Politische Theorie der Geschichte vorläufig am Ende?
Kommentar
aus: vorgänge Nr. 79 (Heft 1/1986), S.1-9
Die Kontinuität der bürgerlichen Gesellschaft von Hegel erstmals auf ihren philosophischen und systematischen Begriff gebracht, bleibt trotz aller Krisen der kapitalistischen Ökonomie, trotz Bedrohung durch den selbst verschuldeten atomaren Genozid und trotz der wachsenden Isolierung der bürgerlichen Wohlstandsinsel in dem Meer des Massenelends der Dritten Welt ungebrochen.
Die bürgerliche Gesellschaft, als kapitalistische Struktur der Warenproduktion in einem langen Zersetzungsprozess gegen die zerfallenden feudalen Systeme Mitteleuropas durchgesetzt, hat sich in ihrer Philosophischen Ideologie seit der frühen Aufklärung selbst nicht als die Durchsetzung eines bloß partiellen ökonomischen Interesses gegen alte Herrschaft, sondern als einen Schritt in die Richtung grundsätzlicher gattungsgeschichtlicher Emanzipation des Menschen definiert. Die normativen Ansprüche der bürgerlichen Revolution, politisch in der Triade Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit, philosophisch in den großen Systemen der idealistischen Transzendentalphilosophie ausformuliert, definieren in abstrakter Weise einen normativen Horizont, den auch zweihundert Jahre später keine neue soziale Bewegung zu überschreiten vermochte. Die in der bürgerlichen Aufklärung formulierten Wertmaßstäbe für die gesellschaftliche und gattungsgeschichtliche Emanzipation wurden zur Ideologie nicht aufgrund ihres in wertmäßiger oder erkenntnismäßiger Hinsicht eingeschränkten Charakters, sondern aufgrund ihrer unvollkommenen Realisierung in der bürgerlichen Gesellschaft. Daß diese unvollkommen bleiben musste (und muss) ist freilich nicht dem politischen und historischen Unvermögen des bürgerlichen Kollektivsubjekts geschuldet, sondern resultiert aus der komplizierten, aber in der »Kritik der Politischen Ökonomie« von Marx im wesentlichen entschleierten widersprüchlichen Totalität der kapitalistischen Reproduktion, in der trotz des notwendigen Scheins gesellschaftlicher Allgemeingeltung der aufklärerischen Normen zugleich die immer bloß partielle Verwirklichung entlang von Klassenschranken realisiert wird.
Mit der Aufspaltung der gesellschaftlichen Totalität in »bürgerliche Gesellschaft« und »Staat/zivile Gesellschaft« reflektiert das Hegelsche System diesen Widerspruch zwischen allgemein gattungsgeschichtlichem Emanzipationsanspruch und formationsspezifischer, herrschaftlicher Realisierung. Während in der bürgerlichen Gesellschaft, dem, wie Hegel sagt, »System der Bedürfnisse«, die Realisierung der aufklärerischen Wertnormen an das »freie Spiel der Kräfte« kapitalistischer Konkurrenzvergesellschaftung und Warenproduktion verwiesen wird, bleibt die Realisierung allgemein menschlicher, gattungsgeschichtlicher Vernunft allein realisiert für den als »Wirklichkeit der sittlichen Idee« hypostasierten Staat. In der widersprüchlichen Totalität des Hegelschen philosophischen Systems, in der Totalität des Widerspruchs, der sich durch dessen ganze Konstruktion zieht, findet eine politische Theorie der Geschichte und der geschichtlichen Bewegung ihren vorläufigen Abschluß und Höhepunkt, mit der das aufstrebende Bürgertum sich gegenüber den theokratischen Weltbildern des frühen und späten Mittelalters seinen eigenen Herrschaftsanspruch rechtfertigte – diesen in charakteristischer Weise nicht als partiellen Anspruch einer Klasse, sondern als allgemein-menschlichen Gattungsanspruch ausformulierend.
Dieser Endpunkt der bürgerlichen politischen Theorie der Geschichte wird logisch und historisch offenkundig, indem Marx, über die ersten Studien der Linkshegelianer hinausgehend, in der »Kritik der politischen Ökonomie« die Konstitutionsnotwendigkeiten der politischen Theorie der Geschichte des Bürgertums aus den Strukturen der Warenproduktion und des Warentausches herleitet. Aufgedeckt wird dabei unwiderruflich der klassenmäßige, bloß partielle Charakter des bürgerlichen Interesses, das sich historisch als allgemeine Vernunft gerierte ebenso, wie der aus der Produktion von Waren und ihrem Tausch notwendig erwachsene Schein ihres systemunspezifischen allgemeinen Charakters.
