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Entkri­mi­na­li­sie­rung und Diversion

Konzepte, Erfahrungen und Kritik

aus: vorgänge 79 (Heft 1/1986), S. 104-111

»Entkriminalisierung« lautet eine der »Zauberformeln«, die seit einiger Zeit über die Zirkel kriminalpolitischer »Magie« hinaus nun auch in der breiteren Öffentlichkeit zunehmend an Faszination gewinnt. Gemeint sind damit vor allem Alternativen zur traditionellen Strafrechtspraxis gegenüber jugendlichen Delinquenten. Nach jahrelangen Bemühungen um eine verbesserte pädagogisch therapeutische Ausgestaltung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen beginnen nun sowohl Strafrechtstheoretiker und praktiker als auch Vertreter kriminalsoziologischer Forschung und in zunehmendem Maße eben auch interessierte Gruppen in der Öffentlichkeit dieses eigentlich alte Konzept der »Entkriminalisierung« erneut zu entdecken. Kaum eine Fachtagung, kaum ein neues Lehrbuch, wo nicht auch Perspektiven der Entkriminalisierung »strafwürdigen« Verhaltens erörtert würden.

Hintergrund für diese Wiederaneignung eines an sich alten Themas ist die zunehmende Einsicht in die Grenzen der traditionellen »Ökonomie des Strafens«: Der in den Tätigkeitsnachweisen der sozialen Kontrollinstanzen statistisch ausgewiesene Anstieg jugendlicher Straftäter vor allem im Bereich der sog. Bagatelldelinquenz, der gleichzeitige empirische Nachweis der kontraproduktiven und devianzverstärkenden Effekte freiheitsentziehender Strafen, das politische Ende der »inneren Reform« des Jugendstrafvollzuges und die fortschreitende Entlegitimierung einer »Politik der Einkerkerung«, welche jugendliche Rechtsbrecher aus ihren alltäglichen Lebenvollzügen herauslöst und sie dem disziplinierenden Reglement totaler Institutionen unterwirft – dies alles sind Einzelelemente eines Trends, der dazu beigetragen hat, daß das Konzept der Entkriminalisierung wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden ist und eine kontroverse Grundsatzdebatte eingeleitet hat.

Nicht zuletzt verspricht man sich von diesem Konzept aber auch eine delinquenzprophylaktische Funktion; denn, so wird argumentiert, die Vermeidung strafrechtlicher Stigmatisierung würde sich günstiger auf das Folgeverhalten insbesondere jugendlicher Delinquenten auswirken als die formelle Durchsetzung der Strafandrohung. Entkriminalisierung könnte daher dazu beitragen, daß den Tendenzen zur Verfestigung abweichenden Verhaltens von Minderjährigen als Folge allzu intensiver Kontakte mit den Institutionen der Strafverfolgung engegengewirkt wird – mit anderen Worten: daß durch weniger »Kriminalisierung« schließlich weniger »kriminelle Karrieren« produziert werden.

Wie bei sovielen Dingen, die eines Tages politische oder wissenschaftliche Bedeutung erlangen, gingen die wesentlichen Anstöße beim Konzept der Entkriminalisierung von den USA aus. Die Rezeption der nordamerikanischen Diskussion um die unter Begriffen wie »Deinstitutionalisierung«, »Mediatisierung« und »Diversion« firmierenden Reformstrategien des dortigen Jugendgerichtssystems zeigt auch in der Bundesrepublik Wirkung; so wurden in einer Reihe wissenschaftlicher Beiträge inzwischen längst die Möglichkeiten diskutiert, wesentliche Elemente des Diversionskonzeptes auf unser eigenes Strafverfolgungssystem zu übertragen(1). Diesen zunächst theoretisch-programmatischen Beiträgen sind sehr schnell erste Praxisprojekte gefolgt, die unter Ausnutzung der Gegebenheiten des deutschen Jugendstrafrechts nach Alternativen zur gängigen Sanktionspraxis suchten – entweder auf dem Wege von der Polizei zur Staatsanwaltschaft (»STOP-Programm«, Mönchengladbach) oder aber im Rahmen des Jugendgerichtsverfahrens selbst (»Brücke-Projekt« e.V., München)(2). Gleichzeitig erhoben sich jedoch auch kritische Stimmen gegenüber diesen innovatorischen Ansätzen; und dies wiederum nicht zuletzt aufgrund der allmählich durchsickernden Erfahrungen, die inzwischen in den Vereinigten Staaten mit den Entwicklungen und den Konsequenzen der Diversionsprogramme gemacht wurden(3).

