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Presse­er­klä­rung zum Gefäng­nis-­Neubau in Weiterstadt / Hessen

Dokumentation

aus: vorgänge Nr. 79 (Heft 1/1986), S.136

Nach ca. fünfjähriger Planung wurde vor kurzem mit der ersten Baustufe der JVA Weiterstadt begonnen. Gegenwärtig wird das Fundament für die Mauer gebaut, die 1 300 m lang sein und ein Areal von 100.000 qm umschließen wird. Dahinter sollen 570 Haftplätze (in dieser Legislaturperiode 243) und ein Gefängniskrankenhaus entstehen. Damit sind für Jahrzehnte die Weichen in der hessischen Kriminalpolitik gestellt; die Chance zu einer Neuorientierung wurde vertan. Die Ergebnisse der Landtagsanhörung im vorigen Jahr, bei der sich die Sachverständigen mit vielfältigen Argumenten fast einstimmig gegen Gefängnisneubauten ausgesprochen haben, wurden völlig ignoriert.

Dieses Gefängnis ist ein Projekt im Rahmen des hessischen Gefängnis-Bau-Programms, das zwischen SPD und GRÜNEN lange umstritten war. Obwohl die GRÜNEN im Rahmen der Koalitionsverhandlungen ursprünglich auch Anti-Repressions-Politik durchsetzen wollten, hat das hessische Justizministerium nach den Koalitionsvereinbarungen einen Freibrief, um in dieser Legislaturperiode ohne Abstriche alle geplanten Baumaßnahmen durchzuführen.

Wir, die als kritische Praktiker in der Straffälligenhilfe und kriminalpolitisch Engagierte seit Jahren die GRÜNEN in ihrer Arbeit gegen die Gefängnisneubauten unterstützt haben, müssen nun feststellen, daß entgegen aller Vernunft in Weiterstadt ein Gefängnis gebaut wird. Selbst sinkende Gefangenenzahlen konnten daran nichts ändern.

Die GRÜNEN versuchen nun, ein mit der SPD vereinbartes Reformkonzept als Erfolg zu verkaufen. Diese angebliche Reform besteht aus: Einer neuen Architektur, dem Verzicht auf Spione in den Zellentüren, einem Schwimmbad und der Einrichtung von Wohngruppenvollzug mit der Ausgabe von Zellenschlüsseln an die Gefangenen. Dieses Reformkonzept genügt jedoch allenfalls den Ansprüchen des 19. Jahrhundert:

1. Das Gefängnis in Weiterstadt wird eine hochgesicherte, geschlossene Untersuchungshaftanstalt. Die Mauer soll 6,5 m hoch und mit 4 Wachtürmen bestückt werden. Die Überbelegung, die nur noch in der Strafhaft besteht, wird damit durch die Vermehrung geschlossener Plätze abgebaut, obwohl die SPD bisher das Konzept vertreten hat den Anteil des offenen Vollzugs in der Stafvollzugspolitik stärker zu gewichten.

2. Es handelt sich hier um ein Großprojekt, wie es von der gesamten Strafvollzugswissenschaft einhellig abgelehnt wird. Auch die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen hat in ihrem Entwurf für ein Untersuchungshaft-Vollzugsgesetz die Belegungshöchstgrenze auf 200 Haftplätze festgelegt.

3. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß der Neubau als Ersatz für bestehende Anstalten zu sehen ist, halten wir dies für den falschen Weg. Ein Reformkonzept müßte die Verminderung von Haftplätzen auf den Stand der anderen europäischen Länder vorsehen, die – abgesehen von der Türkei und Österreich – alle weniger Gefangene haben.

Die Verantwortlichen in Parlament und Justizverwaltung kennen diese Argumente spätestens seit ihrer Informationsreise nach Skandinavien. Leider waren sie nicht bereit, daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen.

Der »Fall Weiterstadt« zeigt nach unserer Auffassung deutlich die Grenzen der von GRÜNEN mitgestalteten Politik: Die gut organisierten und mehrheitsfähigen Interessen wurden vertreten, die Interessen von Minderheiten, wie z.B. das Interesse an der Verhinderung von Gefängnissen hatten keine Durchsetzungschance.
Die GRÜNEN haben sich die Beteiligung an der Macht mit ihrer Zustimmung zu mehr Repression erkauft. Somit zeigt der »Fall Weiterstadt« exemplarisch, in welche Sackgassen bloße parlamentarische Fixierungen führen. Die außerparlamentarische, konkret an den Interessen von Betroffenen orientierte Arbeit ist deshalb notwendiger denn je.

Weiterstadt, 23. November 1985

Landesarbeitsgemeinschaft der freien Initiativen/Gruppen in der Straffälligenarbeit / Hessen

Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Initiativen/Gruppen in der Straffälligenarbeit

Arbeitskreis Kritischer Strafvollzug (AKS), Darmstadt
Die GRÜNEN / Weiterstadt

Initiative für eine bessere Kriminalpolitik (IbK), Hessen

Komitee für Grundrechte und Demokratie / Geschf. Vorstand

Alternative Liste Weiterstadt (ALW)

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