Publikationen / vorgänge / vorgänge 79

Legal in den Überwa­chungs­staat

Dokumentation

aus: vorgänge Nr. 79 (Heft 1/1986), S.142-144

Von den sicherheitspolitischen Experten aus CDU/CSU und FDP in Zusammenarbeit mit der „Sicherheitsbürokratie“ ist in einem Geheimverfahren ein Gesetzespaket ausgehandelt worden, das demnächst Bundestag und Bundesrat beschäftigen wird. Es geht um Gesetze, die die Geheimdienste und Polizei mit weitreichenden Ermächtigungen ausstatten, Daten über jeden Bürger zu erheben und zu verknüpfen. Verschleiernd wird dieses Gesetzespaket unter die Überschrift gesetzt: „Datenschutz- und Begleitgesetze“.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Volkszählungsurteil vom 15. festgestellt, daß der Bürger gegenüber der staatlichen Verwaltung ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung besitzt. Dazu heißt es in dem Urteil:

„Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“

Die damit vom Bundesverfassungsgericht geforderte kritische Überprüfung der gegenwärtigen Praxis im „Sicherheitsbereich“ hat nicht stattgefunden; stattdessen wurden Entwürfe zu Gesetzen vorbereitet, die für die heute bestehende Praxis die fehlende gesetzliche Grundlage nachzuschieben versuchen und die darüber hinaus Geheimdienste und Polizei zusätzlich mit neuen Befugnissen ausstatten. Kurz:

Nicht der Bürger erhält mehr Rechte, sondern Geheimdienste und eine im Geheimen arbeitende Polizei.

Vorgesehen sind im einzelnen:

1. Der Entwurf eines neuen Bundesverfassungsschutzgesetzes ändert die bisherigen Aufgaben des Verfassungsschutzes nicht. Die Befugnis, nachrichtendienstliche Mittel anzuwenden (heimliche akustische und optische Observationen, Einsatz von V-Leuten etc.), bleibt bestehen. Dabei soll die „Erhebung personenbezogener Daten“ auch dann möglich sein, wenn kein Verdacht vorliegt, sondern „nachrichtendienstliche Zugänge gewonnen werden können“. Erweitert werden auch die Befugnisse des Verfassungsschutzes, sich mittels der elektronischen Datenverarbeitung Informationen zu verschaffen. Ein nahezu unbeschränkter Datenfluß aus der öffentlichen Verwaltung an den Verfassungsschutz wird zulässig. Bestimmte Informationen müssen auch ohne Aufforderung dem Verfassungsschutz mitgeteilt werden. Im Einzelfall kann der Verfassungsschutz verlangen, daß ihm alle personenbezogenen Daten übermittelt werden. Darüber hinaus können alle Behörden von sich aus alles mitteilen, was dem „Verfassungsschutz bei der Erfüllung seiner Aufgaben“ dienlich ist. Dabei und bei der Weitergabe von Daten des Verfassungsschutzes wird kaum ein Unterschied gemacht, ob es sich um die Abwehr von Spionage und Terrorismus handelt oder um die Zugehörigkeit zu unerwünschten Organisationen und Aktivitäten. Die Weitergabe personenbezogener Daten an andere Behörden, alliierte Dienststellen, ausländische Geheimdienste und an „andere öffentliche Stellen“ wird in einem bestimmten Umfang erlaubt. Der Aufbau von Dateien über Personen wird sogar mit „Textauszügen“ aus Akten zulässig, ohne daß der Bürger von solchen Bewertungen etwas erfährt und ohne daß er etwas dagegen unternehmen kann. Aus einer Fundstellendatei, die – wie bisher NADIS – lediglich darauf verweist, an welcher Stelle Akten geführt werden, wird eine Bewertungsdatei.

2. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) erhält die bislang fehlende gesetzliche Regelung mit denselben Befugnissen wie der Verfassungsschutz. Es gibt keine eindeutige Trennung der Aufgabenbereiche zwischen beiden Geheimdiensten. Der MAD kann überall im „zivilen“ Bereich tätig werden, sofern er nur geltend macht, daß die Belange der Bundeswehr tangiert sind. Faktisch führen die vorgesehenen Regelungen dazu, daß die bisher illegale „Zersetzerkartei“ rechtlich nicht mehr beanstandet werden kann.