Zu einem Zeitpunkt, da das Für und Wider von Entkriminalisierungsstrategien und alternativen Präventionskonzepten gerade seinen Anfang nahm, wurde auch im »Internationalen Dokumentations- und Studienzentrum für Jugendkonflikte« (IDSZ) an der Bergischen Universität/Gesamthochschule Wuppertal dieses Thema aufgegriffen und im Austausch mit amerikanischen und deutschen Fachkollegen(4) versucht, die unterschiedlichen Erwartungen und widersprüchlichen Erfahrungen im Hinblick auf Entkriminalisierungsstrategien und Präventionskonzepte auszuarbeiten und entsprechende Konsequenzen für die Diskussion in der Bundesrepublik zu ziehen. Das Resultat dieser Bemühungen ist eine Sammelpublikation mit dem Titel »Entkriminalisierung – Sozialwissenschaftliche Analysen zu neuen Formen der Kriminalpolitik«(5), deren Bedeutung nicht zuletzt darin liegt, daß es gelang, einige der »Väter« und heutigen Kritiker der Jugendstrafrechtsreform in den USA für Beiträge in diesem Band zu gewinnen.

Ebenso wichtig erschien es jedoch, die verschiedenen Dimensionen, die dem kriminalpolitischen Konzept der Entkriminalisierung des abweichenden Verhaltens von Minderjährigen zugrundeliegen, zu beschreiben und auf ihre Bedeutsamkeit für die Diskussion in der BRD zu überprüfen. Von Seiten der Herausgeber nahm Norbert Herriger sich dieser Aufgabe an. Unter der Fragestellung »Auf dem Weg zu einer Politik der Entkriminalisierung?« zeigt er Perspektiven, aber auch grundsätzlich kritische Gesichtspunkte zu folgenden thematischen Schwerpunkten der Entkriminalisierungsdebatte auf:

  • Entkriminalisierung durch Ausbau »ambulanter« Sanktionen im Jugendstrafrecht, worunter vor allem jene Konzepte und Programme fallen, die in den USA unter dem Schlagwort »Deinstitutionalisierung« diskutiert werden;
  • Entkriminalisierung durch »Diversion«, d.h. Strategien und praktische Maßnahmen, die das Ziel haben, Formen des delinquenten Verhaltens von Jugendlichen ohne Rückgriff auf förmliche Strafverfahren zu bewältigen und die betreffenden Jugendlichen stattdessen Institutionen der sozialen Intervention außerhalb des Justizapparates anzuvertrauen;
  • Perspektiven und Grenzen der Entkriminalisierung durch Herausnahme bestimmter Tatbestände aus dem Jugendstrafrecht, insbesondere also eine »Entrechtlichung« des breiten Feldes sog. »jugendtypischer« Bagatelldelinquenz, die flankiert werden könnte durch eine Vereinheitlichung der Jugendkontrolle im Rahmen eines umfassenden Jugendhilferechts oder auch durch ein System von Konfliktregelungsverfahren, welche der informationellen Konfliktregelung unter den an Straftaten direkt beteiligten Personen (Täter vs. Opfer) Vorrang einräumen würde.

Dabei spielt derzeit sicherlich das an zweiter Stelle genannte Konzept der Entkriminalisierung durch Diversion in der Bundesrepublik die Hauptrolle sowohl in der kriminalpolitischen Diskussion als auch in der Kriminalpraxis. Dies vor allem auch deshalb, weil es eine mittelfristige (und damit »machbare«) Reformperspektive bietet, die zum einen über den bloßen Ausbau ambulanter Sanktionsformen hinausgeht und zum anderen auf jene Radikalität verzichtet, mit der Verfechter informeller Konfliktregelungsverfahren den endgültigen Ausstieg aus der strafrechtlichen »Verarbeitung« abweichenden Verhaltens fordern. Diversion zielt daher auf einen Mittelweg zwischen Entinstitutionalisierung und Entrechtlichung. Sie zielt auf eine Neuvermessung der Zuständigkeiten von Jugendhilfe und Jugendgerichtsbarkeit und knüpft damit dort an, wo die Debatte zur Reform des gesellschaftlichen Systems der Verarbeitung von Devianz in den siebziger Jahren abgebrochen wurde. Gerade dieser Umstand macht eine gründliche Analyse der Erfahrungen mit den im internationalen Bereich entwickelten Diversionsstrategien im Hinblick auf eine mögliche Anknüpfung der kriminalpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland an diese innovatorischen Konzepte besonders dringlich und notwendig.