Die materialistisch-dialektisch gewendete Analyse der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsformationen durch Marx muss, eigenen methodologischen Ansprüchen genügend, nunmehr, was Hegel als Inkarnationsgeschichte des »absoluten Geistes« erschien, als geschichts- und gesellschaftsimmanent konstituierte mögliche allgemeine Vernunft interpretieren. Die erkenntnistheoretische Kritik am transzendentalen Idealismus Hegelscher Vernunftphilosophie muss, vom »Kopf auf die Füße gestellt«, die Möglichkeit allgemeiner gesellschaftlicher und historischer Vernunft materialistisch an historische Bedingungen knüpfen, die aus der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, die aus den konkret-historischen Widersprüchen der von ihr realisierten Totalität selbst hervorgehen können.
Bekanntlich hat Marx diesem Anspruch auf mindestens zwei verschiedene Weisen nachzukommen versucht: in einem geschichtsphilosophischen Argumentationsstrang, insofern noch mehr an seinem Vorgänger Hegel angelehnt, begreift Marx die gattungsgeschichtliche Entwicklung »des Menschen« durch die verschiedenen formationsspezifischen Stadien hindurch als einen umfassenden, wohl aufzuhaltenden, aber niemals rückgängig zu machenden gattungsgeschichtlichen Lern- und Bildungsprozeß, in dem »der Mensch« als kollektives Gattungssubjekt sich vermittels »produktiver Lebenstätigkeit« in der Auseinandersetzung mit der Natur historisch so entwickelt, daß, einmal von geschichtlicher Herrschaft befreit, wie sie in verschiedenen Formationen ihren politisch-institutionellen Ausdruck gefunden hat, eine »allseitige Entfaltung seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten« möglich würde.
Neben diesen geschichtsphilosophischen Begründungsstrang tritt das aus der »Kritik der politischen Ökonomie« des Kapitalismus hervorgehende Motiv, nach dem die die »Arbeit« im Kapitalismus repräsentierende Klasse des Proletariats sich würde zum allgemeinen historischen Subjekt der Gattungsgeschichte aufschwingen können. Und zwar einerseits, weil dem Kapitalismus die Logik von Konzentration und Zentralisation als Gesetzmäßigkeit zugrunde liege, nach der schließlich das zunächst nur eine Klasse umfassende Proletariat, das noch anderen Klassen gegenüber steht, durch ständiges Anwachsen die ganze Bevölkerung eines Gesellschaftssystems umfassen würde und, indem zweitens neben diesen quantitativen Effekt der qualitative tritt, nach dem unter Bedingungen der bürgerlichen Warenproduktion allein das Proletariat mit der gattungsgeschichtlich konstitutiven Qualität »produktiver Arbeit« (»Lebenstätigkeit«) verbunden ist und insofern die gattungsgeschichtliche Entfaltung der Menschheit in sich repräsentiert.
Über die politische Theorie der »Frankfurter Schule«, konkreter von Adorno und Horkheimer, kann man nur vor diesem historischen Hintergrund sprechen.
Gemeinhin wird in der Literatur über die »Frankfurter Schule« in den letzten Jahren deren resingnative Abkehr von einer politischen Theorie der Praxis bemerkt. Die Tonlage dieser Kritik bleibt – ausgesprochen oder unausgesprochen – vorwurfsvoll: so, als stünde es im Belieben der einzelnen Protagonisten, ihren theoretischen Überlegungen zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft einen aktivistischen, auf Praxis und Revolution dringenden Anspruch zu geben oder nicht. Dort, wo der Anspruch an politische Theorie an ihre Vermittlung mit Praxis gebunden wird, wird folglich konsequenterweise der »Frankfurter Schule« eine politische Theorie insgesamt bestritten. Sie sei zu bloßer Kulturkritik und Ästhetik verkommen; literarisch bedeutend, aber als bloße Essayistik von aller wirklichen Geschichte getrennt und damit im Wesen dem verwandt, worauf sie doch inhaltlich ihr kritisches Augenmerk vor allem richte: Massenkultur.
