Es wird eine Nachkriegsordnung geben müssen: Anmerkungen im russischen Ukraine-Krieg
Das Buch von Christopher Clark, das zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges erschien, hatte im Titel die „Schlafwandler“ (Clark 2013). Im Sommer 1914 gingen alle maßgebenden Staatsmänner der europäischen Großmächte davon aus, dass sie nur kräftig auftrumpfen und Entschlossenheit zeigen müssten, dann würde die Gegenseite zurückstecken. Am Ende hatten sich alle verspekuliert, niemand hatte klein beigegeben, und sie hatten Europa und die Welt in einen Krieg gestürzt, der die gewohnte Welt in Trümmer legte. Blitzkriegspläne waren rasch gescheitert und im September 1914 war in Deutschland, Russland und Großbritannien zum ersten Mal die Munition alle. Alle vollmundigen Versprechen, man werde Weihnachten siegreich wieder zu Hause sein, erwiesen sich als hohl. Der Krieg dauerte bis Ende 1918, Millionen Menschen starben in den Schützengräben. Liest man spätere autobiographische Texte von Verantwortlichen, so bedauerten sie, etwas in Gang gesetzt zu haben, mit dem sie nicht gerechnet hatten und von dem sie letztlich nicht wussten, wie es endet. Der Vorteil für die Menschheit war: Es gab damals keine Atomwaffen.
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres griff Anfang 2023 Clarks Bild auf und sagte über den Ukraine-Krieg vor der UNO-Vollversammlung: „Ich befürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg hinein – ich befürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen.“ Das Risiko eines Atomkrieges sei so hoch wie seit Jahrzehnten nicht (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.2023). Das zu erinnern ist auch deshalb bedeutsam, weil selbsternannte Kriegsexperten, die oft nicht einmal „gedient“ und keinerlei militärische Ausbildung haben, aber die staatsoffiziellen deutschen Medien bevölkern, regelmäßig behaupten, die Furcht vor einem Atomkrieg sei lediglich „German Angst“ (www.br.de, 19.02.2023), würde in Polen, Großbritannien und im Baltikum nicht geteilt und sei bloß Instrument russischer Propaganda. Die Verantwortungslosigkeit heutiger Staatslenker und ihrer Wasserträger in Wissenschaft und Medien ist mindestens so groß wie 1914, und wird den Gefahren im Angesicht der atomaren Bedrohung nicht gerecht.
Zeitenwende
Mit „Zeitenwende“ beschrieb Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in einer Regierungserklärung die Zäsur, die der russische Angriff auf die Ukraine für Deutschland bedeute. Was hier apokalyptisch als Drohung artikuliert wurde, war tatsächlich Anpassung an die Konfrontationsstrategie der USA und der NATO gegenüber Russland (und China). Mit einem Federstrich wurden langfristig bewährte Prinzipien der deutschen Außenpolitik über Bord geworfen, die mit Willy Brandt, dem Begriff der „Entspannung“ und mit fortgeltenden Grundsätzen deutscher Außenpolitik unter Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel verbunden waren.
Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation war es der Westen, der Krieg wieder zu einem „normalen Mittel“ der internationalen Politik gemacht hatte. Russland folgte dem mit zwanzigjährigem Abstand. Seit dem Kriegsächtungspakt (Briand-Kellogg-Pakt) von 1928 verurteilt das Völkerrecht Krieg „als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle“, auf ihn soll „als Werkzeug nationaler Politik“ verzichtet werden. Die UNO-Charta fixiert das Friedensgebot als für die Staatenbeziehungen zentral. Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist ein offener Bruch des Völkerrechts, ein Versuch, Krieg „als Werkzeug nationaler Politik“ zu benutzen. Ein „Recht auf Gleichbehandlung im Unrecht“ gibt es jedoch nicht. Die Lügen und Verbrechen der USA in den Kriegen seit 1990 (Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen usw.) entlasten Putins Russland in keiner Weise. Auch die Intrigen der USA seit den 1990er Jahren, Russland durch Osterweiterung der NATO und Maßnahmen zur Vorwärts-Stationierung von Truppen und Raketen der NATO im Osten Europas strategisch zu bedrängen, entschuldigen keinerlei „Präventivkrieg“. Die Ukraine wurde nach dem Ende der Sowjetunion 1991 – wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken – ein souveräner Staat, weltweit anerkannt. Dazu gehörte auch die gegenseitige Anerkennung der früheren Sowjetrepubliken, darunter Russland. Ein völkerrechtlich begründbares Anrecht Russlands, dahinter zurückzugehen und sich etwa auf den Territorialbestand des zaristischen Russlands zu berufen, existiert nicht (Crome 2022a).
