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Langstrafen und ambulante Alter­na­tiven

vorgängevorgänge 7901/1986Seite 38-44

Zwei Seiten einer Medaille?

aus: vorgänge Nr.79 (Heft 1/1986), S. 38-44

Programm und Idee der Resozialisierung sind in der Krise. Trotz Ausbau der Bewährungshilfe, Sozialtherapie, Freigängerhäuser, Wohngruppenvollzug und vielfältigen Vollzugslockerungen (»Urlaub aus dem Knast«): die Rückfallzahlen sind unverändert hoch, die Gefängnisse überfüllt. Die Erwartungen an die Reform des Strafvollzugs infolge des »Jahrhundertgesetzes« (Strafvollzugsgesetz) haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Gerade vor dem Hintergrund der veränderten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen der letzten zehn Jahre hat sich die soziale Problemlage der Straffälligen und Strafentlassenen dramatisch verschärft: bis zu 70% der Strafentlassenen bleiben arbeitslos; damit verbunden: Reduzierung von Sozialleistungen, steigende Wohnungsnot, ebenso steigende Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Im Regelfall hat das Strafvollzugssystem nicht zur Verbesserung der Lebenslage beitragen können. Durch die Herausnahme aus dem Lebenszusammenhang wurden zusätzliche soziale Probleme angehäuft (Isolation, Unselbständigkeit, Dequalifizierung der Arbeitskraft, Schulden, Gerichtskosten etc.), die eine Integration erschweren.

Gefängnisstrafe – als letztes Glied einer Kette staatlicher Interventionen und Sanktionen auf Straffälligkeit – kann nicht zur Re-Sozialisierung beitragen, allenfalls leistet sie einer Ent-Sozialisierung Vorschub(1).

Internationale Untersuchungen belegen diese Einschätzung. Wenn dem so ist, wenn gar amtierende Justizminister in Gefängnissen »das ungeeignetste Mittel zur Wiedereingliederung« sehen (so der Hessische Justizminister Günther auf einem Hearing im dortigen Landtag), ist danach zu fragen, warum dennoch zur laufenden Unterhaltung dieses ineffezienten und konkursreifen Systems jährlich ca. 2 Milliarden DM aufgewendet werden, davon allein 50% für Personal und – diese Zahl sagt mehr aus als zahllose »Sonntagsreden« von Justizministern – 0,27% für den Sozialdienst im Vollzug(2).

Weitere 2 Milliarden sind für Neubauprogramme von Gefängnissen vorgesehen. Über 60 000 Haftplätze gab es 1983 in der Bundesrepublik, das Neubauprogramm sieht zusätzlich 10 000 Haftplätze vor. Damit wird die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Vergleich mit an der Spitze liegen. Nur in der Türkei (!) und in Österreich werden pro 100 000 der Bevölkerung noch mehr Menschen inhaftiert(3).Wie aber kommt es zu diesem Widerspruch? Einerseits ist man sich der Schädlichkeit von Freiheitsstrafen bewußt, andererseits wird daran festgehalten, ja erhebliche Mittel dafür aufgebracht, dieses Strafsystem zu erweitern.

Parallel dazu werden zunehmend »ambulante Alternativen« propagiert und teilweise modellhaft auch praktiziert, die ihre Berechtigung gerade aus der Kritik des geschlossenen Vollzugs ableiten. In zahlreichen Justizministerien wurden eigens Arbeitsgruppen eingerichtet (z.B. Hessen, Niedersachsen), wo Experten hierzu praktische Perspektiven entwickeln sollen.

