Forensische Psychiatrie
Die Produktion des »Normalen«?
aus: vorgänge Nr.79 (Heft 1/1986), S.66-72
Für rund 2 500 Personen im staatlichen Freiheitsentzug in der Bundesrepublik Deutschland kommen die negativen Aspekte und Faktoren von Knast und Psychiatrie zusammen: Für psychisch kranke Rechtsbrecher im Maßregelvollzug! Bei ihnen addieren sich nicht nur die Probleme aus den beiden Bereichen, sondern sie werden in ihrer gegenseitigen Bedingtheit potenziert. Auch 10 Jahre nach dem Inkrafttreten des 2. StrRG, das die Kapitelüberschrift über die Maßregeln in die nunmehr geltende Reihenfolge »zur Besserung und Sicherung« umdrehte, und nach der Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquete der Bundesregierung bleibt es nach wie vor berechtigt, von der »absoluten Schlußlichtposition im Versorgungsbereich« der forensischen Psychiatrie zu reden.
Beschert hat diesen als psychisch krank und kriminell definierten Tätertyp das »Gewohnheitsverbrecher-Gesetz« vom 24. Nov. 1933. Seine Entstehung ist aber nicht genuin nationalsozialistisch. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts wurden Überlegungen angestellt, einerseits die Gefängnisse von bestimmten Kriminellen, den sogenannten »Psychopathen« zu entlasten, auf der anderen Seite aber die aufgrund ihrer Krankheit freigesprochenen und dann nach Polizeirecht in der Psychiatrie untergebrachten Täter einer stärker kontrollierten staatlichen Sanktion zu unterziehen. So gab es seit 1911 verschiedene Vorstadien und Entwürfe von Gesetzen, die auf die Einführung der »Zweispurigkeit des Sanktionenrechts« in Deutschland hinausliefen. Allerdings waren dann in der Tat die Nationalsozialisten sehr schnell bei der Hand, aus den vorliegenden Entwürfen ein Gesetz in ihrem Sinne zu machen, das schließlich auf eine Vernichtungshaft der von ihm Erfassten hinauslief.
Unter den Nachwirkungen der Etikettierung dieses Typs eines kranken Täters haben die davon Betroffenen als sujektiv und objektiv doppelt Stigmatisierte bis heute zu leiden. An öffentlichen Reaktionen begegnet ihnen, wie kaum einer anderen gesellschaftlichen Gruppe, Angst, Abscheu und Abwehr.
Vieles spricht dafür anzunehmen, daß die Patienten der forensischen Psychiatrie in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung als Projektionsobjekte von Hass, Aggression, versagten eigenen Wünschen und von tabuisierten Trieben herhalten müssen. Sie sind gleichsam die verobjektivierte Abspaltung eigener »irrer« Ich-Anteile. Von manchen Zeitgenossen ist dies als Uneinfühlbarkeit in das zutage getretene abnorme Verhalten des Täters beschrieben. Nicht selten schwingt dabei der Wunsch mit, diesem Tätertyp möge es in der Freiheitsentziehung besonders übel ergehen. Dieser Wunsch klingt umso stärker durch, je mehr die eigene Anstrengung zur – wenn auch äußerlichen und fassadenhaften- Aufrechterhaltung von Gesetz und Moralität kaum öffentlich honoriert wird.
Innerhalb des Klientels der forensischen Psychiatrie ist eine Tätergruppe in ganz besonderer Weise stigmatisiert: die Sexualdelinquenten. Vielfach stehen sie allein paradigmatisch für alle im Blickpunkt. Die Tötung eines anderen Menschen kann eventuell noch verstehend und einfühlbar als nicht vermeidbare Affekthandlung nachvollzogen werden, aber ein Kind oder eine Frau sexuell zu attackieren und mit Gewalt zu mißbrauchen: Dies ist vorderhand nicht entschuldbar. Gibt es doch andere gesellschaftlich tolerierte Weisen, im sexuellen Bereich zu seiner Triebbefriedigung zu kommen.
Dabei ist nach der geltenden Strafrechtstheorie der so definierte psychisch kranke Rechtsbrecher nicht oder nur vermindert schuldfähig (§§ 20, 21 StGB), das heißt, ihm wird sein Verhalten nicht als von ihm zu vertreten vorgeworfen, eben weil er psychisch krank ist.