Zu erinnern ist jedoch an „die Abwesenheit einer europäischen Sicherheitsarchitektur, die für alle Staaten des Kontinents akzeptabel ist und ihre legitimen Sicherheitsbedürfnisse respektiert, die in diesem Krieg zum Ausdruck kommt“. Für eine Sicherheitsarchitektur sind nicht nur Prinzipien vonnöten, sondern auch Verfahren und Institutionen, die Dialog und Kontroll- sowie Konfliktlösungsmechanismen ermöglichen. „Der russischen Seite kann nicht ein Mangel an Versuchen vorgeworfen werden, eine solche Friedensordnung zu schaffen. Das haben die USA und die von ihr geführte NATO verhindert. Man muss Russland vorwerfen, dass es das Feld der Diplomatie verließ, nunmehr amerikanischen Spielregeln folgte und seine Interessenpolitik auf das Feld des Militärischen verlagerte, unter Missachtung des Völkerrechts. Das ist, gemessen an der russischen Politik der letzten Jahre, ein unerhörter Tabubruch, gemessen am amerikanischen Politikverständnis der letzten Jahrzehnte nicht mal ein Gleichziehen.“ (Erler 2022: 36.)
Auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ im Februar 2023 haben Scholz und andere deutsche Vertreter die Positionen der „Zeitenwende“ bekräftigt. Der ukrainische Präsident Selenski forderte weitere Waffen aus dem Westen. „Es gibt keine Alternative zu unserem Sieg.“ Er verglich den Krieg gegen Russland mit der biblischen Geschichte von David und Goliath. David zu sein, bedeute, „dass man gewinnen muss. Aber man braucht eine Schleuder.“ Das sollen die westlichen Waffen sein (www.tagesschau.de, 17.02.2023). Zuvor hatte der Vizeregierungschef der Ukraine, Olexander Kubrakow, gefordert, der Westen solle auch Streumunition – das sind Bomben und Raketen, die über dem Ziel explodieren und viele kleine Sprengkörper freisetzen – und Phosphor-Munition an die ukrainische Armee liefern; letztere kann bei Menschen schwerste Verbrennungen und Vergiftungen hervorrufen. Beide Waffen sind international verboten und geächtet (www.stern.de, 18.02.2023). Die schriller werdenden Forderungen der Ukraine nach immer mehr Waffen, nun auch völkerrechtlich verbotenen, deuten darauf hin: die Lage an den Fronten wird schwieriger. Die täglichen Siegesmeldungen in den hiesigen Medien berichten dies geflissentlich nicht. Eine Lieferung derartiger völkerrechtswidriger Waffen wurde allerdings von deutschen Politikern und sogar von NATO-Generalsekretär Stoltenberg zurückgewiesen.
Die Münchner Veranstaltung war Ausdruck westlichen Zusammenrückens gegen Russland. Frankreichs Präsident Macron meinte: „Jetzt ist nicht die Zeit für Dialog“. Scholz erklärte, es sei „Schluss mit der Vernachlässigung der Bundeswehr“, Deutschland werde seine Militärausgaben „dauerhaft“ auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben. Verteidigungsminister Pistorius meinte, das werde nicht reichen. Die Welt (19.02.2023) zitierte einen General, ohne Namensnennung, alles drehe sich darum, wieviel „Hard Power“ ein Land auf die Beine stelle. Es sei gut, über Entschlossenheit zur Abschreckung Russlands zu reden. „Aber am Ende braucht es Divisionen, die voll ausgerüstet ins Feld geführt werden können. Es geht um Kriegstauglichkeit.“ Da hätte Deutschland nicht genug zu bieten.