Während – um ein Bild zu zeichnen – im ersten Stock die Expertenrunde über Standorte und Kosten der Gefängnisneubauten tagt, sitzt im Keller des gleichen Gebäudes jene Gruppe, die für »Alternativen« zuständig ist; die oben haben das Geld, die unten nur die Ideen …

Ich möchte auf den folgenden Seiten deutlich machen, daß dieses Bild zum einen durchaus real ist, zum andern der herrschenden Logik gerecht wird. Diese lautet: »Das eine tun, ohne das andere zu lassen!«
Die aktuelle Diskussion zeigt es: Kriminalpolitik als Teil staatlicher Ordnungspolitik bekommt neue – zeitgemäße – Aufgaben und Funktionen. Derzeit werden die Karten gemischt: Nicht mehr nur Strafe allein im abgeschlossenen Strafsystem hinter hohen Gefängnismauern ist angesagt, sondern ebenso gezielte Reaktionen durch ein breites Sanktionssystem. Deutlicher: Auf der einen Seite Ausgrenzung, Isolation, Übelzufuhr, auf der anderen Seite »sanfte« Kontrolle, Hilfe, Integration. Um diese Doppelstrategie strafrechtlicher Sozialkontrolle soll es hier gehen(4). Bevor ich auf dieses »duale System« näher eingehen werde, sind einige Zahlen und Entwicklungen anzuführen, die sich auf die Kriminalitätsentwicklung hierzulande und die daraus resultierenden Reaktionen des Strafverfolgungssystems beziehen.

Tendenz: Langstrafen
Oder: der »harte Kern« wird wegge­schlossen

Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik registrierte im Jahre 1980 rund 3,8 Millionen Straftaten (ohne Straßenverkehrs- und Staatsschutzdelikte) und 1,4 Millionen Tatverdächtige. Von 1 000 bei der Polizei erfassten Tatverdächtigen kamen nur 25 letztlich in den Strafvollzug. Anders: Nur 2,5% aller Tatverdächtigen verbüßen eine Gefängnisstrafe. Der Rest wird von den dazwischenliegenden Schaltstellen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts wieder herausgenommen. Doch trotz starken Wachstums bei der Geldstrafe, der Ausweitung der Bewährungsstrafe oder der Erziehungsmaßregeln bei Jugendlichen (JGG): die Strafanstalten hierzulande sind überfüllt. In einzelnen Bundesländern (z.B. Berlin) gibt es sog. »Vollzugsstaus«, weil zur Haftstrafe Verurteilte ihre Strafe mangels Haftraum nicht antreten können.

Was verbirgt sich hinter dieser Überbelegung? Ist in der Bundesrepublik das kriminelle Chaos ausgebrochen? Hat sich die Kriminalitätsentwicklung dramatisch zugespitzt? Oder aber wird hierzulande die Zahl jener Richter, die an resozialisierende Wirkung des Strafvollzugs glauben, wieder größer?

Ersteres hat wenig mit den tatsächlichen Entwicklungen zu tun, letzteres schon mehr. Ich werde darauf noch einmal eingehen.

Bei genauerem Vergleich der Kriminalitätsstatistik wird ersichtlich, daß man von einer dramatischen Kriminalitätsentwicklung nicht sprechen kann, allenfalls gibt es quantitative Deliktverschiebungen.

Tatsache ist, daß die Kriminalitätsentwicklung sich keineswegs in Mehrbelastung des Strafvollzugs niederschlagen muß. Ein Blick auf die Zahlen von 1971 mit anschließendem Vergleich der Zahlen von 1981 löst Erstaunen aus: Die Zahl der Strafantritte ist in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen. 1971 waren es 60112, im Jahr 1981 nunmehr 54012. Dennoch stieg während dieser Zeit die Zahl der Strafgefangenen: von 33 015 (1971) auf 42 575 (1981). Obwohl weniger Strafantritte erfolgten, haben wir heute die Situation völlig ausgelasteter und überfüllter Strafanstaltens.

Wo also liegt die Erklärung der steigenden Belegung bei sinkenden Einweisungszahlen? Die oft genannten U-Haft-Einweisungen sind hier keineswegs ausschlaggebend. Auch hier zeigen Verleiche, daß die U-Haft-Verhängungen sich nur unwesentlich erhöht haben. Was bleibt ist die erhöhte Haftdauer. Die verhängten Freiheitsstrafen sind deutlich länger geworden, haben so stark zugelegt, daß selbst die Zunahme der 2/3-Entlassungen von 24% (1970) auf fast 30% (1980) den Belegungszuwachs nicht bremsen konnte. Die Auswirkungen der längeren Strafen: größerer Platzbedarf, der Haftraum wird blockiert, geringer »Umlauf«. Dies führt zur Überbelegung.

