Die Glocke läutet zum Gebet
Oder: Der heimliche Konservatismus des Schulmorphologen H. Ch. Berg
Replik
aus: vorgänge Nr. 79 (Heft 1/1986), S. 123-126
Hans Christoph Berg, Kollege aus Marburg, hat die Thematik der VORGANGE 77 genutzt, um eine »hierzulande neuartige schulpluralistische Sicht« (S. 73) unter dem Titel »Schulpluralismus unter Staatsaufsicht statt Schuldirigismus in Staatshoheit« zum Tragen zu bringen. Herausgekommen ist dabei eine Philippika auf die staatliche Regelschule und ein Stück konservativer Pädagogik, daher kommend freilich in einem grünlich-progressiven Gewande.
Zunächst einmal und um Mißverständnisse zu vermeiden: Die staatliche Regelschule ist, überblickt man die Erfahrungen von Schülern, Eltern und Lehrern in den letzten Jahren, ebenso reformbedürftig wie reformresistent. Und mancher Versuch reformfreudig ausgebildeter Pädagogen, die Normalität des Schulalltags, den Berg sehr schön als »das massive dutzendteilige Gefüge von Lehrern / Stundenplan / Fächer / Klassenarbeiten / Zensuren / Schulbuch / Jahrgangsklassen / Lehrplan / Pausenhof / Staatsbeamter / Direktor / Schulhaus« (S. 75) beschreibt, zu verändern, hat inzwischen in stiller Resignation sein Ende gefunden.
Bildungspolitisch herrscht nach kurzer Aufbruch jetzt Abbruchstimmung. Das nach wie vor notwendige Plädoyer für eine schöpferische Umgestaltung des Schulalltags, für den die verhängnisvolle Trennung von Leben, Lernen und Arbeiten konstitutiv ist, gewinnt Gewicht, wird gesellschaftlich relevant durch verschiedene Versuche freier Initiativen neben und jenseits der staatlichen Regelschule. Aber Berg will mehr. Er fordert die Freie Schule als Regelschule und die Staatsschule als Ersatzschule und erweist sich darin als konservativer Reformer. Ja, die von ihm benannten Begründungen für sein »Ordnungsbild Schulvielfalt« sind geradezu Paradigmata konservativer Gesellschafts-und Erziehungsvorstellungen.
Der Schulmorphologe sieht in den gegenwärtigen Schulgestalten – Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule, Berufs- und Sonderschule – nur eine »ausdifferenzierte Einfalt«. »Nochsoviele Hunde«, fährt Berg fort, »bringen eben keine Katze, keinen Marder, keinen Bär…« (S. 74) Ein nicht gerade aufregendes Naturbild soll belegen, was der Autor an der gesellschaftlichen Realität bundesrepublikanischen Schulalltags kritisiert. Nein, Berg hat hier nicht eher zufällig daneben gegriffen, seine Darstellung hat Methode. Wo immer analytische Klarheit gefordert wäre, um seine Einschätzung, sein Urteil zu belegen, setzt Berg stattdessen Naturbilder und -vergleiche. Da ist ihm zur Illustration der morphologischen Bedeutung der Schulvielfalt für die Schulentwicklung »der Vergleich mit dem Wald dienlich«: »Auch bei einer noch so fleißig angepflanzten Vielzahl von Tannen verbleibt dieser Wald eine Monokultur; zu einem ‚richtigen` Mischwald gehören neben Tannen und Fichten eben auch Eichen, Buchen, Eschen, Ahorn, Birken … Und weiter: Mischwald heißt nicht eine Tanne mit Eichenblättern, Ahornsaft und Bucheckern zu züchten, um dann diese superkluge Kreation allerorten implementieren zu wollen« (S. 74). Bergs Tanne mit Eichenblatt und Ahornsaft steht, wie wir dann erfahren, für die »Retortenmixturen eines pädagogischen Konstruktivismus« (S. 75), der etwa mit Hilfe wohlgemeinter Erlasse zur Abschaffung der Noten noch immer die Normalschule zu verändern glaubt. »Das Klassenzimmer ist eher eine ‚Unterrichtsweide` und der Lehrer eher ein ‚Hirte’«, beschreibt Berg dann weiter die Montessorischule (S. 76), das Naturbild diesmal mit seiner offensichtlichen Schwäche für religiöses Traditionsgut verbindend (der Gute Hirte), von der noch zu reden ist. In der Odenwaldschule wurde der Unterricht »samt Lehrplan, Fächer, Stundenplan wachstümlich, natürlich, genetisch umgemodelt« (S. 76).