Die polnische Polityka (20.02.2023) freute sich, endlich habe sich die Sicherheitskonferenz mit ihren Kernaufgaben befasst, nicht mit „Trendthemen“, wie Klima, Rolle der Medien, Bigtech. „Der Westen hat sich auf sich selbst konzentriert und auf seine Staaten und Institutionen, die EU nicht ausgenommen, im Bemühen, ‚Muskeln aufzubauen‘.“ Der italienische Corriere della Sera (20.02.2023) dagegen bedauerte, Russlands Angriff auf die Ukraine habe wenig Zeit für andere Themen gelassen. Die Welt draußen sei zunehmend zersplittert, und notwendig, dass der Westen sich untereinander bespricht. „Das Treffen hat uns jedoch wenig über das kommende Jahr gesagt. Wie lange der Krieg dauern und wie lange der Westen geeint bleiben wird, wie schnell wir in der Lage sein werden, die Kriegsanstrengungen der Ukraine zu unterstützen, um zu verhindern, dass sie unterliegt, und ob und welchen Platz Russland in Zukunft im europäischen Raum haben wird.“ Die Chemnitzer Freie Presse, auflagenstärkste Zeitung in Sachsen (16.02.2023), beschrieb München schlicht als „Kriegskonferenz“.
Geopolitisches
Der belgische Geopolitiker David Criekemans spricht von einer „ungelösten russischen Frage“: Die „geopolitischen tektonischen Platten verschieben sich durch diesen Krieg“ (Criekemans 2022: 21). Das aus dem Wiener Kongress 1815 hervorgegangene „Konzert der Mächte“ stellte ein System konservativer Regimes wieder her, in dem sich die europäischen Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland) im Gleichgewicht hielten. Im Krimkrieg (1853-1856) stellte Russland dieses System in Frage, es wollte das Osmanische Reich weiter schwächen und die Meerengen vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer kontrollieren. Russland – obwohl dem Osmanischen Reich allein überlegen – unterlag, weil Großbritannien und Frankreich dieses unterstützten. Das „Konzert“ von 1815 zerbrach dann mit der nationalen Einigung Italiens und Deutschlands (Crome 2019: 56ff.).
Die Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870/71 führte zu einem „französischen Revanchismus“ und mündete in den Ersten Weltkrieg (1914-1918). Die Demütigung Deutschlands nach der Niederlage von 1918 mit dem Vertrag von Versailles 1919 hatten „deutschen Revanchismus“ zur Folge. Im 20. Jahrhundert wurde die internationale Ordnung dreimal „neu geordnet“: mit dem Versailler System von Friedensverträgen und der Errichtung des Völkerbundes 1920, mit dem Potsdamer Abkommen und den Vereinten Nationen 1945 sowie nach dem Ende des Kalten Krieges mit der „Charta von Paris“ 1990 und der Schaffung der OSZE.
Criekemans stellt nun die Frage nach einem „russischen Revanchismus“ nach dem Kalten Krieg: „In den 1990er Jahren verpasste die Welt eine einzigartige dritte Chance […]. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Entstehen unabhängiger Nachfolgestaaten wie Russland und der Ukraine konnten diese Länder in eine Weltgemeinschaft und eine gestärkte internationale Rechtsordnung integriert werden.“ Das wurde verhindert (Criekemans 2022: 22). Die Gründe für diese westliche Politik liegen im Fukuyama-Syndrom: Die Geschichte sei in Gestalt des realexistierenden Westens zu sich selber gekommen, der Verlierer des Kalten Krieges sollte klein beigeben und sich in eine Rolle als „Regionalmacht“ fügen.
Auch wenn deutsche Autoren meinen, es könne so bald nicht wieder kooperative und gegenseitig vorteilhafte Beziehungen mit Russland geben, schon die geographischen Gegebenheiten sprechen eine andere Sprache. Egon Bahr betonte: „Nicht ohne oder gegen Russland, nicht ohne oder gegen Amerika ist die gesamteuropäische Stabilität zu erreichen. Da weder Russland noch Amerika der Europäischen Union angehören wollen oder können, sind insofern die Sicherheitsfragen unabhängig von den übrigen politischen und wirtschaftlichen Problemen zu betrachten.“ Dabei hoffte er selbstverständlich auf ein Russland, das sich konsolidiert, rechtsstaatlich und demokratisch wird. Zugleich schätzte er ein: „Vielleicht mag man in Amerika glauben, Vorteile aus der fortdauernden inneren und äußeren Schwächung Russlands zu gewinnen, solange nur das Chaos vermieden wird und der atomare Faktor kontrollierbar bleibt“. Das schrieb Bahr 1998, am Ende der desaströsen Jelzin-Jahre; Putin war damals noch weitgehend unbekannt und Russland galt eher als chaos-gefährdet. Und er betonte weiter: „Eine gemeinsame Sicherheitsstruktur unter Einschluss Russlands, die für Europa vorteilhaft ist, kann in amerikanischen Augen durchaus weniger attraktiv sein; ein sicherheitspolitisch geteiltes Europa mit Elementen potentieller Konfrontation kann sich Amerika nicht nur leisten, ein solches NATO-Europa bliebe auch stärker auf Amerika angewiesen.“ (Bahr 1998: 28f.).