Ich möchte in den wenigen Bemerkungen, die hier möglich sind, auf die Missverständnisse einer solchen Kritik aufmerksam machen. Sie liegen zum einen in einem mangelhaften Verständnis des Begriffs von politischer Theorie der Geschichte, wie er über die bürgerliche Aufklärungsliteratur, Hegel und Marx bis hin zur »Frankfurter Schule« grundlegend war und sie liegen zum anderen in einem ungenügenden theoretischen Nachvollzug der radikal zu Ende gedachten Konsequenzen einer materialistisch-dialektischen Bewusstseins- oder Erkenntnistheorie, wie sie vor allem von Adorno ausgearbeitet worden ist.
Materialistisch-dialektische Theorie kann, ihren eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen entsprechend, ihren Ausgang nur von geschichtlicher Erfahrung nehmen. Bewusstsein – als bewusstes Sein von Subjekten in einer objektiven historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit – enthält gegenüber dieser kein transzendentes Moment. Die je subjektive Konstitution des Bewusstseins in der Erfahrung verhindert aber auch, daß diese bloße Widerspiegelung oder Abbildung objektiver Wirklichkeit als »Zustand« umfasst. Dies gerade ist der grundsätzliche Vorwurf gegenüber jeglichem Positivismus, dass er die Inhalte der Erfahrung, das historisch momentane SO-Sein aus der Subjekt-Objekt-Dialektik und Geschichtlichkeit herauslöst. Dann wird nicht mehr begriffen, dass das so seiende Faktum so geworden, dass es kritisiert und dass es verändert werden könnte.
Andererseits widerspricht die materialistische Auffassung vom Subjekt einer bloßen Gegenüberstellung von objektiver Wirklichkeit und unabhängigem, tätigen Subjekt, das diese als Repertoire seiner historischen Handlungsmöglichkeiten vorfindet. Das Subjekt selbst, auch das als tätiges Bewusstsein sich begreifende Theoriesubjekt, ist als »Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse« in die objektiven Voraussetzungen und Bedingungen geschichtlicher Wirklichkeit integriert. Es kann sich aus diesem Vermittlungszusammenhang nicht dezisionistisch herauslösen: Als möglicher Schöpfer seiner zukünftigen gesellschaftlichen Wirklichkeit steht der Mensch nicht nur der geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber, sondern seine eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten als Subjekt bleiben historisch ans Bestehende gebunden und erwachsen aus diesem. Die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeit liegen also nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb seiner Selbst.
Damit ist keinem Determinismus das Wort geredet, denn die Widersprüchlichkeit der geschichtlich entstandenen Totalitat der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet Kontingenzen für gesellschaftliches Handeln. Sich dieser Kontingenz als objektiver Möglichkeiten bewusst zu werden, ist Möglichkeit und Aufgabe der historisch entfalteten Subjektivität, die gerade darin ihre mögliche Freiheit gegenüber der Geschichte findet. Diese Freiheit ist in ihrer Rückbindung an objektive Möglichkeiten nicht einschränkungs- und bedingungslos, aber sie ist im Vollzug der Erkenntnis ihrer objektiven Möglichkeit auch nicht bloße Einsicht in eine vorgebliche historische Notwendigkeit der sie sich nur zu unterwerfen hätte.
Die geschichtliche Erfahrung, bei der die »Frankfurter Schule« – wie andere Strömungen des »Westlichen Marxismus« in den zwanziger Jahren ihren Ausgangspunkt nimmt, geht über den konstitutiven historischen Erfahrungszusammenhang von Marx in seiner Hegelkritik hinaus. Wie dieser die allgemeinen Ansprüche der bürgerlichen aufklärerischen Philosophie als partiellen Herrschaftsanspruch der bürgerlichen Klasse historisch reduziert sah und analysierte, so lebt der nach-marxistische historische Materialismus von der Erfahrung, daß die von Marx vorgestellte Möglichkeit des Proletariats als historisches Kollektivsubjekt, das die allgemeinen gattungsgeschichtlichen Vernunftansprüche in der bürgerlichen Gesellschaft und über diese hinaus zu realisieren in der Lage sei, diesen Anspruch verfehlte. Ohne hier weiter auf die historischen Umstände und diskutierbaren Einschätzungen im einzelnen einzugehen, sei darauf verwiesen, dass das Verkommen des Marxismus in der zweiten Internationale zum bloßen idealistischen Evolutionismus, die politische Niederlage des internationalen Proletariats am Tage des Ausbruchs des 1. Weltkrieges, den es nicht verhindern konnte, sowie die Desillusionierung angesichts des wiederum nur partiellen Herrschaftscharakters der im Namen des Proletariats, aber nicht von diesem errichteten Entwicklungsdiktatur in der Sowjetunion nach 1918 den historischen Erfahrungshintergrund ausmachen, aus dem die Leitidee der Kritischen Theorie erwächst.