Aus diesem Grunde liegt das Schwergewicht bei der Auswahl von Beiträgen für den bereits erwähnten Sammelband auf wichtigen theoretischen Begründungen, Praxisbeispielen und empirischen Forschungen zu Fragen der Diversion, um nochmals zentrale Schlüsselpositionen dieser Reformstrategie in den USA und auch im europäischen Ausland für die deutsche Diskussion aufzubereiten.

Eine dieser Schlüsselstellungen kommt sicherlich den Beiträgen von Edwin M. Lemert zu, der zunächst mit einem kurzen Textauszug aus seiner klassischen Monographie »Insted of Court. Diversion in Juvenile Justice« vorgestellt wird. Darin formuliert Lemert bereits 1971 die Grundsätze einer Kriminalpolitik, die auf das abweichende Verhalten von Kindern und Jugendlichen unter Verzicht auf formelle Strafverfolgungsverfahren einzugehen versucht. Anknüpfend an frühere Beispiele polizeilicher Sozial- und Gemeindearbeit liefert er u.a. den devianztheoretischen Begründungszusammenhang sowie einen praktikablen Organisationsrahmen für Diversionsprogramme, die auf der Ebene polizeilichen Handelns verordnet sind.

Norbert Herriger greift unter dem Stichwort »Familienintervention und soziale Kontrolle« ein anderes zentrales Praxisfeld von Diversion in den USA auf: die familienorientierten Programme, deren Ziel es ist, das abweichende Verhalten jugendlicher Rechtsbrecher im Kontext der familiären Lebenwelt zu normalisieren. Kurzgefaßt lautet sein Resumee: Die Familieninterventionsprogramme folgen einer am Individuurn orientierten kurativen Methode, sie weiten die soziale Kontrolle auch auf andere, bislang nicht auffällige Familienmitglieder aus und führen so zu einer Kolonisierung der Lebenswelt in der Familie durch öffentlichen Zugriff auf private Refugien.

Simha F. Landau und Gad Nathan wenden sich wiederum der Diversionsmöglichkeit auf der Ebene der Polizei zu. »Verwarnung oder Anklage: Selektive Sanktionierung von jugendlichen Delinquenten durch die Londoner Polizei« ist der Titel ihrer differenzierten empirischen Studie zu den Einflüssen sog. »rechtlicher« und »außerrechtlicher« Faktoren auf polizeiliches Handeln hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob ein jugendlicher Delinquent »verwarnt« werden soll (Diversionsmöglichkeit im englischen Strafverfolgungsprozeß) oder ob eine Anklage gegen ihn verhängt wird (formelles Strafverfahren beim Jugendgericht). Die Ergebnisse dieser Untersuchung belegen eindrucksvoll, daß die dem Strafverfolgungsprozeß innewohnende Selektivität keineswegs aufgrund des Bestehens von Diversionsmöglichkeiten gemildert oder gar suspendiert wird. Sicherlich eine herbe Enttäuschung für all jene Hoffnungen, die auf größere Gleichbehandlung bzw. geringere diskriminierende Auslese von jugendlichen Delinquenten durch die Möglichkeit der Anwendung von Diversionsmaßnahmen gerichtet waren, weil sie vor allem auch aus dem labeling-Ansatz abgeleitet wurden.

Diese der Tendenz nach negative Einschätzung des Erfolges von Diversionsprogrammen findet sich auch in einem großen Teil der US-amerikanischen Evaluationsliteratur zu Diversionsprojekten. So wird in der Aufsatzsammlung versucht, verschiedene Autoren zu Wort kommen zu lassen, die z.T. selbst maßgeblich an der Entwicklung und Verbreitung des Diversionskonzeptes in den USA beteiligt waren. Ihre zu Kritik und Skepsis führenden Erfahrungen sind in ihrer Reichweite – über den Raum der Vereinigten Staaten hinaus – gerade auch für die aktuelle Rezeption des Diversionskonzeptes in der Bundesrepublik von größter Bedeutung.