Vom alten Abraham Lincoln ist der Satz über die bürgerliche Politik überliefert: „Man muss es verstehen, eine Ursache zu erzeugen, die eine Wirkung hat, und diese Wirkung anschließend bekämpfen.“ Unabhängig davon, welche Umstände nun die USA für die politische Konstellation herbeigeführt hatten, die die russische Regierung zu der Invasion gegen die Ukraine veranlasst haben, die Kriegslogik subordiniert EU-Europa unter die Vormundschaft der USA. Das hatte Bahr durchaus als eine Linie der Außenpolitik der USA identifiziert. Es funktioniert aber nur so lange, wie Berlin und Paris sich nicht dazu aufraffen, wieder einen eigenen Kurs einzuschlagen, der auf Waffenstillstand und Verhandlungen zielt statt auf immer mehr Waffen für immer mehr Tote zu setzen. Die Losung von der „Einheit des Westens“, mit der Putin angeblich nicht gerechnet habe, die in München gerade wieder als Hochamt zelebriert wurde, ist der wichtigste Sperr-Riegel dagegen. Dem Grunde nach geht es heute wieder um eine Neuordnung der internationalen Ordnung, die zweite nach dem Kalten Krieg und die erste des 21. Jahrhunderts.
Wirtschaftliches
Das Institut der Deutschen Wirtschaft (DIW) schätzt ein, dass die weltweite Wirtschaftsleistung im Jahre 2022 über 1.600 Milliarden US-Dollar niedriger ausgefallen ist, als es ohne den russischen Krieg in der Ukraine der Fall gewesen wäre. 2023 würden sich die weltweiten Produktionsausfälle nochmals auf 1.000 Milliarden US-Dollar belaufen, darunter entfielen etwa 40 Prozent „auf die Aufstrebenden Volkswirtschaften und Entwicklungsländer“ (Grömling 2023). Das DIW geht davon aus, dass Deutschland infolge des Krieges 2023 ein um 175 Milliarden Euro geringeres Bruttoinlandsprodukt (BIP) haben wird; für jeden Einwohner ist dies ein „Wohlstandsverlust“ von etwa 2.000 Euro (www.welt.de, 23.01.2023).
Die Unterstützungsleistungen Deutschlands für die Ukraine betrugen seit 24. Februar bis zum 20. November 2022 insgesamt 5,4 Milliarden Euro. Das ist die dritthöchste Summe, nach den USA mit 47,8 Milliarden Euro und Großbritannien mit 7,1 Milliarden Euro (https://de.statista.com, 17.02.2023). Die Politikwissenschaftler Kai und Lutz Kleinwächter betonten im Sommer 2022: „Beide Kriegsparteien sind keine Verbündeten Deutschlands. Für Russland erübrigt sich an dieser Stelle eine Begründung. Die Ukraine ist weder Mitglied der NATO noch der EU. Entsprechende Aufnahmeprozesse erfordern in beiden Organisation Kriterien, denen die Ukraine nicht annähernd gerecht wird und längerfristig ihre Mitgliedschaft ausschließen.“ (Kleinwächter 2022: 28.)
Insbesondere geht es um die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die Ukraine war bereits vor dem Krieg eines der ärmsten Länder Europas. Das Bruttosozialprodukt pro Einwohner betrug 2020 in der Ukraine 3.700 US-Dollar, gefolgt von Kosovo mit 4.300 und Moldau mit 4.500 US-Dollar. Nach Kaufkraftpariät war es der dritte Armutsplatz, nach Kosovo und Moldau. Das Scheitern der Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 ist Hauptursache für die Unterentwicklung der Ukraine. Bei vergleichbaren Nachbarn lag die wirtschaftliche Entwicklung deutlich höher, im Falle Polens 4-fach, bei Rumänien 3-fach höher.