Für alle kritischen Marxisten, die sich der leerlaufenden Orthodoxie eines kautskyanischen Marxismus nicht länger beugen wollten, lag spätestens in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts die Frage offen, wie eine politische Theorie der Geschichte als praktische Theorie zu begründen sein sollte, wenn sich das Proletariat der ihm von Marx und dem orthodoxen Marxismus zugeschriebenen Rolle als historisches Kollektivsubjekt nicht fügt.
Alle wesentlichen Ansätze des »westlichen Marxismus« der zwanziger Jahre reagieren auf diese Problemstellung. Die Nichtkonstituierung des Proletariats als historisches Subjekt wird dabei allerdings verschieden theoretisch verarbeitet. Für diese Verschiedenheit ist zum Teil eine unterschiedliche Einschätzung verantwortlich, ob die Nichtkonstituierung des Proletariats zum revolutionären Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft nur momentan und durch besondere historische Umstände bedingt verhindert sei (wie bei Georg Lukács, Antonio Gramsczi und Karl Korsch), oder ob die Möglichkeit zur Konstituierung des Proletariats zum historischen Subjekt, wenn sie denn einmal bestanden hätte, endgültig verspielt sei.
Während die drei genannten Ansätze sich als unterschiedliche Begründungen für die These verstehen lassen, daß nur momentan in der besonderen historischen Situation der bürgerlichen Gesellschaft das Proletariat seine historische Rolle nicht wahrnehme, denkt die »Frankfurter Schule« den »Verlust des historischen Subjekts« in ihren Konsequenzen für eine politische Theorie der Geschichte mit praktischer Absicht spätestens seit Mitte der dreißiger Jahre konsequent zu Ende.
Die erkenntnisleitende Frage lautet: Welche Konsequenzen ergeben sich für eine politische Theorie der Geschichte mit praktischer Absicht, wenn diese Absicht nicht mehr an ein konkretes und soziologisch bestimmbares historisches Subjekt rückgebunden werden kann? Diese Fragestellung ist konsequenter Ausfluss des Festhaltens am materialistisch-dialektischen Konstitutionszusammenhanges der Gesellschaftstheorie.
Der praktische Anspruch auf Veränderung kann für eine solche Theorie nur als zumindest möglicher Anspruch eines zumindest möglichen konkret bestimmbaren historischen Subjekts formuliert werden. Wird die Verbindung zwischen einem solchen benennbaren Subjekt und dem Anspruch auf Veränderung preisgegeben, so fällt materialistisch-dialektische Theorie zurück auf den Stand bloßer idealistischer Transzendentalphilosophie. Die Gefahr eines solchen Rückfalls wird am ehesten im »objektiven Idealismus« von Georg Lukács erkennbar, in dem er an der ldee des proletarischen Subjekts und seines möglichen Klassenbewusstseins wider alle historische und empirische Erfahrung festhält. Das Proletariat tritt damit an die Stelle des transzendentalen Erkenntnissubjekts. Die politischen Konsequenzen liegen auf der Hand; der Theoretiker, bzw. die avantgardistische Partei als Inkarnation des transzendentalen Bewusstseins des Proletariats stehen in dem Dilemma, entweder in »revolutionärem Attentismus« auf die angemessene Bewusstseinsentwicklung des Proletariats zu warten (so die zweite Internationale und Kautsky) oder aber im Vorgriff auf das mögliche Bewusstsein des Proletariats und begründet aus seinem theoretisch zugerechneten transzendentalen Bewusstsein diktatorisch die Geschichte voranzutreiben – in der Hoffnung, das sich mit der Beseitigung der die Bewusstseinsentwicklung des Proletariats hemmenden Sozialisationsfaktoren der bürgerlichen Gesellschaft schließlich das faktische empirische Bewusstsein des Proletariats nachträglich dem ihm zugerechneten Bewusstsein angleichen werde (so im Groben die Lukácsche Rechtfertigung des Leninismus).
Gegen die Einnahme der ersten Position sprach für die »Frankfurter Schule« am Ende der zwanziger Jahre nicht nur die von Marx übernommene und weiterhin als gültig betrachtete radikale Kritik der Entfremdung in einer bürgerlichen Gesellschaft, die die einzelnen Subjekte an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse mit dehumanisierenden Konsequenzen behinderte, sondern auch das aktuell dringliche Problem des heraufziehenden Faschismus als der konsequentesten Form der Realisierung politischer Herrschaft unter kapitalistisch-bürgerlichen Verhältnissen. Angesichts dieser aktuellen Gefahr erwiese sich jeder Attentismus als menschenverachtender Zynismus; so die Kritik von Max Horkheimer an der Haltung der Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik.
