Deutsche »Entwicklungshilfe«: Fluglärm für die Türkei
aus: vorgänge Nr. 79 (Heft 1/1986), S.23-24
300 militärische Tiefflieger brausen täglich lärmreich über die Köpfe der Menschen, die in der Bundesrepublik in ländlichen Gebieten leben. So jedenfalls wurde die Zahl von jemandem, der es wissen sollte, geschätzt: Bundesverteidigungsminister Wörner. Er sprach lm Dezember auf der Wintertagung der NATO-Verteidigungsminister von 100 000 Tiefflügen pro Jahr.
Gegen diese Tiefflugmanöver, gegen den Lärm, den sie oft kaum aushaltbar erzeugen, gegen die Angst, die die Tieffliegerei im wörtlichen Sinne einjagt, ist in jüngster Zeit vermehrt Protest von Bürgerinnen und Bürgern laut geworden. Sie setzten sich zur Wehr gegen das, was Wörner »den Preis der Freiheit« nennt, was sie selbst als Betroffene als »die schlimmsten Auswirkungen des Truppenübungsplatzes Bundesrepublik Deutschland« empfinden. Einzelne, Bürger- und Friedensinitiativen ließen Ballons steigen, um die Piloten wenigstens davon abzuhalten, knapp über die Dächer mit zischendem Gedröhn zu kurven. Kundgebungen versammelten sich an Militärflugplätzen. Demonstrationen zogen durch die kleinen Städte und Dörfer der bundesdeutschen Provinz, aber man versammelte sich auch in Bonn zu einer Demonstration vor dem Bundesverteidigungsministerium. 46 000 Unterschriften wurden innerhalb weniger Wochen unter eine Petition gegen Tiefflugmanöver und Tieffluglärm gesammelt, die nun dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages vorliegt, Viele Medien haben das Thema Tieffluglärm aufgegriffen, und in Streitgesprächen zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Initiativen und hohen Offizieren des Bundesluftwaffenamtes hatten die Tieffluggegner stets die besseren Argumente. Denn an diese Tiefflieger kann man sich nur um den Preis der Krankheit gewöhnen. Wie kleine Kinder diesen Lärmdruck verarbeiten, weiß man nicht genau. Aber er hilft ihnen gewiß nicht, freie und selbstbewußte, d.h. auch alptraumfreie Bürger zu werden.
Nun ist derselbe zahlenkompetente Minister auf eine geradezu »geniale« Lösung verfallen: Man solle die Tiefflieger in der Türkei drauflos lärmen lassen. Das Gebiet um KonYa inmitten der anatolischen Hochebene, dünn besiedelt, sei ein geeigneter Platz. Wollten die anderen NATO-Staaten nicht mitziehen, werde man mit der nicht abgeneigt scheinenden Regierung der Türkei entsprechende bilaterale Vereinbarungen treffen.
Fast zur selben Zeit nämlich mit Verabschiedung des Bundeshaushalts, wurde Wörner bevollmächtigt, weitere Tornado-Kampfflugzeuge zu kaufen. Im sogenannten Verteidigungshaushalt ist für 1986 wieder eine erhebliche Steigerung an Treibstoffverbrauch für die Bundesluftwaffe vorgesehen. Um es gleich deutlich auszusprechen, jene, die auch gegen Lärmbelästigung sind, aber das St.-Florians-Prinzip für geeignet halten (»Heiliger St. Florian verschon mein Haus, zünd’s andere an«) müssen enttäuscht werden: Nicht um Verminderung von Tieffliegerei und damit Tieffluglärm über der Bundesrepublik Deutschland geht es, sondern die militärischen Flugübungen werden extensiv ausgeweitet und da wird es nun langsam in der Bundesrepublik in der Tat etwas zu eng, so daß ein Teil der Tieffliegerei exportiert werden muß.
Doch damit nicht genug! 150 Leopard-1-Panzer sollen der Türkei ohne Bezahlung übereignet werden: »Als Kanzler Kohl im vergangenen Juli«, so ein Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 4.12. 1985, »Ankara besuchte, präsentierte man ihm die Bitte, die Bundesrepublik möge drei Brigaden mit Gratispanzern ausstatten, das wären etwa 250 Stück. Wie gut fügte sich, daß das deutsche Heer sich seither bereitfand, 250 Leopard-1 der 10. Panzerdivision durch den Typ Leopard-2 zu ersetzen.«
Umsonst freilich gibt es nichts: Die offizielle Bundesrepublik wird die Panzer liefern und im Gegenzug Tiefflugmanöver und Tieffluglärm gleich mit. Selbstverständlich erwartet sie auch, daß die Türkei die ihr demnächst zustehende Freizügigkeit im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft nicht in Anspruch nehmen werde, sprich keine Freizügigkeit für weitere türkische Arbeiterinnen und Arbeiter, die in die Bundesrepublik wollen.
Waffen und Fluglärm für die Türkei. Und dieselbe darf noch obendrein ihre Landsleute davon abhalten, die Europäische Gemeinschaft als Gemeinschaft von Bürgern ernst zu nehmen. Die Unverschämtheit solcher neoimperialistischer Politik macht beinahe sprachlos. Der Export von Tiefflugmanövern und Tieffluglärm mindert die Bedrohung einer verfehlten Sicherheitspolitik nicht. Er verringert nicht den Fluglärm. Von den Kosten ganz zu schweigen. Und die doppelt arme Bevölkerung Anatoliens? – nun, die Leute dort sollen doch froh sein, daß sie in dünn besiedelten Regionen leben dürfen und die Bundesrepublik so prächtig gepanzert hilft, damit die Verhältnisse dort auch so bleiben, wie sie sind. Als würde Goethes Osterspaziergang, den er einem Kleinbürger in den Mund legt, nun a la Wörner-Kohl neu gereimt: Wie wohl ist uns an Feiertagen, wenn hinten fern in der Türkei die Menschen leiden unter unsren Plagen und wir in deutsch gewisser Panzerei weltweit – durch Traditionserlass – die Politik zu Grabe tragen.
Nein, der Fluglärm der Tornados gehört uns ebenso wie das Umweltgift, das wir hoch in die Atmosphäre stoßend in andere Länder exportieren. Da hilft es nur, daß eine andere Politik gefunden wird und andere Politiker, die solchen Tieffluglärm nicht als Sicherheitsleistung ausgeben und die ökologischen Schäden nicht mit der Wohlfahrt der Bürger verwechseln. Der geplante Export eines Teils der Tieffliegerei zeigt das wahre Gesicht von »Entwicklungshilfe«. Und er demonstriert den Betrug an den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik. Nicht die Politik wird verändert, man versucht, die Hinnahme einer falschen Politik damit zu erreichen, daß man Probleme, die über den Kopf wachsen, also aufgrund manifester Bürgerproteste einen Teil des Fluglärms, exportiert, am besten in ein Land, das diktatorisch genug organisiert ist, damit die Bürgerinnen und Bürger nicht auch dort noch anfangen zu protestieren.
Nein, wir sollen unseren Lärm haben, genauer, wir wollen eine Politik der Sicherheit nicht haben, die weltweit Menschen erpresst und ängstigt, letztlich um kriegstreibender Interessen willen. Diese »Entwicklungshilfe« schadet der Türkei, sie schadet an erster Stelle der Bundesrepublik Deutschland als einer liberalen Demokratie im Sinne des Grundgesetzes.