Wegen des korrupten Oligarchen-Kapitalismus ist die Wirtschaft der Ukraine unproduktiv und nicht konkurrenzfähig, obwohl sie zu sowjetischen Zeiten ein wichtiger Industriestandort, vor allem der Schwerindustrie war. Die Wirtschaft liegt im Vergleich zur EU bei unter zehn Prozent der Gesamtproduktivität und ist um Jahrzehnte zurückgeblieben. Was Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anbetrifft, war die Ukraine schon vor dem Krieg hochgradig geprägt von politischer Instabilität. Demokratiepraxis und Rechtsausübung sind problematisch und, wie die Kleinwächters betonten, mit westlichen Demokratie-Maßstäben nicht vergleichbar, eher mit anderen post-sowjetischen Staaten, wie Russland, Belarus und Mittelasien (ebenda, 29ff.).
Der EU-Ratsbeschluss vom 23. Juni 2022, der der Ukraine (und der Republik Moldau) den „Status eines Beitrittskandidaten“ zuerkannte, war rein politisch und der aufgeheizten Situation geschuldet. Einen tragfähigen Ausgang des Krieges vorausgesetzt, wird die Ukraine auch in 20 Jahren nicht die Beitrittsbedingungen erfüllen. Die Kriterien von Kopenhagen sind zunächst drei für die Beitrittsländer: (1) Politische Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; (2) eine funktionsfähige Marktwirtschaft und das Vermögen, dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standzuhalten; (3) die Übernahme des gesamten Gemeinschaftsrechts und die Fähigkeit, dieses umzusetzen. Das vierte richtet sich an die bereits existierende EU, nämlich ihre Fähigkeit, die Aufnahme des betreffenden Landes zu verkraften. Deshalb wurde in den 1990er Jahren, als die gegenseitigen Beziehungen deutlich besser waren, eine EU-Aufnahme Russlands dem Grunde nach ausgeschlossen; niemand hielt es für möglich, den riesigen Raum bis Wladiwostok von Brüssel aus durchherrschen zu können.
Die Türkei hatte bereits 1959 bei der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um Beitritt nachgesucht, den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhielt sie 1999. Ob sie oder die EU jemals beitrittsfähig sind, wird seit Jahrzehnten ad infinitum debattiert. Ähnlich würde eine EU-Aufnahme der Ukraine die Integrationsprozesse behindern und vorhandene Konflikte, so bei der Subventionsverteilung, drastisch verschärfen. Die Europäische Union würde sich im Falle der Türkei wie dem der Ukraine strategisch überdehnen.
Im Westen wird voller Eifer über die wirtschaftlichen Folgen der „Sanktionen“ gegen Russland geredet. Die tatsächlichen russischen Kriegsziele sind auch nach einem Kriegsjahr nicht klar. Wenn es ein Ziel war, die Ukraine nicht nur zu destabilisieren, sondern möglichst zu zerstören, so war das bereits im ersten halben Jahr weitgehend gelungen. Im ersten Kriegshalbjahr 2022 war ein drastischer Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um etwa 40 bis 60 Prozent zu verzeichnen (ebenda, 28). Zwei Drittel der Arbeitskräfte waren nicht mehr wertschöpfend beschäftigt, weil sie in den Streitkräften sind, ihre Fabriken zerstört wurden oder sie ins Ausland geflohen sind. Die ukrainische Armee feiert die Zerstörung von Brücken in den besetzten Gebieten als großen Erfolg. Dabei wird ausgeblendet, dass dies Verkehrswege in der Ukraine sind, die nach dem Krieg gebraucht werden. Nach UNO-Angaben verzeichnet die Ukraine nach einem Jahr des Krieges etwa 14,5 Millionen Flüchtlinge und mindestens 200.000 Tote und Verletzte (www.derstandard.de, 17.02.2023).