Gegen die Einnahme der zweiten Position sprachen für die Frankfurter einerseits die historischen Erfahrungen mit der Diktatur der bolschewistischen Partei nach der Oktober Revolution, die beim besten Willen nicht länger als Verwirklichung der humanistischen Ansprüche des revolutionären Marxismus interpretiert werden konnte, und andererseits auch schon die genannten theoretischen und methodologischen Ansprüche einer materialistisch-dialektischen Begründung einer politischen Theorie der Geschichte, deren emanzipatorische Absichten durch die Abtrennung der politischen Praxis einer Avantgarde von den wirklichen Erfahrungen und dem Bewusstsein des empirischen Proletariats fundamental gefährdet waren.
In der ersten Phase der »Frankfurter Schule« nach der Errichtung des Instituts für Sozialforschung unter dem Direktorat von Max Horkheimer stand daher die wissenschaftliche Erforschung der Frage im Vordergrund, warum die Marxistischen Prognosen über die Entwicklung des Proletariats im Kapitalismus sich als unzutreffend erwiesen hatten. Die Beantwortung dieser Frage wird konsequent im Institutsprogramm auf zwei Ebenen vorangetrieben.
Einerseits versuchen die Studien von Henrik Grossmann und Friedrich Pollock immanent im Rahmen der marxistischen »Kritik der politischen Ökonomie« jene Faktoren zu erklären, die der von Marx im Rahmen seiner Krisentheorie des Kapitalismus behaupteten Zusammenbruchstendenz entgegenwirken. Wie in anderen Theorien dieser Epoche auch (Hilferding, Luxemburg), stehen dabei Monopolbildung und Staatsintervention im Zentrum des Interesses. Bedeutsamer, weil den Rahmen der marxistischen Orthodoxie in den zwanziger Jahren deutlich verlassend, ist die Einbeziehung der Psychologie, genauer der Psychoanalyse, als theoretisches Erklärungsinstrument für die gegebene historische Wirklichkeit. Der Mensch als das »Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse« wird nicht länger nur im Rahmen der »Kritik der politischen Ökonomie« als »Charaktermaske« und Funktionsträger in der kapitalistischen Warenproduktion aufgefasst, sondern die durch die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise gesetzten objektiven Sozialisationsbedingungen, wie sie im Kapitel über den Warenfetisch im »Kapital« von Marx bereits angelegt sind, kommen ins Blickfeld.
Gegen ein ökonomistisches Gesellschaftsbild des orthodoxen Marxismus wird von den Frankfurtern nachdrücklich der objektive Charakter der durch die kapitalistische Produktionsweise gesetzten Sozialisationsbedingungen ins Blickfeld gerückt. Die im orthodoxen Marxismus angelegte Metapher von hardware (Basis) und software (Überbau), die häufig mit einem naturalistischen Missverständnis des Materialismusbegriffes einhergeht, tritt zurück gegenüber einer den objektiv-materiellen Charakter der gesellschaftlichen Beziehungen betonenden Sichtweise. Die durch die kapitalistische Warenproduktion konstituierten gesellschaftlichen Beziehungen und das zu ihnen gehörende notwendig-falsche Bewusstsein (Ideologie) haben danach den gleichen objektiven Charakter, bilden erst insgesamt die gesellschaftliche Totalität, deren materialistisch-dialektische Analyse Ziel der politischen Theorie der Geschichte sein kann.
Dabei entsteht nun allerdings ein fundamentaler Gegensatz zu Marx: Wo diesem seine eigene Theorie und die materialistisch-dialektische Analyse der kapitalistischen Produktionsweise als das mögliche Bewusstsein, als das bewußte Sein des möglichen Subjekts Proletariat erschien und von daher erkenntnislogisch als historisch wahr begründet war, findet die Kritische Theorie der »Frankfurter Schule« außerhalb der Theorie selbst keinen Begründungsanspruch auf historische Wahrheit mehr. Wo die historische Praxis des Proletariats ausbleibt, kann sie auch nicht mehr als Wahrheitsbegründung in der Theorie fungieren. Insofern liegt gerade im konsequenten Festhalten am materialistisch-dialektischen Erkenntnisprogramm die historische Esoterik der Kritischen Theorie begründet.
