzung der territorialen Integrität.

Dass diese Regelung sinnvoll und dem Friedensauftrag des Völkerrechts entspricht, zeigen die zahlreichen Sezessionsbestrebungen in der Welt, ob der Basken und Katalanen in Spanien, der Einwohner von Quebec in Kanada, der Schotten oder ehemals der Kurden. Sollte ihnen die Möglichkeit einseitiger Trennung aus ihren Staatsverbänden gegeben werden, würde eine Büchse der Pandora geöffnet, vor der schon Putin anlässlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gewarnt hatte. Dass er nun selbst in sie gegriffen hat, mag vor dem Hintergrund einer aggressiven Einkreisungs- und Eindämmungsstrategie der USA und EU verständlich sein, und zur Rettung des Stützpunktes für die Schwarzmeerflotte in Sewastopol sogar für legitim gehalten werden. Die strenge Grenze der Legalität darf damit aber nicht überschritten werden. Wie soll man der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Annexionspolitik der israelischen Regierungen entgegentreten, wenn die Regierung Netanjahu mit der Unterstützung durch die Mehrheit der israelischen Bevölkerung die Legitimität ihrer Politik beansprucht? Wie kann man die Unabhängigkeit der Kurden, ob in der Türkei oder dem Irak, an die Zustimmung der jeweiligen gesamtstaatlichen Institutionen (Regierung, Parlament) binden, obwohl eine überwältigende Mehrheit die Trennung will? Der einzige Grund dafür, diesen Prozess nur über den politischen Weg von gemeinsamen Verhandlungen und Verabredungen zu erlauben und in gemeinsamem Einverständnis zu beschließen, liegt in der Erhaltung friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Parteien. Eritrea hat dreißig Jahre lang einen blutigen Kampf um seine Unabhängigkeit von Äthiopien gekämpft, gegen den Willen und ohne Unterstützung von OAU und UNO. Als es schließlich gesiegt hatte, dauerte es nicht lange und es wurde von beiden Organisationen aufgenommen.

Präsident Selenskyi will die Krim, Donezk und Lugansk in die Ukraine mit militärischen Mitteln zurückholen. Dafür fordert er schwere Kampfpanzer, Raketen mit großer Reichweite, Kampfjets und U-Boote. Völkerrechtlich wäre auch das durch Art. 51 UN-Charta gedeckt. Das einzig sichere Ergebnis wäre allerdings nur eine Verlängerung und Eskalation dieses schon jetzt so blutigen und verlustreichen Krieges, was nicht nur der kroatische Präsident Zoran Milanović angesichts der zu erwartenden unverhältnismäßigen Opfer an Menschenleben für unmoralisch hält.

 

Norman Paech studierte Geschichte und Recht in Tübingen, München, Paris und Hamburg. Seine Dissertation (1965) befasste sich mit Arbeits- und Öffentlichem Recht. Nach Zwischenstationen im Bundesministerium für Wirtschaftliche Entwicklung und der Forschungsstelle der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) erhielt er 1975 eine Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg, 1982 wechselte er auf eine Professur für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, die er bis 2003 inne hatte. Paech gehörte von 1969 bis zu seinem Austritt (2001) der SPD an, ab 2007 war er Mitglied der Partei DIE LINKE, für die er von 2005 bis 2009 im Deutschen Bundestag saß und als außenpolitischer Sprecher der Fraktion tätig war. Kontakt: www.norman-paech.de.

Anmerkungen:

i Dekrete vom 19. November und 15. Dezember 1792.

ii Vgl. Karl Jürgen Partsch, Selbstbestimmung, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Handbuch der Vereinten Nationen, München 1991, S. 745 ff.

iii Noch im Dezember 1960 wurde das Selbstbestimmungsrecht des algerischen Volkes, in den folgenden Jahren das der Völker Angolas und Südwestafrikas anerkannt.

iv Beide Pakte traten 1976 in Kraft.

v UN-Generalversammlung, Resolution 2625 (XXV) v. 24. Oktober 1970.

vi Übersicht bei Norman Paech/ Gerhard Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht in den internationalen Beziehungen, Hamburg, 2013, S. 604 (Anm. 95).

vii ILC Yearbook 1966 II, 247 und 1980 II, 32.

viii V. 21. Juni 1971, ICJ-Reports 1971, S. 16, 31.

ix V. 25. Oktober 1975, ICJ-Reports 1975, S. 12 ff.

x Urteil v. 27. Juni 1986, ICJ-Reports 1986, S. 263.

xi Vgl. Daniel Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, S. 150 ff. (Anm. 1). Ähnlich Karl Jürgen Partsch, Selbstbestimmungsrecht, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Handbuch der Vereinten Nationen, München 1991, S. 395.

xii Vgl. L. C. Buchheit, Secession. The legitimacy of self-determination, New Haven, London 1978, S. 87.

xiii UNGV Resolution 2625 (XXV) v. 14. Oktober 1970.

xiv Thomas M. Franck, Postmodern Tribalism and the Right to secession, in: Catherine Brölmann, René Lefeber, Marjoleine Zieck (Hrsg.), Peoples and Minorities in International Law, S. 3 ff., 13 f. (Anm. 56).

xv United States Information Service, Embassy of the United States of America, Information and Texts vom 10. 11. 1994, S. 12.

xvi Vgl. zur Kurdischen Frage Richard Falk, Problems and Prospects for the Kurdish Struggle for Selfdetermination after the End of the Gulf and Cold Wars, in: Michigan Journal of International Law, Vol. 15, 1994, S. 591 ff.

xvii Stefan Oeter, Selbstbestimmungsrecht im Wandel – Überlegungen zur Debatte um Selbstbestimmung, Sezessionsrecht und ‘vorzeitige Anerkennung’, in: ZaöRV 52 (1992), S. 741 ff., 778.

xviii Vgl. Spiegel Online v. 25. März 2014.

xix ICJ v. 22. Juli 2010, Advisory Opinion, Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo.

xx So z.B. C. Kress, „Akt der Aggression“, Spiegel Online v. 31. März 2014; G. Nolte, „Experte: ‚Krim-Referendum völkerrechtlich irrelevant‘“, Interview im ZDF v. 7. Juni 2014, heute.de.

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