Auch nach dem Bau zusätzlicher Hafträume wird diese Entwicklung nicht ihr Ende finden: die Langstrafentendenz wird nicht durch Ausbau neuer Gefängnisse zurückgedrängt (es gibt sogar Hinweise darauf, daß sich die Situation durch einen sog. »Sog-Effekt« noch verschärft nach dem Motto: »Jetzt ist ja Haftraum vorhanden, jetzt belegen wir ihn auch…«); nein, diese Tendenz muß im Richterverhalten korrigiert werden! Denn die Zahlen machen deutlich: Zwar sinkt die Chance, als Verurteilter eingesperrt zu werden; wen die Freiheitsstrafe aber trifft, den trifft sie mit wachsender Intensität. Oder: Die Richter hierzulande verurteilen weniger Personen zur Freiheitsstrafe, in den übrigen Fällen dagegen wird das Strafmaß erhöht. Die Kontrolle für einen offenbar als besonders bedrohend gedeuteten »harten Kern« der Kriminalität wird verschärft.

Ein Arm des »dualen Strafsystems« findet seine Funktion als Wegschließinstrument.

Davon betroffen sind: vor allem chronische Wiederholungstäter, Drogen- und politisch motivierte Täter: All jene Straftäter, bei denen weder die Therapie-Orientierung, die Behandlungsideologie, noch das breite Spektrum ambulanter Sanktionen anwendbar scheint. Die Funktionalisierung der Gefängnisse als Wegschließinstrument, das, was die Amerikaner »Einkerkerung« nennen, war ja in der Bundesrepublik schon vor Jahren begonnen worden: Angeklagte und Verurteilte der Bewegungen »2. Juni« und »Rote Armee Fraktion« wurden, teilweise mit sprichwörtlich tödlicher Sicherheit, weggesperrt. Mit dem Bau von Hochsicherheitstrakten und Spezialstationen wurde nicht nur der erste Bauboom eingeleitet, sondern es entstand schon damals nachhaltig der Eindruck, daß der Strafvollzug als Instrument zur Herstellung von Sicherheit für die Gesellschaft eine dauerhafte Funktion behalten wird.

Tendenz: ambulante Alter­na­tiven
Oder: die »sanfte Kontrolle«

Zum zweiten Arm der Doppelstrategie – oder zur anderen Seite der kriminalpolitischen Medaille: zu den ambulanten Alternativen.

Die »Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante Maßnahmen nach dem Jugendrecht« hat 1983 eine Broschüre herausgegeben, in der 44 bundesweit verteilte Praxismodelle sich vorstellen(6). Alle diese Projekte bieten ihre sozialpädagogischen Dienstleistungen dem Jugendstaatsanwalt und dem Jugendrichter an, mit dem Ziel, weitere Eskalationen im Strafverfahren zu vermeiden (Einstellung, Erziehungsmaßregeln etc.). Vor allem aber soll die härteste aller Sanktion, die Freiheitsstrafe, vermieden werden. Das bedeutet die Eröffnung neuer, weniger justiznaher sozialpädagogischer Angebote außerhalb der etablierten Strafinstitutionen. »Diversions-Projekte« und »Ambulante Alternativen« wollen weniger Schaden stiften und zugleich wirksamer sein: vor allem für die betroffenen Jugendlichen. Weniger Kontrolle, geringere Stigmatisierung und mehr In-tegrationshilfe – so die übereinstimmende programmatische Aussage.

Die staatliche Förderung, dieser zumeist auf Vereinsbasis organisierten Modelle, ist bislang eher dünn. In aller Regel finanzieren sie sich über zugeführte Geldbußen der Gerichte, Spenden sowie Tagessätze (Wohngruppen etc.) des Landeswohlfahrtsverbandes oder ähnlicher Träger.