Militärisches
Nach einem Jahr des Krieges resümierte Ralph Bosshard, früherer Oberstleutnant im Generalstab der Schweizerischen Armee, der lange Zeit auch für die OSZE gearbeitet hat, dass die Ukraine derzeit bemüht ist, eine dritte ukrainische Armee aufzustellen. Die erste war die Berufsarmee, die mit Hilfe des Westens seit 2014 aufgebaut worden war. Sie wurde im Sommer 2022 zerschlagen. Die zweite, mobilisierte Armee hatte im Herbst die Gegenoffensive geführt und wird in den Kämpfen des Winters 2022/23 ebenfalls schrittweise zerschlagen. Deshalb wolle die ukrainische Armeeführung jetzt eine neue Armee aufstellen; dafür brauche sie die vielen Panzer und anderen Waffen, die Selenski und andere fordern. Hinzu komme der Faktor Raum. Die 200.000 Mann, die Russland vor einem Jahr zusammengezogen hatte, reichten nicht aus, um die beabsichtigten Räume in der Ukraine zu besetzen. Inzwischen hätten die russischen Angriffe jedoch die ukrainische Rüstungsindustrie weitgehend zerschlagen. Deshalb wende sich der Faktor Raum jetzt gegen die Ukraine: das aus dem Westen gelieferte Kriegsmaterial müsse über weite Strecken an die Front geschafft werden, müsse für Reparatur und Wartung aber über die langen Strecken zurück in die NATO-Nachbarländer (https://bkostrat.ch/2023/02/10).
Jacques Baud, Oberst der Schweizer Armee, hatte für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die UNO – darunter in unterschiedlichen Friedensmissionen – sowie für die NATO gearbeitet. Er kommt zu ähnlichen Befunden. Russland gehe es nicht in erster Linie um Territorium, sondern um die Vernichtung des militärisch relevanten Potenzials der Ukraine. Die Hauptkapazitäten der ukrainischen Streitkräfte wurden 2022 zerstört. Jetzt sei die ukrainische Armee „eine bunte Ansammlung von Material unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Logistikketten. Das Problem der Ukrainer ist nicht wirklich der Mangel an Waffen, sondern die Fähigkeit, diese in eine optimale und effiziente Führungsstruktur zu integrieren“. Die Ukraine habe bereits seit 1990 einen Großteil ihrer Bevölkerung verloren. Kriegsverluste und Flucht werden die Zukunftsperspektiven des Landes weiter verbauen. Es sei dies der Hintergrund, vor dem General Mark Milley, Vorsitzender der Vereinten Stabschefs der US-Streitkräfte, sowie US-Außenminister Anthony Blinken im Januar 2023 betonten, dass „eine Rückeroberung der von Russland eingenommenen Gebiete unrealistisch ist“ (https://zeitgeschehen-im-fokus.ch, Nr. 2 vom 10. Februar 2023).
Der frühere militärische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, General Erich Vad, schätzte ein, der jetzige „Abnutzungskrieg“ führe „dazu, dass die Ukrainer etwas verteidigen, was es am Ende vielleicht gar nicht mehr gibt“. Es gäbe bereits jetzt über 200.000 Gefallene auf beiden Seiten und 50.000 Ziviltote. In der Ukraine finde derzeit „die achte Mobilisierungswelle“ statt, „auch die 60-Jährigen werden zu den Waffen gerufen“. Russland verfügt über „ein vergleichsweise viel größeres Mobilisierungspotential, das Putin noch gar nicht ausgespielt hat“. Die Situation „ist militärisch nicht zu drehen“. Das wäre sie nur, „wenn die NATO als Ganzes Russland den Krieg erklärt. Aber das will derzeit niemand“, allein schon wegen des großen Risikos eines Nuklearkrieges (https://overton-magazin.de, 17.02.23).
General a.D. Harald Kujat, früherer Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, spricht ebenfalls davon, dass militärisch wieder eine Pattsituation erreicht sei. Das wäre „der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen“. Allerdings gelte: „Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen Verhandlungsfrieden zu erzielen.“ (https://zeitgeschehen-im-fokus.ch, Nr. 1 vom 16. Januar 2023.) Die Frage ist, ob die Regierenden in Deutschland bereit und in der Lage sind, dazu beizutragen.
Diplomatisches
Zur Vorgeschichte des Ukraine-Krieges gehört das Minsk-Abkommen (2015). In den hiesigen Medien wird regelmäßig behauptet, Russland habe dessen Umsetzung unmöglich gemacht. Tatsächlich hatte die Kiewer Regierung sich unablässig geweigert, die Vereinbarungen in Bezug auf eine Autonomie in Donezk und Luhansk zu erfüllen und das Feuer gegen die Bevölkerung dieser Gebiete tatsächlich einzustellen.
