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Medizi­ni­sche Versorgung im Gefängnis

vorgängevorgänge 7901/1986Seite 57-60

aus: vorgänge Nr.79 (Heft 1/1986), S.57-60

Medizin und Knast ist ein Thema voller Gegensätze: Das Gefängnis befriedigt den Straf- und Sühneanspruch des Staates, während es Aufgabe der Medizin ist, Krankheiten zu heilen und Schmerzen zu lindern. Der Eid des Hippokrates verpflichtet jeden Mediziner, den Menschen – ohne Ansehen der Person – zu helfen.

Nun erfährt die Öffentlichkeit über die medizinische Versorgung im Knast meist nur dann etwas, wenn wieder einmal ein spektakulärer Vorfall zum Tode eines Gefangenen geführt hat. Als Beispiel sei Peter Schult genannt, der lange Zeit über Beschwerden im Brustraum klagte, als Simulant bezeichnet wurde und schließlich, nach einer viel zu spät gestellten Diagnose, an einem Karzinom der Lunge starb. Ein zweiter Fall betrifft einen Gefangenen der JVA Bremen: Er nahm über 55 Kilogramm ab, würde ebenfalls als Simulant abgestempelt und verstarb schließlich an einem Magenkarzinom, das nicht mehr operabel war. Ähnliche Fälle gibt es sicherlich noch viele. Diese zwei stehen am Anfang des Berichtes, weil sie erweisen, wie leichtsinnig mit dem Leben eines Gefangenen umgegangen wird.

Am 11. Januar 1982 beendete der ehemalige Leiter der Inneren Abteilung des Haftkrankenhauses der Berliner Vollzugsanstalten sein Leben durch Suizid. Während eines siebzig Tage dauernden Hungerstreiks hatte er als Mittler versucht, ärztlich vertretbare Verbesserungen der Haftbedingungen für die inhaftierten Terroristen zu erreichen. Ihm wurde vorgeworfen, der Aufforderung des Senats nicht Folge geleistet zu haben; auch hätte er die vorgesetzten Dienststellen nicht detailliert über den Gesundheitszustand der Hungerstreikenden informiert. Hierin sah er einen gravierenden Eingriff in seine ärztliche Schweigepflicht. Ihm hatte man Komplizenschaft mit den Terroristen vorgeworfen, und er war in heftige Konflikte mit der Justizverwaltung geraten. Deshalb wurden disziplinarische Vorermittlungen gegen ihn eingeleitet, er wurde in die Strafanstalt Tegel versetzt. Auf die Rückseite eines Briefumschlages hatte er gekritzelt: »Was will man unter diesen Umständen noch machen. Ich kann diese Senatsverfolgung nicht mehr ertragen, hatte es bestens gemeint.«

Es fällt nicht leicht, als Betroffener über die Medizin im Knast zu schreiben, mein Bericht erhebt nicht den Anspruch, wissenschaftlich oder gar vollständig zu sein. Aber ich möchte mich bemühen, der Öffentlichkeit einige Hintergründe der unzureichenden medizinischen Versorgung im Knast aufzuzeigen.

Die wichtigste Voraussetzung für das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient ist im Gefängnis nicht vorhanden: Der Patient kann sich seinen Arzt nicht frei wählen, sondern muß den Arzt, den die Justizbehörde eingesetzt hat, in der für ihn zuständigen Anstalt konsultieren. Wenn man dann erfährt, daß diese Ärzte Stundenverträge zwischen zehn und zwanzig Dienststunden in der Wochen haben, kann man sich denken, daß nicht die besten Mediziner die Betreuung der Gefangenen übernehmen.

Als Inhaftierter steht man unter einem großen Druck, und durch diesen Druck entstehen sehr oft psychische und physische Situationen, die dem Patienten bei den geringsten Symptomen eine schwere Krankheit vorgaukeln. So mancher, der vor Gesundheit nur so strotzte, wird hier zum Hypochonder. Außerdem ist es eine Tatsache, daß in geschlossenen Anstalten der Besuch beim Arzt immer die Möglichkeit bietet, Kontakt zu Mitgefangenen aufzunehmen. So ist nachgewiesen, daß beispielsweise in den verschlossenen Häusern I und II der Untersuchungs- und Aufnahmeanstalt Moabit die Ärzte weitaus öfter konsultiert werden als hier in Tegel.