Thomas G. Blomberg und R. Jeanine Blomberg setzen sich auf der Grundlage einer detaillierten Rückschau auf Ergebnisse sogenannter Evaluationsstudien von Diversionsprogrammen unter dem Titel »Die Ausdehnung des Netzes sozialer Kontrolle durch Diversion« vor allem mit folgenden Fragestellungen auseinander:

  • In welcher Weise tragen Diversionsmaßnahmen zur Erweiterung des Netzwerkes sozialer Kontrolle bei (sog. »net-widening effects«)?
  • Welche darüber hinausgehenden (unbeabsichtigten) negativen Folgewirkungen ergeben sich für die Klienten von Diversionsmaßnahmen?
  • Worin könnten – aufgrund dieser Analysebefunde – Zielkriterien für eine zukünftige Kontrollpolitik und Praxis bestehen?

Die Quintessenz ihrer Befunde lautet: In allen untersuchten Diversionsprojekten überwiegen die (unbeabsichtigten) Negativfolgen: Ausweitung der Klientel und Intensivierung der sozialen Kontrolle, d.h. zukünftige kriminalpolitische Entscheidungen hätten sich vor allem an einer Berücksichtigung und eindämmenden Kontrolle derartiger Nebeneffekte zu orientieren.

Edwin E. Lemert hält unter dem Titel »Diversion im Jugendgerichtssystem« zunächst einen umfassenden Rückblick auf die nunmehr über zehnjährige Geschichte der Diversions-Bewegung in den USA und stellt sich dann die Frage, was denn nun in der Zwischenzeit tatsächlich erreicht wurde. Das Ergebnis seiner Analyse ist sowohl für ihn als auch für alle anderen, die mit der ldee der Diversion in den Vereinigten Staaten große Hoffnungen verbunden hatten, enttäuschend: Denn das ursprüngliche Konzept wurde im Laufe seiner Implementierung und Instituionalisierung immer weiter pervertiert und partiell sogar ins Gegenteil verkehrt. Statt der beabsichtigten Reduzierung von Strafverfolgung nahmen deren Ermessensspielräume und Zuständigkeiten eher zu. Diversionsprogramme entwickelten sich zu einem Vehikel sozialer Kontrolle, die durch sie in viele soziale Bereiche vordrang, die zuvor keiner Kontrolle unterlagen. Als Ursache dieser Entwicklung lassen sich vor allem die professionellen Ideologien und Interessen der Institutionen der Strafverfolgung und der Jugendhilfe erkennen, aber auch ihre Wünsche nach einem Ausbau ihrer jeweiligen Klientel. Besonders bemerkenswert: der erstaunliche Einfluß der Polizei; direkt und indirekt wurden zahlreiche amerikanische Diversionsprogramme durch die Macht der Polizei und deren Tätigkeit maßgeblich mitgestaltet.

Malcom W. Klein, ebenfalls einer der frühen Verfechter der Diversions-Idee in den USA, schließt sich mit einem kurzen Beitrag über »Die Reform der Jugendgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten und ihre Folgen für die Delinquenzprophylaxe« diesen Ausführungen Lemerts in der Kernaussage an. Nach einer ersten Analyse der Widersprüche zwischen der Präventionspraxis und den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung setzt er sich kritisch mit der im US-amerikanischen Strafrechtssystem inzwischen weitgehend institutionalisierten und gesetzlich legitimierten Differenzierung in »status offenders« und »delinquent offenders« auseinander und beschreibt – vor allem am Beispiel Kaliforniens – deren Konsequenzen: nämlich eine mildere Behandlung jugendlicher Bagatelltäter (vor allem durch Diversion und Entinstitutionalisierung) und eine härtere Bestrafung der schweren Jugenddelinquenz. Zu den Konsequenzen zählen aber auch die institutionellen Veränderungen: Abnehmendes Interesse der Strafverfolgungsbehörden an »status offenders« zugunsten der Verfolgung »lohnenderer Fälle«, Prozesse der »Um-Etikettierung« bestimmter Devianzformen und Reduzierung polizeilicher Präventionsbemühungen. Doch da sich nun sowohl Polizei als auch Justiz von der Strafverfolgung leichter Straftäter zurückziehen, werden die Kommunen selbst wieder lernen müssen, mit »abweichendem Verhalten« umzugehen und – da die Mittel für alternative Programme fehlen – notgedrungen viele Formen jugendlicher Delinquenz einfach zu tolerieren und zu »normalisieren«. Doch: »nichts zu tun« könnte ja in der Tat die bessere Lösung sein – so jedenfalls das Fazit Kleins.