Auch wenn die vier genannten Merkmale: krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewußtseinsstörung, Schwachsinn oder schwere andere seelische Abartigkeit in erster Linie juristische Krankheitsdefinitionen sind, so wird damit doch zum Ausdruck gebracht, daß Taten im Zustand einer schicksalhaft überkommenen Krankheit dem einzelnen nicht individuell vorgeworfen werden können: Krankheit ent-schuldet.
Aber dies ist – nur – juristische Dogmatik. Praktisch vollzieht sich das öffentliche Verhalten und der institutionelle Umgang gegenüber und mit diesen Delinquenten doch wie ein erheblicher Schuldvorwurf, auf den konsequent eigentlich nur mit einer drastischen Übelzufügung reagiert werden kann.
In der versorgungspolitischen Realität bedeutet dies, daß die Unterbringung der forensischen Patienten überwiegend in den ältesten und meistens auch schlechtesten Gebäuden der Landeskrankenhäuser stattfindet. Dabei ist dieser Personenkreis in einigen Bundesländern in abgelegenen Einrichtungen zentralisiert untergebracht, so zum Beispiel in Moringen, Eickelborn, Haina, Wiesloch, Weißenau. Während sich in der allgemeinen Psychiatrie im Laufe der letzten Jahre die Zahl der Arztstellen und der Ärzte vermehrt hat, gibt es in der forensischen Psychiatrie durchweg immer noch zu wenig Ärzte. Zusätzlich kommt erschwerend eine relativ hohe Personalfluktuation unter den übrigen therapeutischen Mitarbeitern hinzu, die insbesondere bei den persönlichkeitsgestörten Patienten eine Vertrauensbildung und Eingewöhnung in längerfristige Bindungen kaum zulässt. Defizite bestehen aber nicht nur im psychotherapeutischen Bereich, sondern auch im Angebot an sozialer und beruflicher Rehabilitation. Hier wirken sich insbesondere die »Standort-Nachteile« der großen zentralisierten Einrichtungen in dünn besiedelten ländlichen Bereichen aus. Zudem sind die Gebäude und das Verhalten vieler Mitarbeiter immer noch in einem zu großen Ausmaße sicherungsorientiert. Diese Restriktionen tragen in besonderem Maße zur Hospitalisierung der ohnehin schon gestörten Patienten bei. So verwundert es auch nicht, wenn aufgrund der wenigen empirischen Untersuchungen, die es hierzu gibt, festzustehen scheint, daß der Aufenthalt der forensischen Patienten in der Institution länger dauert als der vergleichbarer Personen im Strafvollzug bzw. in der allgemeinen Psychiatrie.
Für die Mitarbeiter in den Einrichtungen und für die Öffentlichkeit sind Erfolge der Unterbringung in der forensischen Psychiatrie so gut wie gar nicht sichtbar. Im Gegenteil ist jeder einzelne Rückfall ein gravierender Rückschlag für die Mitarbeiter. Er kann persönlich als Kränkung, für die Institution als Versagen empfunden werden und bisweilen sogar Politiker wegen Vernachlässigung der öffentlichen Sicherheit in Bedrängnis bringen. So zählt im Bewußtsein der Öffentlichkeit nicht eine gelungene Resozialisierung als gewonnene Selbst-Sicherheit des Täters vor weiteren Taten, sondern eher die Ausgaben und Anstrengungen für eine Sicherung vor den Tätern. Dies spiegelt sich auch in der Bewilligung und Zuweisung von öffentlichen Finanzmitteln für den Maßregelvollzug wieder.