Der Weg zum Arzt führt immer über den Sanitäter. Ihm muß der Gefangene erklären, aus welchen Gründen er zum Arzt will, ihm muß er beichten, unter welchen Schmerzen er leidet. Dann bestimmt der Sanni, ob dem Gesuch stattgegeben wird. In § 158 Abs. 2 StVo11zG heißt es: »Die Pflege des Kranken soll von Personen ausgeübt werden, die eine Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz besitzen. Solange Personen im Sinne von Satz 1 nicht zur Verfügung stehen, können auch Bedienstete des Allgemeinen Vollzugsdienstes eingesetzt werden, die eine sonstige Ausbildung in der Krankenpflege erfahren haben.« Der zweite Satz, unschwer als Ausnahme zu erkennen, ist in Tegel zur Regel geworden. Die meisten im Sanitätsdienst tätigen Beamten waren zuvor im allgemeinen Vollzugsdienst und haben auf der vollzugseigenen Krankenpflegeschule eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert. Sicherlich wird bei vielen der Vollzugsbediensteten der Wunsch Krankenpfleger zu werden auch mit dem Gedanken verbunden gewesen sein, in dieser Position zu einem höheren Verdienst zu kommen. Für die Justizoberen ist es natürlich positiv, wenn die Krankenpflegekräfte aus dem normalen Vollzugsdienst rekrutiert werden. Denn diese Leute sind ja nicht Pfleger geworden, um einer entsprechenden Neigung nachzukommen, sondern sie kamen im Verlauf ihrer Berufsausbildung auf die Idee, den vermeintlich leichteren Job eines Sanitätsbeamten auszuüben. So kann man von einem Menschen, der vielleicht fünf oder auch zehn Jahre im normalen Vollzug tätig war, kaum erwarten, daß aus ihm ein herzlicher, den Patienten stützender Krankenpfleger geworden ist. Daher ist der Umgangston in den Arztgeschäftsstellen nicht unbedingt als freundlich zu bezeichnen.

Etwas, das vorher für mich unvorstellbar war, ist hier die Regel: Kommt man zu einer Konsultation beim Arzt, so sitzen stets ein oder zwei Krankenpfleger dabei. Das vertrauensvolle Gespräch unter vier Augen, das man als Patient in Freiheit kennt, existiert hier nicht. Kürzlich erklärte ein Anstaltsarzt während einer Veranstaltung, er wäre gerne mit seinen Patienten allein, aber würde er diesen Wunsch den Sanitätsbeamten gegenüber äußern, so würden sie ihn einfach ignorieren und trotzdem bleiben. Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber auch auf ein Nachfragen bestätigte der Arzt dieses Verhalten. Dieser Arzt hat mit seinen Patienten ohnehin große Schwierigkeiten; er hält fast alle für Simulanten und  auf bei ihm geschilderte Krankheitssymptome kommt die stereotype Antwort: »Ja, das kenne ich, das hatte ich auch schon einmal.« Selbst wer als Nichterkrankter über einen solchen Arzt noch zu schmunzeln vermag, erschrickt spätestens, wenn er sich überlegt, was im Falle einer ernsthaften Erkrankung passiert, ist man auf einen solchen Arzt angewiesen. Dieser Arzt behandelt auch einen Patienten, der eine Eiweiß- und Penicillinallergie hat. Da hier ein Arzt auch für die verschiedenen Kostformen verantwortlich ist, muß er die Küche anweisen, welches Essen der Gefangene zu bekommen hat. Der Patient mit der Einweißallergie erhält zu jeder Mahlzeit Quark; auf mehrere Vorhaltungen hin, daß Quark besonders eiweißhaltig ist und auf Dauer dieselben Reaktionen hervorruft wie Eier, Käse oder ähnliches, erhielt dieser die Antwort: »Das ist schon richtig und gut für Sie.« Als der Gefangene vor der Strafvollstreckungskammer versuchte, einen Beschluß zu erwirken, in dem der Anstaltsarzt angewiesen wird, ihm seinem Gesundheitszustand gemäße Nahrung zu verordnen, reagierte der Arzt folgendermaßen: In einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft erklärte er, bereits 1977 über diesen Patienten eine wissenschaftliche Abhandlung verfasst zu haben, die von einem namhaften Professor sehr begrüßt worden wäre. Dieses teilte die Staatsanwaltschaft dem Gefangenen mit, der die Abhandlung gerne eingesehen hätte. Daraufhin erhielt er vom Arzt einen Zettel mit dem Eingeständnis, eine solche nie verfasst zu haben.

Das muß man sich einmal vorstellen! Um seine Position zu untermauern, behauptet ein beamteter Arzt gegenüber der Staatsanwaltschaft, er habe eine wissenschaftliche Arbeit angefertigt und dann stellt sich heraus, daß dieses nichts anderes als eine Erfindung ist. Die Antwort auf die Frage, was das für ein Arzt sei, ist leicht gefunden: Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin und praktiziert in unmittelbarer Nähe der JVA Tegel.

In der Teilanstalt I praktiziert ein Arzt, ebenfalls auf Basis eines Honorarvertrages; auch er betreibt eine Praxis außerhalb der Justizvollzugsanstalt. Zweimal in der Woche ist Visite. Dann werden zwischen vierzig und achtzig Patienten »verarztet«. Nach 1 1/2, höchstens 2 Stunden ist die Visite beendet. Eine kurze Rechnung ergibt, wieviel Zeit für jeden Patienten zur Verfügung steht. Ist das noch eine gute ärztliche Versorgung? Ein vertrauensvolles Gespräch zwischen Arzt und Patient kann hier schwerlich entstehen. Zwar müssen auch freipraktizierende Ärzte ihre Zeit einteilen, doch zumindest sehen sie sich ihre Patienten genau an und untersuchen sie körperlich, was vom Anstaltsarzt grundsätzlich vermieden wird. Er stellt Diagnosen aus zwei Metern Entfernung und wird daher »Fernseharzt« genannt. Wer diesen Arzt aufsucht, um vertrauensvoll ein Gespräch mit ihm zu führen, wird schnell die Unmöglichkeit seines Vorhabens einsehen: Ständig wuseln zwei oder drei Sanitäter um seinen Schreibtisch herum; auch der ganze Habitus des Arztes gibt zu erkennen, daß ihm einzig daran gelegen ist, den Patienten schnell wieder draußen zu haben.