Diesen Befunden vorwiegend aus amerikanischer Sicht sind zwei Arbeiten gegenübergestellt, die aus der Perspektive der westdeutschen Kriminologie die Entkriminalisierungsdebatte aufgreifen und  quais parallel  zu ersten kriminalpolitischen und praktischen Ansätzen die gegebenen Möglichkeiten und den zu erwartenden Ertrag entsprechender Maßnahme im Jugendstrafrechtssystem der Bundesrepublik ausleuchten. Günther Kaiser analysiert die »Möglichkeiten der Entkriminalisierung nach dem Jugendgerichtsgesetz«. Ausgehend von der Streitfrage, ob jugendliche Delinquenz angemessener mit einem verbesserten Jugendstrafrecht, mit außerjustiziellen Interventionsmaßnahmen oder gar lediglich mit informellen Konfliktregelungen zu begegnen sei, vergleicht er das anglo-amerikanische Strafrechtssystem mit der jugendstrafrechtlichen Sozialkontrolle in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Staaten. Dabei liegt die Annahme zugrunde, daß eine radikale Abkehr vom Jugendstrafrecht und die grenzenlose Rückverlagerung der Sozialkontrolle in den privaten und informellen Bereichen des Alltags nicht zu erreichen sei. Eine solche Entrechtlichung und Reprivatisierung gesellschaftlicher Konfliktregelung – so sein Argument – vermag die strafrechtliche Verfolgung und Ahndung von Devianz nicht zu ersetzen, da durch diesen »Ausstieg« aus dem Strafrecht die Opferinteressen nicht angemessen zur Geltung gebracht, die Konfliktverarbeitungsfähigkeit der Institutionen und Personen im sozialen Nahraum überfordert und die notwendigen Sozialisationshilfen nicht wirksam gesteuert werden können. Aus diesen Gründen plädiert Kaiser für eine »innere Reform« des Jugendstrafrechts; d.h. er verweist auf die gegebenen Möglichkeiten, die geltenden Regelungen auf eine solche Weise auszuschöpfen, daß die stigmatisierenden und kriminalisierenden Begleiteffekte strafrechtlicher Abstempelung-, Verurteilungs- und Aussonderungsprozeduren vermieden und die nacherziehenden Wirkungen strafrechtlicher Maßnahmen verstärkt werden können. Im einzelnen werden folgende Vorschläge diskutiert:

  • Die Anhebung der relativen Strafmündigkeitsgrenze;
  • Die vermehrte Ausschöpfung von Möglichkeiten, Strafverfolgungsverfahren (vor allem im Bereich der Bagatelldelikte) im Vorfeld von Anklage, Hauptverhandlung und richterlichem Urteilsspruch einzustellen;
  • Die Stärkergewichtung ambulanter Erziehungsmaßregeln (Auflagen und Weisungen) seitens der Jugendgerichte.

Abschließend wendet sich Michael Voß wieder konkret der Frage nach der Übertragbarkeit des Diversionskonzeptes in das bundesdeutsche Strafverfolgungssystem zu. Bereits der Titel seines Beitrages »Widersprüche im Konzept und bedenkliche Erfahrungen – Lohnt die Einführung von Diversion?« signalisiert bereits die reservierte Haltung des Autors gegenüber mancher andernorts zu vernehmenden Euphorie hinsichtlich der Möglichkeiten, die die Diversionsidee scheinbar auch für eine Form der Kontrolle delinquenten Verhaltens hierzulande abwirft. Nach einer systematischen Klärung des Diversionsbegriffes widmet auch er sich zunächst einer kritischen Durchsicht der Erfahrungen mit der Diversionspolitik und -praxis in den USA, wobei er sowohl auf konzeptioneller als auch auf empirisch-evaluativer Ebene zahlreiche Brüche und Widersprüche aufdeckt, die für die derzeitige Entwicklung und den Stand in den USA kennzeichnend sind. Vor diesem Hintergrund versucht Voß dann jedoch Ansätze einer Diversionspolitik in der BRD kritisch zu beleuchten. Er diskutiert die entsprechenden Möglichkeiten auf den Ebenen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht und gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß einerseits die Einlösung der mit Diversion verbundenen Zielvorstellungen höchst fraglich erscheint und daß andererseits die Wahrscheinlichkeit negativer Nebeneffekte und Folgewirkungen so groß ist, daß man einer Übertragung dieses Programms nur mit Skepsis begegnen kann.