Wenngleich derzeit 90% aller Gelder in den Strafvollzug investiert werden und der ambulante Bereich eine nur dürftige Finanzausstattung erhält, ist nicht übersehbar, daß zunehmendes staatliches Interesse am Ausbau ambulanter Maßnahmen hier Änderungen bringen wird. Die Finanzierung und justizpolitische Unterstützung von Modellprojekten in einzelnen Bundesländern (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen) sind dafür Indikatoren. Hier deutet sich an, daß in den Justizministerien im Rahmen der geplanten Doppelstrategie der Übergang vom Modellprojekt zur kriminalrechtlichen Institution vorangetrieben wird. Darauf deutet auch die Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes hin, an dem das Bundesjustizministerium derzeit arbeitet und das vor allem den ambulanten Alternativen eine rechtliche Verbesserung ihres Status garantieren soll‘. Auch im Bereich des allgemeinen Strafrechts werden die ambulanten Maßnahmen ausgebaut. So gibt es in zahlreichen Bundesländern Ersatzfreiheitsstrafen-Programme, die säumigen Geldstrafenschuldnern unentgeltliche, gemeinnützige Arbeiten als Tilgung ihrer Schuld anbieten. So gibt es weiterhin Schulungskurse für Alkoholverkehrsstraftäter sowie eine Reihe im Bereich der Drogentherapie angebotene Projekte. Sie alle verfeinern den Filter beim Eingang in die Gefängnisse, tragen dazu bei, im Wege der Aussetzung von Jugend-Freiheitsstrafe oder Maßregeln abzuweichen.

Nicht nur das in der Öffentlichkeit dank rühriger PR-Arbeit bekannte »Brücke«-Modell, das in verschiedenen Städten hierzulande die Betreuungs- und Arbeitsanweisungen oder Wiedergutmachungsauflagen Jugendlicher organisiert, sondern auch ein erheblicher Teil weiterer ambulanter Projekte haben längst die Entwicklungsphase lokaler Experimente hinter sich. Die Perspektive ist klar: In den kommenden Jahren wird all diesen Projekten eine zunehmende rechtliche Absicherung, verknüpft mit verstärkter finanzieller staatlicher Unterstützung, beschieden sein. Eine Vernetzung der ambulanten Alternativen mit den noch im Diskussionsstadium befindlichen »Sozialen Diensten der Justiz« wird dabei angestrebt. Unverkennbar ist, daß hier ein neuer Zweig staatlicher strafrechtlicher Kontrolle entsteht: Neben der Wegschließ- und Ausgrenzungsfunktion, ein weitverzweigtes System der sanften Sanktion und Kontrolle. Hier sollen die einzelnen Modelle nicht im Detail der Kritik unterzogen werden, hierzu gibt es bereits eine Fülle von Literatur(8) – vielmehr sollen einige grundlegende Einwände gegen den Ausbau ambulanter Alternativen formuliert werden:

  • Die ambulante Kriminalpolitik ist nicht Ersatz für Strafjustiz und Strafvollzug, sondern dient deren Entlastung und Ergänzung. Nirgendwo wurde und wird nachweislich durch den Ausbau alternativer Projekte ein Gefängnistrakt geschlossen. Im Gegenteil: Die ambulanten Maßnahmen dienen geradezu der Beschaffung freier Haftplätze. Jeder Platz, der von einem »ambulanten Klienten« geräumt wird, wird sofort anderweitig belegt. Dabei handelt es sich um Straftäter, die unter die Rubrik »Wegschließen« fallen und eine längere Strafe verbüßen müssen. Vordergründig ist das »Einsparen von Hafttagen« das Motiv für die Unterstützung, mit denen ambulante Alternativen von Seiten des Justizministeriums rechnen können. Doch dahinter steckt »letztlich die Umverteilung und Verbesserung der Zielgenauigkeit von Sanktionen«(9).
  • Auch die Vorfeldorientierung (Stichwort: Frühhilfe) ambulanter Maßnahmen ist nicht unproblematisch. Einige Projekte sind bereits jetzt im Bereich der Bagatellkriminalität angesiedelt. Strafrechtliche Minimalanlässe werden zur Legitimation staatlicher Eingriffe benutzt, die häufig mit pädagogischen oder gar psychologischen Reaktionen einhergehen. Mag auch im Einzelfall ein intensives Hilfsangebot sinnvoll und notwendig sein (vor allem dann, wenn z.B. bei Jugendlichen hinter dem Bagatell-Delikt eine tatsächliche soziale Notsituation sichtbar wird), in aller Regel jedoch sollte die Bearbeitung dieser strafrechtlichen Minimalanlässe materiellrechtlich geklärt werden. Statt auf Ladendiebstahl-Täter, Schwarzfahrer etc. mit sog. »Erziehungsprogrammen« zu reagieren, muß die Forderung lauten: Ent-Kriminalisierung!
Perspek­tive: Verfeinerte Doppel­stra­tegie
Oder: akzeptabler krimi­nal­po­li­ti­scher Schritt?