3. In einem weiteren Gesetzentwurf soll die Amtshilfe zwischen Sicherheitsbehörden geregelt werden (Gesetz über die informationelle Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Staats- und Verfassungsschutzes, ZAG). Durch dieses Gesetz wird der Datenverbund zwischen Geheimdiensten einerseits und Polizei (einschließlich Bundeskriminalamt und Bundesgrenzschutz) und Strafverfolgungsbehörden andererseits zulässig. Damit wird die aus bitteren Erfahrungen mit einer geheimen Staatspolizei (Gestapo) entstandene und zu materiellem Verfassungsrecht erhobene Trennung zwischen Geheimdiensten und Polizei aufgehoben.

4. Durch eine unscheinbare Novelle zum Straßenverkehrsgesetz soll eine Rechtsgrundlage geschaffen werden für ein „Zentrales Verkehrsinformationssystem“ (ZEVIS). Damit würden das KFZ-Bundesamt in Flensburg sowie die kommunalen KFZ-Zulassungsstellen faktisch zu Außenstellen der Polizei, die jederzeit dem polizeilichen Datenzugriff (online) offen stehen.

5. Das Personalausweisgesetz soll nun in Kraft gesetzt und durch eine Novelle zum Paßgesetz ergänzt erden. Die Maschinenlesbarkeit dieser ldentifikationspapiere macht es möglich, eine Vielzahl von Bürgern binnen kurzer Zeit zu erfassen. Damit wird die Grundlage geschaffen zur Konstituierung dessen, was man Erfassungsstaat genannt hat.

6. Die Novelle zum Bundesdatenschutzgesetz beseitigt nicht die Lücken des bisherigen Gesetzes, sondern schafft für die öffentliche Verwaltung durch die generelle Zulassung von online-Verfahren und durch die Einengung des Dateibegriffes neue Freiräume. Die Weitergabe an andere Behörden und an Private wird im größeren Umfang möglich. Die Kontrollbefugnisse der Datenschutzbeauftragten werden einerseits geringfügig erweitert, andererseits durch die Einengung des Datei-Begriffs eingeschränkt.

Eine Auskunftsverpflichtung von Verfassungsschutz, MAD und BND gegenüber dem Bürger gibt es prinzipiell nicht.

In enger Verbindung mit diesem Gesetzespaket steht die Beratung eines Musterentwurfs für einheitliche Polizeigesetze des Bundes und der Länder in der Innenministerkonferenz. Durch diese Bestimmungen soll die Polizei Befugnisse erhalten, die bisher Geheimdiensten vorbehalten waren. Die Polizei erhält das Recht, in bestimmten Fällen nachrichtendienstliche Mittel anzuwenden, heimlich zu observieren, V-Leute einzusetzen und Kriminalbeamte als „Verdeckte Ermittler“. Alles das soll möglich sein, ohne daß ein konkreter Tatverdacht vorliegen muß. Die Tätigkeit der Polizei ist nicht mehr auf die Gefahrenabwehr beschränkt, sondern soll auf die „Vorsorge zur Gefahrenabwehr“ und auf „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ ausgedehnt werden. Damit wird der Polizei erlaubt, alle Daten die ihr wichtig erscheinen, zu erheben, zu speichern und zu nutzen. Es soll zum Beispiel zulässig sein, daß die Polizei jeden „Kontakt“ zum Anlaß einer Fahndungsanfrage macht. Rasterfahndung kann durchgeführt werden – auch im privaten Bereich.