Der Spiegel hat im Herbst 2022 einen längeren Beitrag über Angela Merkel publiziert (Nr. 48 vom 26.11.2022). Er beruht auf Gesprächen, die der bekannte Journalist Alexander Osang – beide verbindet die Herkunft aus der DDR – mit ihr ein Jahr, nachdem sie das Kanzleramt verließ, geführt hatte. Darin findet sich die Aussage, hier in der Fassung des Spiegels: „Sie glaubt, damals und auch später bei den Verhandlungen von Minsk die Zeit gekauft zu haben, die die Ukraine nutzen konnte, um sich einem russischen Angriff besser widersetzen zu können. Sie sei ein stärkeres Land jetzt. Damals, da ist sie sich sicher, wäre sie von Putins Truppen überrollt worden.“ (S. 48) Das ging dann durch die Medien und wurde interpretiert als schlitzohriger Vorgang, Merkel hätte Putin hinter‘s Licht geführt, der hätte Merkels Wort geglaubt, während nie die Absicht bestanden habe, dass die Ukraine ihren Teil des Minsk-Abkommens erfüllt. Stattdessen hätten die Ukraine sowie die USA und Großbritannien die Zeit zielstrebig genutzt, um ukrainische Soldaten nach westlichen Standards auszubilden, zu bewaffnen und kriegsfähig zu machen.
Zunächst folgt aus der zitierten Aussage nicht notwendig, dass Merkel vor allem militärische Maßnahmen meinte. Zudem war sie monatelang in den deutschen Medien beschimpft worden, sie hätte seit Jahren eine falsche Politik gegenüber Russland gemacht und sei Putin gegenüber zu naiv gewesen. Insofern könnte man die vom Spiegel wiedergegebene Aussage Merkels auch als „nachträgliche Rationalisierung“ (im Sinne von Sigmund Freud) verstehen, indem sie im Nachgang ihr damaliges Handeln uminterpretiert. Richtig ist, dass die deutsche Regierung, wie die französische, es versäumt hat, von der Kiewer Regierung ernsthaft eine Einhaltung der Minsker Abkommen zu verlangen.
General Kujat hat das wörtlich genommen und betont, Merkel habe „bestätigt, dass Russland ganz bewusst getäuscht wurde. Das kann man bewerten, wie man will, aber es ist ein eklatanter Vertrauensbruch und eine Frage der politischen Berechenbarkeit. Nicht wegdiskutieren kann man allerdings, dass die Weigerung der ukrainischen Regierung – in Kenntnis dieser beabsichtigten Täuschung – das Abkommen umzusetzen, noch wenige Tage vor Kriegsbeginn, einer der Auslöser für den Krieg war.“ (https://zeitgeschehen-im-fokus.ch, Nr. 1 vom 16. Januar 2023.) Damit wären wir bei einer diplomatischen Praxis, die eher zu Talleyrand und zu Metternich, das heißt an den Anfang des 19. Jahrhunderts passt, als ins 21. Jahrhundert. Aber vielleicht sind wir ja wieder gerade dort. Tatsächlich kann Deutschland nur dann wieder eine Rolle in der internationalen Diplomatie spielen, wenn das gesprochene und das gegebene Wort gilt und jeder Kontraktpartner sich darauf verlassen kann. „Pacta sunt servanda“, hieß das bei Franz Josef Strauß.
Folgerungen
Der Ukraine-Krieg ist der bisher folgenreichste im Kampf um die Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Die „nordatlantische Welt des weißen Mannes“ ist nicht mehr in der Lage, ihre 500-jährige Herrschaft über die übrige Welt aufrecht zu erhalten. Russland nimmt eine ambivalente Position ein. Einerseits war es eine der europäischen Mächte, die sich die Welt unterjocht haben. Die Spanier, die Niederländer, Engländer, Franzosen zogen über die Meere, um überseeische Kolonien zu erobern, die Russen zogen im Norden Eurasiens bis zum Pazifik. Durch die russische Oktoberrevolution wurde Russland andererseits zu einem Antipoden des Westens, der den antikolonialen Befreiungskampf weltweit unterstützte. Nach dem Ende des Realsozialismus ist Russland wieder ein imperialistischer Staat in einem imperialistischen Mächtekonzert.