Sind also ambulante Maßnahmen gänzlich abzulehnen? Es ist die alte Frage nach dem Unterschied von verändernder oder nur bestätigender politischer Arbeit, von »positiven« oder »negativen Reformen«, wie Mathiesen(10) es nennt, die Frage nach der Möglichkeit einer »aufhebenden Strategie«. Unter positiven Reformen sind all jene Veränderungen zu verstehen, die lediglich der Verbesserung und Verfeinerung der Herrschaft dienen. Unter negativen Reformen, »aufhebenden« (abolitionistischen) Ansätzen sind Veränderungen zu verstehen, »die größere oder kleinere Teile abschaffen, von denen das Gesamtsystem mehr oder weniger abhängig ist«, ohne daß hierfür als Ersatz verbesserte, effektivere Methoden treten. Wobei die Problematik gerade darin liegt, daß eine derartig eindeutige und festlegende Zuordnung – wie sie auch in dem klassischen Begriffspaar »Revolution oder Reform« getroffen wird – kaum möglich ist, daß die Übergänge sehr fein sein können, daß eine »negative Reform« morgen schon das Vehikel für die Effizienzverbesserung der Kontrolle sein kann. Auch Vertreter einer abolitionistischen Kriminalpolitik haben es in der Einschätzung und Auseinandersetzung ambulanter Praxisprojekte oft schwer, die subtiler gewordene Ordnungsfunktion und Sozialkontrolle zu begründen.

Zurück zur Ausgangsfrage: Sind ambulante Alternativen gänzlich abzulehnen – oder erweitert: Können diese Projekte bei aller Kritik im Detail nicht ein akzeptabler Schritt auf dem Weg einer abolitionistischen Kriminalpolitik sein?

Meine Antwort: So wie sie sich in der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion darstellen — Nein! Derzeit verlieren sie ihre kriminalpolitische Glaubwürdigkeit gegenüber ihren Umverteilungsabsichten, zumal dann, wenn die politische Bekämpfung der zu ersetzenden Verfahrenswege und Sanktionsformen, wie meistens, nicht zum politischen Programm der Projekte zählt. Wollen ambulante Projekte wirklich zu Alternativen werden, so dürfen sie nicht länger die Rückseite der Medaille »Strafsystem« sein, auf deren Vorderseite noch immer unübersehbar das Gefängnis graviert ist. Wollen sich ambulante Projekte wirklich an der realen Daseinslage straffällig gewordener Menschen orientieren und zur Lebensverbesserung oder -stabilisierung beitragen, wollen sie einen Beitrag zur Zurückdrängung staatlicher Eingriffe und Ordnungspolitik leisten, dann darf von einigen Grundsätzen nicht abgewichen werden:

  • Der Ausbau ambulanter Projekte darf nicht zur Ausweitung und Verfestigung des Netzes sozialer Kontrolle führen.
  • Ambulante Projekte dürfen nicht Teil der geschilderten Doppelstrategie sein, sondern Konkurrenz.
  • Die Arbeit ambulanter Projekte hat sich vorrangig an den Lebenslagen der Betroffenen zu orientieren:

– Soziale Hilfen im Bereich Arbeit, Wohnen,  Lebensunterhalt;
– Sozialberatung:
– Rechtsberatung;
– Stärkung im Verfahren;
– Vermeidung bzw. Verkürzung der Haft.