Dieser Punkt ist angesichts der Vorwürfe über die Abkehr von einer revolutionären Theorie mit praktischer Absicht so wichtig, daß er noch einmal betont wird: Wo der Inhalt der materialistisch-dialektischen Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Beziehungen und des Entwicklungsstandes der kapitalistischen Ökonomie das Fehlen eines historischen Subjekts für die Veränderung der Verhältnisse ergibt, ja mehr noch, dessen Konstituierung gerade aus den objektiven Bedingungen als unmöglich erweist, da bleibt Kritischer Theorie in der Tradition materialistisch-dialektischer Analyse gar nichts anderes übrig, als zumindest zeitweise den praktischen Anspruch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als dispensiert anzusehen.
Freilich führt, wie schon angedeutet, die Erkenntnis, daß der Theorie mit praktischer Absicht das historische Subjekt fehlt, in ein erkenntnistheoretisches Dilemma. Die Perspektive Kritischer Theorie, nämlich die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderung zu analysieren, das über den bloß konstatierenden Positivismus hinausgehende praktische Moment der Kritischen Theorie, verliert mit dem gesellschaftlichen Träger seine materialistische Begründung. Das Festhalten an den Ansprüchen Kritischer Theorie erscheint als willkürliche Dezision des Theoretikers, der sich dabei freilich in die Tradition aus Geschichte der Theorie und aus Geschichte vergangener Hoffnungen von historischen Subjekten gestellt sehen kann. Allein die Berufung auf Tradition ergibt erkenntnislogisch keine Begründung, die gegenüber konkurrierenden Ansprüchen allgemeine Geltung beanspruchen kann. Paradoxerweise tritt gerade nach dem Verlust des historischen Subjekts der Arbeiterklasse, für das man theoretisch Partei ergreifen konnte, im Festhalten am praktischen Anspruch politischer Theorie in der Geschichte ein Moment von Parteilichkeit der Wissenschaft auf, bei dem freilich ganz ungewiss bleibt, wessen Partei in der Zukunft mit einer Kritik des Bestehenden ergriffen werden könnte.
Die erste Phase der »Frankfurter Schule«, die den Verlust des historischen Subjekts Proletariat in einer Art theoretischer Trauerarbeit zu bewältigen und die – mit »Autorität und Familie« sowie der Herausarbeitung einer Theorie des Staatsinterventionsimus – die psychosozialen und politökonomischen Gründe für diesen Verlust zu ermitteln suchte, kann man mit dem programmatischen Aufsatz von Max Horkheimer über die Aufgaben der Kritischen Theorie im Unterschied zur traditionellen Theorie – und damit ist durchaus und vor allem auch der orthodoxe Marxismus gemeint – als beendet ansehen.
Die zweite Phase der »Frankfurter Schule« kulminiert in den in den vierziger Jahren erscheinenden Schriften »Dialektik der Aufklärung«, »Minima Moralia«, »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« und schließlich in dem Adornoschen Spätwerk der »Negativen Dialektik«. Die folgenden Bemerkungen können sich mit dieser zweiten Phase nur ebenso kursorisch befassen, wie mit der ersten. Worum es geht: zu zeigen, dass der angebliche Bruch 1937/38 von den immanenten Voraussetzungen der Kritischen Theorie der »Frankfurter Schule«, wie sie sich in den großen Analysen der ersten Phase entwickelt und entfaltet hat, nicht als solcher erscheinen konnte. Der Übergang von der marxistischen »Kritik der politischen Ökonomie« der bürgerlich-kapitalistischen Formation zur eben diese noch einschließenden »Dialektik der Aufklärung« ergibt sich konsequent als die Realisierung des Versuchs, an den wissenschaftlichen Prämissen materialistisch-dialektischer Analyse der Gattungsgeschichte festzuhalten und den praktischen Anspruch, der aktuell nicht zu realisieren war, wenigstens in der Frage nach den ihn behindernden historisch wirksamen Gesetzmäßigkeiten und Faktoren aufzubewahren.