Weder die an dieser Stelle subsumierten Grundpositionen bezüglich der Diversionsproblematik, noch die Beiträge in ihrer Gesamtheit vermögen ein repräsentatives oder gar vollständiges Bild der in der »Entkriminalisierungs-Debatte« vertretenen Positionen zu zeichnen. Doch sollen sie zur Aufnahme und Weiterverfolgung kritischer Fragestellungen anregen, ohne die Übernahme irgendwelcher vorgefaßter Standpunkte nahezulegen(6). Vielmehr sollte gerade die Offenheit, mit der in den USA die ursprünglichen Protagonisten des Diversionskonzeptes aufgrund langjähriger praktischer Erfahrungen Fragezeichen setzen und Zweifel an der Realisierung der eigenen Zielvorstellungen anmelden, auch für die theoretische und praktische Diskussion in der Bundesrepublik beispielhaft sein.

Verweise

1 Vgl. dazu z.B. Beckmann, H.: Möglichkeiten zur Diversion im Jugendstrafverfahren in der Praxis der Jugendgerichtshilfe; in: ZblJugR (70) 1983, S. 210.213 oder auch zahlreiche Beiträge in folgenden Sammelbänden: Kerner, H.J. / Kury, H. / Sessar, K. (Hg.): Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentwicklung und Kriminalitätskontrolle, 3 Bde., Köln u.a.O. 1983; Keiner, H.J. (Fig): Diversion statt Strafe?; Heidelberg 1983
2 Siehe Kirchhoff, G.F. / Wachowius, W.: Diversion im Jugendstrafrecht. Das STOP-Programm der INTEG; in: Kury, H. (Hg.): Prävention abweichenden Verhaltens – Maßnahmen zur Vorbeugung und Nachbetreuung; Köln u.a.O. 1983; Marks, E.: Vom Nutzen eines Ausbaues ambulanter Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz und einer Kriminalpolitik von unten; in: DVJJ 1984, S. 320-340
3 Vgl. vor allem: Feltes, Th. / Janssen, H. / Voß, M.: Die Erledigung von Strafverfahren durch Staatsanwaltschaft und Gericht – Brauchen wir die sog. Diversionsmodelle in der Bundesrepublik?; in: Kerner, H. J. / Kury, H. / Sessar, K (Hg.): Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung, a.a.O., Bd. 2, S. 858-895; Plewig, H.: Diversion statt Strafe?; in: KrimJ 1/1985, S. • 59-68
4 Forum für diesen Austausch bot eine internationale Tagung über »Soziologische Perspektiven der Delinquenzprophylaxe«, die im April 1981 vom IDSZ in Kooperation mit dem »Research Committee for the Soziology of Deviance and Social Control«, der internationalen Gesellschaft für Soziologie (ISA), an der Universität Wuppertal durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziell gefördert wurde. Außerdem hier unter dem Stichwort der »Entkriminalisierung« zusammengefaßten Beiträgen erbrachte diese internationale Tagung eine zweite Publikation in englischer Sprache mit 19 Beiträgen zum Thema »Youth Crime, Social Control and Prevention: Theoretical Perspectives and Policy Implications« aus neun verschiedenen Ländern, hrsg. von M. Brusten / J. Graham / N. Herriger / P. Malinowski, Universität Wuppertal, 1984 (2. Auflage 1986). Der internationalen Diskussion vorausgegangen war ein Jahr zuvor ein thematisch sehr naheliegendes Symposion des Arbeitskreises Junger Kriminologen (AJK), dessen Ergebnisse unter dem Titel »Kommunale Delinquenzprophylaxe«, Universität Wuppertal, 1982, publiziert wurden.
5 Manfred Brusten / Norbert Herriger 1 Peter Malinowski, (Hg.), Entkriminalisierung, Sozialwissenschaftliche Analysen zu neuen Formen der Kriminalpolitik, Westdeutscher Verlag, Opladen 1985
6 Einen außerordentlich interessanten und sowohl die »Diversionsbefürworter« als auch die »Diversionsgegner« gleicher-maßen attackierenden Diskussionsbeitrag hat W. Ludwig: Diversion, Justiz und kriminologische Forschung, in: KrimJ., 4/1985, S. 290-306, vorgelegt: ein Plädoyer für eine noch intensivere und qualitativere kriminologische Forschung jenseits der bisherigen Euphorie und des ebenso lauten Widerstands auf der Grundlage von Erfolgs- bzw. Mißerfolgsbilanzen.

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