  • Ambulante Projekte müssen sich außerstaatlich organisieren (der niederländische Allgemeine Reclassierungsverein und der österreichische Verein für Bewährungshilfe und soziale Arbeit können hierfür ein Modell sein).
  • Eine Organisation ambulanter Straffälligenhilfe muß die politische Bekämpfung der zu ersetzenden Verfahrenswege und Sanktionsformen aktuell und andauernd zu ihrem Programm machen. Beispiele:

– Strafrahmen müssen gesenkt werden;
– Strafaussetzungsmöglichkeiten verbessert werden;
– die hohen Mindeststrafen beseitigt werden;
– die Rückfallverschärfung muß verschwinden;
– Delikte müssen entkriminalisiert werden.

Können sich diese Grundsätze durchsetzen, so können ambulante Alternativen ein akzeptabler Beitrag einer auf tatsächlicher Veränderung zielenden Kriminalpolitik sein. In diesem Bereich könnte die gesamte praktische Sozialarbeit auch wieder Selbstbewußtsein und Autonomie gewinnen. Freilich wäre Voraussetzung dazu eine selbstkritische Auseinandersetzung mit ihrer bisherigen Praxis und ein neues Handlungsverständnis innerhalb einer »Strategie der Veränderung«.

In der aktuellen kriminalpolitischen Auseinandersetzung sollten die hier nur skizzierten Einwände, Gefahren und Grundsätze in die Diskussion gebracht werden, sonst wird eine Chance vertan, daß ambulante Alternativen tatsächlich nichts anderes bleiben als die Begleitmusik des Strafvollzugssystems.

Verweise

1 Vgl. hierzu die Beiträge zum Hearing im Hessischen Landtag über die Situation im Strafvollzug, in: Stenogr. Niederschrift, Drucksache Nr. 11/1443, Hessischer Landtag, Wiesbaden 1984
2 Vgl. hierzu den Beitrag von Bernd Maelicke: Auf Anstaltsneubauten sollte weitgehend verzichtet werden, in: »Frankfurter Rundschau«, Dokumentations-Seite vom 22.10.1984
3 Siehe hierzu Statistisches Material in: Dünkel, F. /Spiess, G.: Alternativen zür Freiheitsstrafe, Band 14, Kriminologische Forschungsberichte des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg, Freiburg i.Br. 1983
4 Vgl, Michael Vof3: Über das keineswegs zufällige Zusammentreffen von Gefängnisneubauten und der Errichtung ambulanter Alternativen, in: Kerner (Hrsg.): Diversion statt Strafe?, Heidelberg 1983
5 Vgl. die Broschüre »Soziale Dienste — Neue Kriminalpolizei und alternative Strafinstitution?«, Schriftenreihe der Initiative für eine bessere Kriminalpolitik, Nr. 3, Darmstadt 1983
6 Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante Maßnahmen nach dem Jugendrecht (Hrsg.): »Ambulante sozialpädagogische Maßnahmen für junge Straffällige«, Schriftenreihe des DVJJ, Heft 14, 1982
7 Vgl. den Referentenentwurf: Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vom 18.11.1983
8 Vgl. die Aufsatzsammlung von Kerner, H. J. (Hrsg.): Diversion statt Strafe, Heidelberg 1983 sowie Pomper, G. / Walter, M.: Ambulante Behandlung jugendlicher Straffälliger, Vechta 1980
9 Vgl. den Aufsatz von Michael Vo,ß: Tendenzen strafrechtlicher Kontrolle, in: Kriminalpädagogische Praxis Heft 18, Vechta 1984, in dem er den Doppelcharakter strafrechtlicher Sanktion beschreibt.
10 Vgl. Thomas Mathiesen: »Überwindet die Mauern«, Neuwied 1979

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