In der »Dialektik der Aufklärung« wird die Fetischisierung menschlichen Bewußtseins zur instrumentellen Vernunft wie sie Marx in seinen Analysen als bewußtseinsmäßigen Reflex der kapitalistischen Warenproduktion in einer Tauschgesellschaft analysiert hatte, als bloßer Sonderfall einer gattungsgeschichtlichen Entwicklung der instrumentellen Vernunft im Prozeß der Unterwerfung der äußeren und inneren Natur des Menschen unter praktische Zwecke demonstriert. Der in Hegelscher Tradition stehenden Marxsche Emphase der Subjektkonstitution durch naturbearbeitende Lebenstätigkeit, durch Arbeit, stellen Adorno und Horkheimer die gattungsgeschichtlichen »Entwicklungskosten« gegenüber. Die im Prozeß der Bearbeitung der äußeren Natur konstituierte Subjekt-Objekt-Relation ist, was der alltägliche Sprachgebrauch von der »Beherrschung der Natur« eh schon vermittelt, an Herrschaft gebunden. Insofern sich das subjektive Selbst historisch und individuell nach diesen Prämissen stets nur durch Objektivation und Reflexion der eigenen Subjektivität in der objektiven Außenwelt erkennen kann, bleibt die Konstitution des subjektiven Selbst an die Ausübung instrumenteller Vernunft, an Herrschaft gebunden. Diese gattungsgschichtlich orientierte Analyse dementiert nicht die Ergebnisse der »Kritik der politischen Ökonomie«, des Kapitalismus, aber sie stellt die möglichen revolutionären Bedingungen seiner Aufhebung vor ein zusätzliches Problem.
Nicht nur, daß in der aktuellen historischen Situation für dessen Aufhebung das praktische Subjekt fehlt, daß sein zukünftiges Erscheinen immer unwahrscheinlicher geworden ist, sondern, daß auch jedes mögliche Subjekt revolutionärer Praxis eingebunden in den bisherigen gattungsgeschichtlichen Kontext instrumenteller Vernunft bliebe, ist das zu Ende gedachte Ergebnis einer schonungslosen materialistisch-dialektischen Analyse der bisherigen Geschichte.
Noch einmal das Ergebnis formelhaft und kürzer: indem die gattungsgeschichtliche Konstitution der Subjektivität nicht nur durch die Trennung von der Natur, sondern durch die instrumentelle Unterwerfung der Natur unter die Zwecke des sich von ihr emanzipierenden Bewußtseins die Voraussetzung der Konstituierung des Selbst war, führt im Umkehrschluß die Analyse der Bedingungen einer möglichen Aufhebung von Herrschaft zu dem Ergebnis, daß mit dem Verschwinden von Herrschaft auch ihr anderes Gesicht, die Subjektivität, verschwände.
Die Utopie von der Herrschaftsfreiheit, orientierende Perspektive aller materialistisch-dialektischen Geschichtsphilosophie in der Geschichte, kann aus der Sicht eines historischen Subjekts, das über die Entfaltung instrumenteller Vernunft und die Unterwerfung der äußeren wie der inneren Natur konstituiert war, nicht länger gedacht werden. An dessen Stelle treten freilich opake Metaphern: Wo früher die Orientierung des Materialismus auf das ganz handfeste »Glück« des Menschen, die allseitige Befriedigung seiner Bedürfnisse und allseitige Entfaltung seiner Fähigkeiten gerichtet war, da evoziert der Begriff von »Versöhnung« nicht ohne Zufall heilsgeschichtliche Assoziationen.
Die »Versöhnung« des Menschen mit der Natur, insbesondere auch mit der inneren Natur, kann nicht auf der Basis von instrumenteller Vernunftphilosophie gedacht werden. Insofern deren Subjekt-Objekt-Dialektik bei aller dialektischen Vermittlung stets doch vom Vernunftstandpunkt des Subjekts her gedacht bleibt, insofern noch in der Vermittlung das Selbst sich des Objekts als eines »Anderen« bemächtigt, bleibt diese Dialektik auch als vermittelte Beziehung stets uneingelöst. Der Terminus »Versöhnung« evoziert eine in der Subjekt-Objekt-Vernunft-Relation nicht mehr zu formulierende Synthesis. Hieraus ergibt sich das oft zitierte quasi-religiöse Moment in der zweiten Phase der Kritischen Theorie, dessen erkenntnistheoretische Funktion freilich darauf beschränkt bleibt, die nach wie vor möglichen und realisierten materialistisch-dialektischen Analysen gegenwärtiger Vergesellschaftung quasi-transzendental abzusichern. Was als transzendentale oder gar materialistische Begründung einer politischen Theorie der Geschichte mit praktischer Absicht ganz ungenügend erscheint, freilich nach dem konkreten Inhalt der materialistisch-dialektischen Gegenwartsanalyse der »Frankfurter Schule« auch gar nicht anders erscheinen kann, das reicht in seiner vagbleibenden Orientierung für die erkenntnislogische Fundierung kritischer Gegenwartsanalyse, die sich gegenüber dem Wesen der erscheinenden Wirklichkeit spätkapitalistischer Vergesellschaftung grundsätzlich negativ verhält, noch aus. Damit ist auch die Begründungsfigur für den im Spätwerk von Adorno entwickelten Topos von »Negativer Dialektik« gegeben: Angesichts des Fehlens eines historischen Subjekts und angesichts der sich daraus ergebenden Unmöglichkeit materialistisch-dialektischer Theorie über den bestehenden Zustand anders denn in quasi-religiösen Topoi wie »Versöhnung« hinaus zu denken, bleibt die praktische wie theoretische Negation der Negation aus, der Positivierung der doppelten Negation entspricht kein konkreter historischer Inhalt und keine bewußtseinsmäßige theoretische Denkmöglichkeit: Subjekt-Objekt-Dialektik tritt historisch, bestenfalls als Negation der bestehenden Verhältnisse, auf der Stelle.