Hier betrachten die USA das aufsteigende China als Hauptgegner, auch wenn dieses weder das bestehende globale Weltsystem zerstören will noch eine militärische Auseinandersetzung mit den USA beabsichtigt. China will das Weltsystem, wie es ist, erhalten und erwartet seinen Aufstieg aus seiner wirtschaftlichen Stärke.
Dabei ist den USA Russland im Wege. Die russische Führung will die Ukraine nicht den USA überlassen. Die wiederum betrachten die Ukraine im Orbit der westlichen Macht als Rückversicherung, dass Russland nicht wieder als gleichrangige Macht eine Rolle spielen kann. Insofern ist der Ukraine-Krieg einerseits ein Stellvertreterkrieg, in dem die Ukraine den Blutzoll für die USA entrichtet. Andererseits ist es ein Stellvertreterkrieg insofern, als die USA den wichtigsten Verbündeten Chinas ausschalten wollen.
Deutschland und der Westen haben die Losung herausgegeben: „Russland darf den Krieg nicht gewinnen.“ Das wird dechiffriert als: Die Ukraine muss siegen. Auch wenn unklar ist, worin dieser Sieg bestehen soll, und wie sie das bewerkstelligen soll. Zugleich wird China vorgeworfen, den russischen Krieg nicht zu verurteilen. China steht grundsätzlich auf dem Standpunkt der Verteidigung der UNO-Charta und des Prinzips der territorialen Integrität. Insofern wird es keine offizielle Unterstützung der russischen Eroberungen in der Ukraine geben. Aber geopolitisch gilt aus chinesischer Sicht, dass Russland den „Krieg nicht verlieren“ darf.
Für Deutschland und die EU zwischen den USA, Russland und China führt der Krieg zur Einengung der außenpolitischen Spielräume. Nur wenn es gelingt, eigene friedenspolitische Initiativen zu entwickeln, die am Ende den globalpolitischen Interessen der USA zuwiderlaufen, können Frieden und Sicherheit in Europa wiederhergestellt werden. Und zwar mit Russland und unter Berücksichtigung seiner Sicherheitsinteressen.
Erhard Crome Jahrgang 1951, ist Politikwissenschaftler, Autor und Geschäftsführender Direktor des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik in Potsdam. Er studierte 1971-1976 Politik mit dem Schwerpunkt Außenpolitik am Institut für Internationale Beziehungen der DDR in Potsdam-Babelsberg, promovierte dort 1980 und wurde 1987 habilitiert. Nach der Wiedervereinigung arbeitete er bis 2000 an der Universität Potsdam, danach an der Viadrina in Frankfurt/Oder inne und ab 2002 Mitarbeiter für Friedens- und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Literatur
Bahr, Egon (1998): Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik, München: Karl Blessing Verlag.
Clark, Christopher (2013): Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München: Deutsche Verlags-Anstalt.
Criekemans, David (2022): In eine andere geopolitische Ära? Der Krieg in der Ukraine als geopolitischer Katalysator. In: WeltTrends, Nr. 188.
Crome, Erhard (2019): Deutschland auf Machtwegen. Moralin als Ressource für weltpolitische Ambitionen, Hamburg: VSA Verlag.
Crome, Erhard (2022a): Russlands ukrainischer Krieg. Die Ursachen und die Folgen, Berlin: edition ost 2022.
Crome, Erhard (Hrsg.) (2022b): Zeitenwende? Der Ukraine-Krieg und die deutsche Außenpolitik. Texte vom Potsdamer Außenpolitischen Dialog, Potsdam: Potsdamer Wissenschaftsverlag WeltTrends. http://welttrends.de/res/uploads/crome-zeitenwende-der-ukraine-krieg-und-die-deutsche-aussenpolitik.pdf.
Erler, Petra (2022): Zeitenwende, in: Crome (2022b), S. 35-39.
Grömling, Michael (2023): Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Weltwirtschaft – IW-Schätzung der Größenordnungen, Köln: IW-Kurzbericht 12/2023.
Kleinwächter, Kai/ Kleinwächter, Lutz (2022): Außenpolitische Strategie Deutschlands. Ukrainekrieg forciert neokonservative Zeitenwende, in: Crome (Hrsg.), Zeitenwende? …, S. 17-34.