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Bürger­rechte in der Pandemie – Bürger­rechts­or­ga­ni­sa­ti­onen in der Bredouille?

Mitteilungen24605/2022Seite 17

Die Humanistische Union verhält sich angesichts der deutlichen Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte erstaunlich still. In den Phasen des Lockdowns war aus unseren Reihen kein lauter Protest gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu vernehmen, stattdessen ein ruhiges Abwägen zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten. (Aden 2020) Gleichwohl wurde auf die Gefahren hingewiesen, einmal vorgenommene Beschränkung von Freiheitsrechten zu verstetigen. Nicht zuletzt deshalb müssen sie bedingungslos verteidigt werden – auch dann, wenn jene aus der Versammlungsfreiheit Nutzen ziehen, die ihre individuelle Freiheit über den Schutz für Leib und Leben anderer stellen, wie dies unter „Quer-Denkern“ in Übereinstimmung mit rechtem Denken vertreten wird. (Kutscha 2020) Statt einer so gearteten sozialdarwinistischen Positionierung verortet sich die Humanistische Union als Organisation zur Verteidigung der Rechte, die angesichts einer zunehmenden neoliberalen Entwicklung brüchig zu werden drohen, machte doch die Pandemie die sozialen Verwerfungen wie unter der Lupe erkennbar: den Personalnotstand im Gesundheitswesen und in der Pflege, (Schünemann 2021) die sich verschärfende Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen, (Grams 2020) die Unterfinanzierung des Bildungssystems, die zunehmende Armut.
Unter den Bedingungen der Pandemie verschieben sich die Schwerpunkte einer Bürgerrechtsorganisation zugunsten sozialer Rechte. Jürgen Habermas verdeutlichte dies in einem beachtenswerten Aufsatz im Herbst des vergangenen Jahres. „Man kann nicht die Würde einer Person schützen wollen und deren Physis versehren lassen.“ (Habermas 2021, S. 78)Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die Humanistische Union am 17. und 18. 9. 2022 in Marburg eine Tagung zum Thema Triage durchführen.
Die Haltung der Humanistischen Union, das Dictum von Habermas auch angesichts der Pandemie zum Maßstab zu machen und mit einem gewachsenen Verständnis von Bürgerrechtsarbeit zu verknüpfen, hat zu einem Rücktritt aus dem Bundesvorstand geführt. Trotzdem erscheint es geboten, diesen Widerspruch nicht als Bredouille zu begreifen, sondern als Aufbruch in neue und weitergehende Aufgaben der Bürgerrechtsorganisation.

Wolfram Grams

Literaturverzeichnis

  • Aden, Hartmut; Arzt, Clemens; Fährmann, Jan (2020): Gefährdete Freiheitsrechte in Krisenzeiten – Lehren aus der Covid-19-Pandemie. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 59 (230), S. 99–111
  • Grams, Florian (2020): Teilhabe und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen in der Pandemie. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 59. Jg. (3-4 231/232)), S. 205–212.
  • Habermas, Jürgen (2021); Corona und der Schutz des Lebens. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 66. Jg. H. 9, S. 65-78.
  • Kutscha, Martin (2020): Der Streit um die Versammlungsfreiheit von „Corona-Leugnern“. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 59 (230), S. 113–116.
  • Schünemann, Monja (2021), erscheint in Nr. 235 der Vorgänge.
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