Gerade in der letzten Zeit, in der in den Knästen durch das Drogenproblem die Infizierung mit dem HTLV-III-Virus in den Vordergrund tritt (ca. 15 – 30% aller Inhaftierten sind bzw. werden mit dem HTLV-III-Visus infiziert), kann man sich ausrechnen, wann dieses medizinische System zusammenbricht. Durch die ständige Anwesenheit der Sanitäter wird die ärztliche Schweigepflicht umgangen: So spricht im Kollegenkreis doch mancher Sanni über die Infizierung eines Gefangenen mit dem HTLV-III-Virus, um seine Kollegen, mit denen er jahrelang Stationsdienst gemacht hat, auf eine vermeintliche Gefahr hinzuweisen. Dies geht sogar so weit, daß auf einem Begleitzettel, den ein Gefangener für die Vorführung zu einer Laboruntersuchung in einem anderen Hause benötigt, vermerkt wird: »HTLV-III-Virus-infiziert«. Der betreffende Gefangene wurde beim morgendlichen Aufschluß vom Stationsbeamten mit den Worten begrüßt: »Na, Sie haben ja AIDS«. Seine Gefühle kann man sich leicht vorstellen – und dann behaupten der Justizsenator wie auch die Ärzte, die ärztliche Schweigepflicht sei gewährleistet! Die Gefangenenzeitung »der lichtblick« hatte im August 1985 mit dem Leiter des Tropenmedizinischen Instituts Berlin, Herrn Professor Bienzle, vereinbart, daß dieser alle Gefangenen anonym untersuchen würde. Dies wurde von der Anstaltsleitung mit der Begründung untersagt, die ärztliche Versorgung und Untersuchung obliege allein den beamteten Vollzugsärzten. Daß so manch einer, der gerne Gewißheit hätte, ob er infiziert ist oder nicht, aus den oben angesprochenen Fällen die Lehre ziehen wird und auf einen Arztbesuch verzichtet, ist verständlich.

Wer Medikamente verordnet bekommt oder haben möchte, muß sie sich morgens um sieben Uhr in der Arztgeschäftsstelle abholen. Wer später kommt, wird nicht abgefertig. Einem Gesunden macht das nichts aus, wer aber mit Fieber oder anderen Krankheiten im Bett liegt, ist besonders begeistert, wenn er zu dieser Zeit durch das Haus laufen muß, um seine ärztlich verordnete Medikation entgegenzunehmen.

Mit gutem Gewissen kann man die Situation im Knast nicht als normal bezeichnen. Gefangene sind über einen längeren Zeitraum vom sozialen Leben ausgeschlossen und erleben stattdessen die Monotonie des Knastes. Sie haben Zukunftsängste und Sorgen, sie sind mit ihren Problemen völlig allein. In solchen Situationen besteht die Neigung, das eigene Körpergeschehen besonders aufmerksam zu beobachten. Der ständige Streß führt nicht selten zu nervösen Magen-, Darm- und Kreislaufleiden. Durch die Reizarmut und den ständig wiederkehrenden Alltagstrott werden die natürlichen Widerstandskräfte gegen Infektionen und organische Beeinträchtigung verringert. Dazu kommt noch die – sicherlich durch negative Erfahrungen nicht unbegründete – Angst, vom Arzt nicht richtig behandelt zu werden und unter Umständen beim Eintreten eines Notfalles nicht rechtzeitig in ärztliche Behandlung zu kommen. Wenn nachts etwas passiert, wird der Notarzt gerufen, weil es in den einzelnen Häusern keinen Arzt gibt. Das kann längere Zeit in Anspruch nehmen – wir haben es schon erleben müssen, leider! Liegt man dann noch in einem Haus ohne elektrischem Rufsignal, dauert es unter Umständen Stunden, bis das »Fahne werfen« bemerkt wird. Bei akuten Herzanfällen hilft nur Beten oder gegen die Tür schlagen – soweit man noch die Kraft dazu hat. So wie sich die Ärzte im Vollzug aufführen, stelle ich mir Vertrauens- oder Versicherungsärzte vor. Selbst wenn mir ein Arzt unsympathisch ist, kann ich ihn nicht wechseln. Da ich in diesem Haus liege, muß ich bis zu meiner Entlassung mit ihm auskommen, oder ich verzichte völlig auf Arztbesuche. Fazit: Auch nur ausreichende medizinische Versorgung im Knast – in der Bundesrepublik Deutschland noch unbekannt!

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