Das alles sind keine Wachstümeleien, die man getrost vergessen könnte. Wer so konsequent gesellschaftliche und pädagogische Realitäten und Einschätzungen in Analogie zu organischem Leben beschreibt, wer so Gesellschaft durch Natur erklärt, ja fast ersetzt, argumentiert im Kontext schlechtester deutscher Tradition, verdunkelt letztlich gesellschaftliche Realität und historische Bedingtheit.
Und in der Tat, das ergänzt die bisherigen Feststellungen, ist Berg in und trotz der morphologischen Skizzierung seiner acht wesentlichen Schulgestalten merkwürdig indifferent gegenüber den jeweiligen Erziehungszielen und -inhalten. Die Vielfalt der Schulgestalten ist dem Schulmorphologen schon Wert an sich, wie sonst wären so unterschiedliche Schulrealitäten wie Glocksee, Summerhill und Kirchenschulen ohne Probleme unter einen Hut zu bringen? Und ist, von welchem pädagogischen Standpunkt auch immer, die Realität eines streng katholischen Gymnasiums ebenso positiv zu bewerten wie etwa der Alltag in der Freien Schule Frankfurt, nur weil beide keine staatlichen Regelschulen sind? Warum in aller Welt sollte man ausgerechnet wieder mehr kirchliche Schulen haben wollen, aus welchen vertretbaren pädagogischen Gründen?
Was bringt es, wenn Berg das Fehlen einer Evangelischen Schule in Marburg beklagt, »ausgerechnet am traditionsreichen Ort des Marburger Religionsgesprächs« (S. 73)? Welchen pädagogischen Stellenwert kann im Begründungszusammenhang gegenwärtiger und zukünftiger Schulrealität in einer säkularisierten Gesellschaft denn der Hinweis auf das Marburger Religionsgespräch haben, das im Jahre 1529 bekanntlich die Kontrahenten Luther und Zwingli im Streit darüber zusammenführte, ob die Gegenwart von Leib und Blut im Abendmahl ganz real oder eher symbolisch zu verstehen sei? Was hat Berg gar im Sinn, wenn er in den Staatsschulen als säkularisierten Kirchenschulen »auf den zweiten Blick« zumindest eine »innere Umstimmung« entdeckt: »Was in den Kirchenschulen relativ blieb, wurde in den Staatsschulen absolut, vorletzte Dinge wurden letztgültig, die Schale blieb mit anderem Kern. Früher läutete die Schulglocke zum Stundengebet, jetzt klingelt es zur Erholungspause; früher lernte man Latein und Griechisch als Kirchen- und Bibelsprache, jetzt zur ‚Schulung des Geistes`. Die Gestalter der Kirchenschulen haben weitgehend die gleichen Bauteile in der Hand, aber möglicherweise mit einem (anderen) geistigen Band: das Schulprofil will in ‚evangelischem Geist, in Freiheit und Dienstbereitschaft` verwirklicht werden (Andreanum), es soll um ‚ganzheitliches Sehen und Denken` gehen (Amöneburg), und ‚die letzte Studienfahrt in der Oberstufe geht darum auch regelmäßig nach Rom` (Sophie-Barat-Schule)« (S.77). Die Glocke läutet zum Gebet!
Bergs Artikel beginnt mit einer Beschreibung der Marburger Schullandschaft. Marburg gehört für ihn »zu den bundesdeutschen Regionen mit überdurchschnittlicher Schulvielfalt« (S. 73), dennoch sei der Bedarf an Freien Schulen für die Marburger Bürger noch längst nicht gedeckt.
Nun ist die Marburger Schulsituation auch unter einem anderen Aspekt außergewöhnlich. Nimmt man die Zahlen der letzten fünf Schuljahre, dann ergibt sich, daß ein überdurchschnittlich großer Teil der Schüler weiterführende Schulen besucht: 15,5% der Grundschulabgänger gehen auf die Hauptschule, 18,2% besuchen eine Realschule, 18,5% die einzige Gesamtschule Marburgs, 43% die Gymnasien und knapp 5% private Schulen. Könnte das nicht zumindest ein Hinweis darauf sein, daß die Privatisierung des Schulwesens, wie Privatisierung in anderen gesellschaftlichen Feldern, vorrangig das Ziel einer relativ privilegierten sozialen Schicht ist und deren Interessen in der Tat auch am ehesten entgegenkommt? Und ist es nur ein Zufall, daß viele Vertreter der oft maßlosen Kampagne gegen die Einführung der flächendeckenden Förderstufe in Hessen sich immer wieder explizit auf Bergs schulmorphologischen Ansatz berufen? Sätze, Thesen, Begriffe haben ihre Konnotationen! Wer vom »unwirtlichen Staatsschulklima der Bundesrepublik« (S. 73) redet, läßt Assoziationen zum politischen Kampfbegriff der »Zwangsförderstufe« (so der CDU-Jargon) zumindest zu. Und wer die Staatsschulquoten in der BRD und der DDR nicht nur in »ähnlichem«, sondern in »verdächtig ähnlichem Rückstand gegenüber dem europäischen Spitzenreiter Holland mit nur 30% Staatsschulquote« sieht (S. 78), muß sich nicht wundern – wenn er es nicht selber will -, daß eben jene politischen Köpfe sich seine Argumentation zu eigen machen, für die jede Ähnlichkeit mit Gegebenheiten in der DDR per se schon verdächtig, wenn nicht gar verfassungsfeindlich ist.