Trotz des gravierenden Nachhinkens der forensischen Psychiatrie hinter den seit Mitte der 70er Jahre bemerkbaren Veränderungen in der allgemeinen Psychiatrie ist wenigstens seit etwa 5 Jahren etwas Bewegung auch in diese Szene gekommen. Obwohl die Diskussionen und Veränderungen weitgehend systemimmanent ablaufen, lassen sich doch zwei Entwicklungslinien andeuten, an denen minimale Fortschritte erkennbar werden. Zum einen betrifft dies die Rechtsstellung der Patienten in der forensischen Psychiatrie. Galt bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1972 im staatlichen Freiheitsentzug das »besondere Gewaltverhältnis«, das heißt die weitgehende Ausklammerung der ihm Unterworfenen aus dem Schutz des Grundgesetzes, so ist inzwischen dieses antiquierte Rechtsverhältnis nicht nur im Strafvollzug durch das Strafvollzugs-Gesetz, sondern auch in den meisten Bundesländern für den Maßregelvollzug durch gesetzliche Regelungen überwunden worden. Einige Bundesländer haben hierfür eigene »Maßregelvollzugs-Gesetze« geschaffen, andere sind den Weg über eine Anreicherung ihrer Psychisch-Kranken-Gesetze gegangen. Dort, wo eigene Maßregelvollzugs-Gesetze geschaffen wurden, lehnen sie sich mehr oder weniger in ihrer Struktur und ihrem Aufbau an das Strafvollzugs-Gesetz an. Damit kommt auch in der forensischen Psychiatrie in etwa der Rechtsschutz, den das Strafvollzugs-Gesetz bietet, zum Tragen, wobei das Rechtsschutzverfahren weitgehend verwaltungsrechtlich orientiert ist. Speziell auf die Bedürfnisse und Erfordernisse der forensischen Psychiatrie zugeschnitten sind einige zaghafte sozialrechtliche Zugaben, die allerdings eine Reihe von »Soll«-Bestimmungen enthalten und damit letztlich doch nur halbherzig eine wirklich resozialisierungsorientierte Linie vorzeichnen.
Auf der anderen Seite haben sich durchaus die materiellen Unterbringungsbedingungen verbessert. In den meisten forensischen Einrichtungen sind die übergroßen Bettensäle verschwunden. An ihre Stelle sind wenigstens Zwei- bis Vierbettzimmer getreten. Durchweg sind die sanitären Anlagen verbessert worden, die Zimmer und Flure sind farbiger gestrichen worden und haben damit ein depressives Einheitsgrau verdrängt. Darüber hinaus ist auch die Anzahl der Patienten auf den Stationen verringert worden, so daß jetzt schon eher die Chance besteht, sich auch gegenseitig aus dem Weg gehen zu können. Wenngleich die volle »Annäherung an die allgemeinen Lebensbedingungen« bei weitem noch nicht erreicht ist, so trägt auch das Ablegen der weißen Kittel bei den Mitarbeitern zu einer zivileren Atmosphäre bei.
Auch ohne Vorliegen umfangreicher konkreter empirischer Untersuchungen lässt sich doch die Tendenz erkennen, daß sich auch die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in den forensischen Einrichtungen in der letzten Zeit verkürzt hat.
Dies ist nicht zuletzt auf die Einbeziehung von Übergangsheimen, Wohngemeinschaften und anderer psychiatrischer Betreuungsformen in das Entlaßstadium des Maßregelvollzuges zurückzuführen. Gleichzeitig hat auch die früher gern geübte Praxis der Umwandlung der strafrechtlichen in eine zivilrechtliche Unterbringung deutlich nachgelassen.
Der immer noch bestehende eklatante Personalmangel an Ärzten ist teilweise – und dies keineswegs nur als Notbehelf – durch zusätzliche Einstellung von Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeitern und Lehrern kompensiert worden. Durch die Hinzunahme dieser Berufsgruppen wird gleichzeitig der Erkenntnis Rechnung getragen, daß etwa nur ein Drittel der Patienten der forensischen Psychiatrie im medizinischen Sinne psychisch krank sind. Die anderen zwei Drittel weisen Störungen und Behinderungen auf, die üblicher- und zutreffenderweise nicht als psychiatrische Krankheiten angesehen werden können.
Innerhalb dieser strukturellen Verbesserungen sollen auch die Ansätze von Bemühungen engagierter Mitarbeiter und Klinikleitungen um eine bessere Versorgung ihrer Patienten nicht unerwähnt bleiben. Dennoch ist damit der Grundwiderspruch zwischen der Rechtstheorie des Maßregelvollzugs und der praktischen Ausgestaltung keineswegs aufgehoben.
Es bleiben aber nicht nur erhebliche Defizite im Versorgungsbereich zu beklagen. Weiterhin ist die dogmatische Durcharbeit des Maßregelrechts im Rahmen der Zweispurigkeit unseres Sanktionensystems nur mangelhaft entwickelt. Obwohl kaum jemand an der dogmatischen Voraussetzung der krankheitsbedingt nicht möglichen Vorwerfbarkeit der Handlung des Täters und des Schuldausschlusses rütteln will, wird jedoch in der Theorie des Maßregelrechts inkonsequent fortgefahren. Denn bereits die strafrechtliche Konzeption des Maßregelvollzugsrechts, die in ihrer Systematik weitgehend dem Strafvollzugsrecht nachgebildet ist, ignoriert jeglichen staatlichen Ausschluß von Vergeltungshandeln aufgrund der Krankheit und der damit gegebenen Schuldunfähigkeit des Täters.