Die Regierungsparteien versuchen, dieses umfangreiche Gesetzesvorhaben im Eilverfahren im Bundestag und Bundesrat zu verabschieden. Der Entwurf für die Polizei wird vorerst zurückgestellt. Auch in dem wichtigen Bereich des Bundeskriminalamtes soll vorerst weiter in der „Grauzone“ operiert werden. Die Vorentwürfe wurden unter Ausschluß der Öffentlichkeit in einem Geheimverfahren beraten. Diese Texte, die mit dem Aufdruck „VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ versehen sind, wurden nach dem bisherigen Stand der Beratungen von der Zeitschrift Bürgerrechte und Polizei, CILIP 21, Nr. 2/1985 veröffentlicht. Die Gesetzesentwürfe sollen von den Bundestagsfraktionen der Regierungskoalition direkt im Bundestag eingebracht werden. Damit wird eine für die öffentliche Erörterung wichtige Beratungsrunde im Bundesrat ausgeschaltet. Schon diese Besonderheiten beim Gesetzgebungsverfahren zeigen, daß die Initiatoren dieser Gesetze öffentliche Kritik zu fürchten haben. Die FDP hat sich in dem Vorverfahren insbesondere durch Staatssekretär Klaus Kinkel (einst Präsident des Bundesnachrichtendienstes) weitgehend festlegen lassen und sich in vielen Fragen den Interessen der Sicherheitsbürokratien unterworfen.

Es ist abzusehen, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages neben der Argumentation mit der bedrohten „Inneren Sicherheit“ auch dem Hinweis auf (bewußt) geschaffene „Sachzwänge“ ausgesetzt werden. Eine riesige Investitionssumme soll Parlament und Öffentlichkeit dazu bringen, der Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises und der Verabschiedung sogenannter Begleitgesetze zuzustimmen. Bald drei Jahre werden in der Bundesdruckerei in Berlin umfangreiche Räumlichkeiten mit einem großen Computer- und Maschinenpark zusammen mit dem zugehörigen Personal zur Einführung des Ausweises bereitgehalten. Nach Schätzungen aus der Bundesdruckerei selbst sind bisher dafür an die 150 Millionen DM aufgewendet worden. Jeden Monat kommen ca. 2 Millionen DM hinzu (allein die für die Herstellung der Ausweise installierte Computeranlage kostet 1,5 Millionen DM im Monat).

Die Humanistische Union hält es in einer parlamentarischen Demokratie für unvertretbar, durch derart immense Investitionen und laufende Kosten in Millionenhöhe, noch bevor das Inkrafttreten des Gesetzes über den Personalausweis definitiv beschlossen ist, einen Kostenberg in Millionenhöhe aufzutürmen, der die Parlamentarier allein schon aus diesem Grund unter erheblichen Druck zu setzen vermag. Die Gesetzentwürfe haben eine ähnliche Bedeutung wie einst die Notstandsgesetze. Die Befugnisse der Sicherheitsbürokratien werden nicht nur über den bisherigen Stand hinaus ausgedehnt, sondern so gefaßt, daß es im Sicherheitsbereich das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung faktisch nicht mehr gibt. Das Grundrecht wird damit in bestimmten Bereichen in seinem Wesensgehalt angetastet. Diese Gesetze dienen nicht dem Bürger, sondern sind Instrument einer perfektionistischen Sicherheitsrationalität von Geheimdiensten und Polizei.

Der Schutz der Daten des Bürgers wird ersetzt durch Befugnisse der Sicherheitsbürokratien zum Zugriff auf die Daten des Bürgers. Geschützt werden unterschiedslos alle Daten dieser Bürokratien vor dem Bürger.

Die Humanistische Union fordert dazu auf, alles zu tun, damit die geplanten Gesetze in dieser Form nicht realisiert werden können. Solche Gesetze dürfen nicht handstreichartig durchgesetzt werden.
Es bedarf einer breiten Information über die Gefahren des Gesetzespakets. Dem Versuch der FDP, ihr Einverständnis mit einer Umkehrung des Volkszählungsurteils zu Lasten der Freiheitsrechte zu beschönigen, darf nicht auf den Leim gegangen werden. Es kommt nicht nur darauf an, Sozialdemokraten und GRÜNE gegen diese Gesetze zu mobilisieren; auch liberale Konservative können gegen diese Gesetze gewonnen werden. Ebenso müssen die Gewerkschaften erkennen, daß auf Grund dieser Gesetze gewerkschaftliche Interessen angetastet werden können. Wichtig ist, daß sich überall im Lande Initiativen bilden – wie vor 3 Jahren gegen die Volkszählung – gegen die rechtliche Installierung des Überwachungsstaates.

Für den Bundesvorstand der Humanistischen Union

Jürgen Seifert

nach oben