In der Sache steht Bergs Argumentation zwar manchen berechtigten Forderungen grüner Bildungspolitiker nach Entbürokratisierung und Dezentralisierung des Bildungswesens, nach Entstaatlichung und Selbstverwaltung der Bildungsprozesse, nach einer Verbindung von Leben, Lernen und Arbeiten nahe, sein abschließender Satz aber »Schulvielfalt dank Freier Schulen als Regelschulen und Staatsschulen als Ersatzschulen« (S. 78) machte jedem Bonner Wendepolitiker Ehre. Er fordert schließlich nichts anderes als die strikte Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips auch in der Schulpolitik.
Das Subsidiaritätsprinzip, eng verbunden mit dem Theorem der »pluralistischen Gesellschaft«, entstammt mit seiner Trennung von Staat und Gesellschaft, von öffentlicher und privater Sphäre einerseits den Staats- und Gesellschaftstheorien des Liberalismus im 19. Jahrhundert, ist zum anderen aber ganz wesentlich von der katholischen Soziallehre geprägt. 1931 von Papst Pius XI. in der Enzyklika »Quadragesimo anno« als »oberster sozialphilosophischer Grundsatz« der Catholica formuliert, denkt das Subsidiaritätsprinzip die Gesellschaft als ein konzentrisches Gefüge von Gruppen, deren umfassendere jeweils die untergeordnete umschließt wie etwa eine Zwiebelschale. Als Mittelpunkt gilt die kleinste »natürliche« Gemeinschaft, die Familie. Sie hat bestimmte, ebenfalls »natürliche« Aufgaben wie z.B. die Kindererziehung, die ihr nicht genommen werden dürfen. Nur wenn sie diesen Aufgaben nicht gewachsen ist, darf die nächsthöhere helfende, »subsidiär« eingreifen. Erst wenn auch diese versagen sollte, ist wiederum die nächsthöhere zum Eingreifen berechtigt, bis erst zuletzt der Staat aktiv wird.
Es liegt auf der Hand, daß ein solcher sozialpolitischer Grundsatz, der sich in der Sozialgesetzgebung dieser Republik durchaus wirkungsvoll niedergeschlagen hat, im Zeichen der gesellschaftlichen Wende, die Privatinitiative und Konkurrenz fördern und staatliche Leistungen und Verantwortung einschränken will, auch für die bildungspolitische Diskussion reaktiviert wird. Ein im Auftrag der Landesregierung von Baden-Württemberg erstellter Bericht einer Kommission »Weiterbildung« etwa – das erste offiziöse Dokument zur Weiterbildung seit vielen Jahren – beruft sich denn auch ausdrücklich auf das Subsidiaritätsprinzip und den Vorrang privater Träger in der Weiterbildung und preist zugleich die »Innovationsfähigkeit« der »modernen Konkurrenzdemokratien«, die mit »dem tiefgreifenden Strukturwandel in Richtung auf eine ‚Informationsgesellschaft’« besser fertig würden als andere Gesellschaftsformen. (Weiterbildung. Herausforderung und Chance, Stuttgart 1984, S. 18). Die sozialen Folgekosten für die zahlreichen Opfer der »Konkurrenzdemokratien« stehen nicht mehr zur Debatte.
Wo die Durchsetzungskraft des Stärkeren mit dem Gemeinwohl identifiziert wird, muß eine kritische Erziehungswissenschaft ihr Augenmerk auf die sozial- und bildungspolitisch Benachteiligten richten. Wieviel freie Initiativen etwa täten dem Alltag einer Sonderschule für Lernbehinderte gut. Jeder theoretische und praktische Entwurf zur »Entschulung« und Veränderung gegenwärtiger Bildungseinrichtungen muß sich, will er nicht zu einem Modell besonders privilegierter Schichten verkommen, gegen die Ver-einnahmung durch die Protagonisten einer »konkurrenzdemokratischen« Gesellschaft wappnen. Wenn Hans Christoph Berg dies wollte, so ist es ihm nicht gelungen.