Um nicht mißverstanden zu werden: Eine Gesellschaft muß die Möglichkeit haben, sich gegen Mitglieder zu schützen, von denen eine erhebliche Gefährdung ausgeht. Wenn aber bei kranken Tätern aufgrund ihrer Krankheit unter der Dogmatik des Strafrechts ein Schuldausschluß oder eine Schuldminderung zu einem »Freispruch« hinsichtlich einer Strafsanktion führt, und wenn dieselbe Person dennoch in staatlichen Freiheitsentzug aufgrund der von ihr ausgehenden erheblichen Gefährlichkeit genommen wird, dann bedarf dieser Freiheitsentzug, selbst ohne daß er systemimmanent repressiv gehandhabt werden soll, einer besonderen Legitimation. Nahe liegend ist hierbei in erster Linie an ein »gesellschaftliches Notwehrrecht« zu denken. Die gesicherte Unterbringung eines nicht bestrafbaren Täters müßte dann als die Abwehr eines »gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs« verstanden werden. Da aber an die Gegenwärtigkeit eines Angriffs enge Anforderungen zu stellen sind, ist mit dem Notwehrrecht eine langjährige Unterbringung nur schwer begründbar. Auch das Verständnis des Maßregelvollzugs als »gesellschaftliche Notstandsmaßnahme« zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr vermag letztlich nicht voll zu überzeugen. Denn die hierbei zu fordernde »Güterabwägung« zwischen oft langjährigem Freiheitsentzug bei einem Einzelnen und den zu schützenden Gütern, die auf den einzelnen Täter bezogen vielfach nur geringe Sachwerte darstellen, kann ebenfalls die gegenwärtige Praxis des Maßregelvollzugs nicht rechtfertigen. So nahe liegend diese theoretischen Legitimationsmöglichkeiten auch scheinen, ihre Anwendung erfordert doch erhebliche intellektuelle und legitimatorische Verrenkungen.
Dennoch muß kein Grund zur Resignation bestehen. Ein Ausweg aus der Legitimationskrise und der defizitären Praxis des Maßregelvollzugs ist in einer anderen, nicht straf- sondern sozialrechtlich orientierten Richtung zu suchen.
Wenn und soweit das bundesdeutsche Strafrecht am Schuldprinzip festhält, ist auch die Kehrseite dieses Schuldprinzips ernst zu nehmen: daß nicht bestraft werden kann, wem keine Schuld zuzurechnen ist. Wird dennoch jemand, der aufgrund seiner schicksalhaften Krankheit gefährlich ist, einem mehr oder weniger stark eingreifenden Entzug seiner Freiheit unterworfen, dann darf diese Maßnahme keinen strafenden Charakter haben. Vielmehr bringt der schuldlos Kranke, der aufgrund seiner Krankheit gefährlich ist, mit der ihm auferlegten Einschränkung seiner persönlichen Freiheit ein Opfer für die gegenwärtige und künftige Sicherheit seiner Mitmenschen. Anders herum ausgedrückt: Die Gesellschaft fordert ihm, dem kranken und gefährlichen Täter zu ihrer eigenen Sicherheit ein Opfer an seiner Freiheit ab. Damit fällt der Freiheitsentzug der »bessernden und sichernden Maßregel« in die im Sozialrecht geprägte Kategorie des »Sonderopfers«!
Der sozialrechtliche Begriff des Sonderopfers stellt darauf ab, daß jemand einen Schaden an Leib oder Leben im Interesse der Allgemeinheit erleidet und dafür von der staatlichen Gemeinschaft entschädigt wird. Die klassischen Beispiele sind die Kriegsopfer,
Wehr- und Zivildienstbeschädigte. Aber auch wer sich aufgrund einer gesetzlichen Pflicht oder freiwillig gegen eine gefährliche Krankheit impfen läßt und dabei einen Gesundheitsschaden erleidet, erbringt damit nach der Vorstellung des Sozialrechts ein Sonderopfer für die Allgemeinheit. Das gleiche gilt für eine Reihe von Tatbeständen der »unechten Unfallversicherung« nach den §§ 539 Abs. 1, Ziffern 4 und 8-17, 540 RVO. Dabei wird nicht auf Naturkatastrophen oder allgemeine Lebensrisiken abgestellt, sondern auf soziale und sozialisationsbedingte Zusammenhänge.