Um es radikal zu vereinfachen: daß es also nicht länger eine revolutionäre Theorie der Geschichte mit praktischer Absicht gibt, ist nicht der Theorie, sondern der historischen Entwicklung des Augenblicks geschuldet. Theorie, als gesellschaftliches Bewußtsein, als bewußtes Sein in der Gesellschaft reflektiert diesen historischen Epochenaugenblick nur. Insofern dieses gesellschaftliche Bewußtsein als Kritische Theorie »vergangene Zukünfte« das heißt, erinnerte, aber nicht mehr mögliche Zukünfte gegenüber einer bereits vergangenen Vergangenheit, vergangene Zukünfte, deren Unmöglichkeit durch die bestehende Wirklichkeit bereits erwiesen ist, erinnert, wird Kritische Theorie selbst zum Verweser eines zukünftig möglichen historischen Subjekts, über dessen konkret soziologische Bestimmung wir keine Anhaltspunkte besitzen, über dessen Erscheinen in der Zukunft wir nicht gewiss sein können. Deshalb korrespondiert der materialistisch-dialektischen Analyse bestehender gesellschaftlicher Totalität, wird sie radikal zu Ende gedacht, neben dem quasi-transzendentalen Begründungspunkt von »Versöhnung« auch, wie Horkheimer einmal feststellte, »Hoffnung« als individuelle Haltung.
Anhang
Es handelt sich um meinen Vortrag in Palermo im März 1983, nachträglich niedergeschrieben in Erinnerung an Momente des Glücks, die ich zusammen mit Margherita C. und Gerd v.d.M. in Solunth, hoch über dem Meer, bei warmem Brot und salzigem Provolone verbrachte: mit dem Gesicht im meereskühlen Nord-West-Wind Europas, im Herzen die Sehnsucht nach dem nahen tausendgerüchigen Afrika – mit dem Hintern aber auf der frühlingssonnenwarmen Erde Siziliens; genau dort, wo vor vielen Tagen ein brandschatzender römischer Legionär aus Macedonien dem auf dem Monte Catalfano siedelnden Katharger die Tochter entriß, deren Nachkommen drunten in Sant‘ Elia noch heute leben. War es die Bäckerin, die uns das warme Brot verkaufte oder jener Fischer, der aufrecht im Heck seines Bootes stehend, die Pinne zwischen den wiegenden Knien, aus dem Hafen lief, die mich daran erinnerten?
Ich habe, der Form des ursprünglichen Vortrags entsprechend, auf einzelne Literaturhinweise verzichtet. Wichtig, neben den entsprechenden Grundtexten von Hegel, Marx und der »Frankfurter Schule« sind heute die Gesamtdarstellungen von M. Jay, Dialektische Phantasie: Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt 1978; H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung: Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt 1978; A. Söllner, Geschichte und Herrschaft: Studien zur materialistischen Sozialwissenschaft 1929-1942, Frankfurt 1979.
Die Diskussion über die Kritische Theorie spitzt sich in letzter Zeit darauf zu, entweder bei aller historischen Bedeutung ihre aktuelle Relevanz als »sozialwissenschaftliches Paradigma« zu bestreiten, oder aber, vor allem von A. Sollner und W. Bonß betrieben, zu einem sozialwissenschaftlichen Paradigma des »interdisziplinären Materialismus« ausgebaut zu werden. Letzteres um den Preis einer sozialphilosophischen Qualität, die als zeitgebunden und überlebt erscheint. Siehe zu diesen Kontroversen den sehr informativen Sammelband W. Bonß /A. Honneth (Hg.), Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt 1982.