Diejenigen, die nach der bisherigen Theorie und Praxis ein Sonderopfer für die staatliche Gemeinschaft erbracht haben, dürfen insbesondere als Kriegsopfer nicht nur auf den Dank des Vaterlandes und die Errichtung von heroischen Mahnstätten hoffen, sondern sie haben auch Anspruch auf eine soziale Entschädigung. So heißt es im § 5 SGB I: »Wer einen Gesundheitsschaden erleidet, für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen einsteht, hat ein Recht auf…«. Wenn man ernsthaft zur Kenntnis nimmt, daß bei Kriegsopfern, gerade dann, wenn sie Soldaten gewesen sind, nicht danach gefragt wird, was sie als Täter getan haben, dann kann man und muß man auch den unter strafrechtlichen Kategorien schuldunfähigen Tätern wegen des ihnen aufgrund ihrer Krankheit abverlangten Freiheitsopfers eine soziale Entschädigung zusprechen! Aus dem gleichen Grund verbietet sich auch ein Zynismusvorwurf gegen einen solchen Anspruch auf soziale Entschädigung für forensische Patienten. Die Sonderopfer-Theorie des Maßregelvollzugs wird in Abgrenzung von Strafvollzug auch dadurch unterstrichen, daß gefährliche Gesunde vor und nach Strafverbüßung frei herumlaufen dürfen, von den extremen Ausnahmen in der Sicherungsverwahrung abgesehen, während eben halt die tatsächlich oder vermeintlich gefährlichen Kranken in ihrer Freiheit erheblich beeinträchtigt werden.
Wenn die staatliche Gemeinschaft diese Voraussetzungen ernst nimmt, dann hat sich das Verhalten und die Leistung des Staates und der für ihn Tätigen im Maßregelvollzug an den Grundzügen der sozialen Entschädigung zu orientieren. Je mehr Freiheitsentzug jemand erleidet, je restriktiver die Einschränkungen sind, die jemandem auferlegt werden, desto umfangreicher und intensiver haben die staatlichen Angebote und Leistungen zu seiner sozialen Rehabilitation zu sein. Besonders intensive Bemühungen um eine Rehabilitation haben nichts mehr und nicht weniger zu sein als ein Ausgleichscharakter für die gesundheitlich bedingten Einschränkungen. Insgesamt würde der Maßregelvollzug damit zu einem Teilbereich des Sozialrechts und somit aus der Diktion des Straf- und Strafvollzugsrechts ausgegliedert.
In der forensisch-psychiatrischen Praxis muß dieses nicht unbedingt sofort zu revolutionären Veränderungen führen. Schon jetzt wäre de lege lata und damit systemimmanent eine Reihe von Verbesserungen möglich, die vielerorts bisher noch gar nicht in den Blick genommen wurden. Bereits nach dem 2. StrRG von 1969, in Kraft seit 1975, sind teilstationäre und ambulante Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen, bis hin zum offenen Vollzug. Freiheitsentziehende Maßregel muß also keineswegs immer eine voll stationäre und damit voll hospitalisierende Unterbringung sein.
Darüber hinaus könnten den forensischen Patienten längst die inzwischen verbesserten psychiatrischen Versorgungsmöglichkeiten im teilstationären und ambulanten Bereich eröffnet werden. Tageskliniken, Übergangsheime, therapeutische und betreute Wohn-gemeinschaften, Therapien in Beratungsstellen usw. können ebenso zur Maßregelvollzugs-Wirklichkeit werden, wie die bisher bestehende voll stationäre Unterbringung. Selbst bei einer Reihe von Sexualstraftätern bestehen durchaus ambulante Therapiemöglichkeiten, ohne daß eine besondere Gefährdung der Öffentlichkeit zu befürchten ist.
Gerade weil insbesondere am persönlichkeitsgestörten Täter in der forensischen Psychiatrie die gesellschaftlichen Mitbedingungen und -verursachungen seiner Krankheit und Tat erkennbar sind, trägt deshalb die Gesellschaft, die sich vor den gefährlichen Objekten ihrer Sozialisationsprozesse schützt, eine gesteigerte Verantwortung für die Ermöglichung einer normalen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In diesem Sinn sind Theoretiker und Praktiker aufgefordert, den Maßregelvollzug als eine Einrichtung zur Produktion des »Normalen« zu gestalten.