Publikationen / vorgänge / vorgänge 79

Die Kapita­li­sie­rung abwei­chenden Verhaltens

vorgängevorgänge 7901/1986Seite 94-103

Zur Ökonomie und Politik der amerikanischen Diversionsalternativen

aus: vorgänge Nr. 79 (Heft 1/1986), S.94-103

Liberale Kriminalpolitik trägt in der Bundesrepublik wie auch allgemein immer den Charakter der Doppeldeutigkeit. Sie ist zunächst eine relative Kategorie, d.h. ihr Gegenpol (oder Realitätsbezug) wird implizit als rigide und veraltet betrachtet. So entsteht der Eindruck, grundlegende Veränderungen würden zumindest erwogen, wenn nicht gar vollzogen. Bereits hier lehrt die historische Analyse (nicht nur im Bereich der freiheitsentziehenden Maßnahmen), daß die Prämissen und Grundlagen des repressiven Justiz- und Sanktionssystem nie grundlegend in Frage gestellt wurden. Kosmetische Korrekturen unter Beibehaltung der Kernstrategie dienten der Sanierung des Systems.

Die zweite Ebene der Doppeldeutigkeit liegt im Kontext der »liberalen Kriminalpolitik«, in dem unter dem Vorzeichen strafrechtlicher Liberalisierung das »Modell Stammheim« geschaffen, Ausländer»rechte« verschärft, der finale Todesschuß eingeführt und Bürgerüberwachungssysteme durch nicht zu kontrollierende Datenbänke errichtet werden, sowie auf der anderen Seite die wohl rigideste Sozialpolitik seit Gründung der BRD betrieben wird. Diese generelle Strategie ist parteiunabhängig analysierbar, wie die Politik auch SPD-regierter Bundesländer zeigt.

Diversion ist ein Bestandteil der neuen liberalen Kriminalpolitik und auf den ersten, oberflächlichen Blick, bietet sich auch dem eher kritischen Beobachter darin ein Ansatz zur Veränderung, wenn nicht …! Dieser von den Diversionsprotagonisten(1) bisher bereits als höchst suspekt eingestufte Verdacht, wird heute von ihnen bestätigt. So erklärt einer von ihnen offen und unbefangen: »Alles in allem ist somit zu konstatieren, daß nach einer kurzen und heftigen Blütezeit Diversion in den USA zu einer Randerscheinung zu verkümmern droht, die bei näherem Zusehen eigentlich kaum geeignet erscheint, in andere Rechtsordnungen hineinzuwirken und internationalen Modellcharakter zu beanspruchen«(2). Daß dieser Strategie dennoch Modellcharakter für die BRD zugebilligt wird, findet seine Rechtfertigung darin, daß sich die (als individuelles Versagen deklarierten) Fehler der amerikanischen Diversionspolitik hier prinzipiell vermeiden ließen. Man sei wachsam geworden, wisse über die problematischen Punkte und sei so in der Lage, das Alternative an diesem Konzept in die Kriminalpolitik zu integrieren. Dennoch sieht sich diese Auffassung mit berechtigten Zweifeln konfrontiert, die nicht so ohne weiteres mit lapidaren Argumenten zu beseitigen sind(3).

Diversion als krimnal­po­li­ti­sches Konzept

Diversion meint im ursprünglichen technischen Sinn: Ableitung bzw. Umleitung von justiziellen Verfahren aus den üblichen formellen Verfahrensautomatismen in weniger formelle Kanäle. Dahinter verbirgt sich zunächst schlichtweg eine Strategie der Verfahrensökonomie. Die Justiz wird in die Lage versetzt, mehr Verfahren kosten- und zeitökonomisch zu bewältigen. Inhaltliches Postulat war der Abbau der freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Jugendlichen, die wegen Verwahrlosungserscheinungen (nicht wegen Straftaten) in den USA vor dem Jugendgericht landeten. Zu solchen Handlungen, die in der BRD in die Zuständigkeit der Jugendhilfe und damit bestenfalls in den Bereich des Vormundschaftsrichters fallen würden, gehören z.B. Schulschwänzen, Mißachtung elterlicher Erziehungsgewalt, Weglaufen von zu Hause, sexuelle Kontakte unter 17 etc … Diversion zielte also in erster Linie auf veränderte Reaktionen im Bereich moralischer Verfehlungen.

Als kriminalpolitisches Konzept ist sie nur verständlich, werden die parallel diskutierten Alternativen in die Überlegungen mit einbezogen. Hierzu gehörten im einzelnen:

1. die Nichtintervention: Verzicht auf justizielle Weiterverfolgung von Rechtsbrüchen Jugendlicher, mit dem Fernziel des generellen Abbaus von freiheitsentziehenden Sanktionen. Als Alternative wird eine Politik des reinen Angebots sozialpädagogischer Hilfe offeriert;

2. Entkriminalisierung: Abschaffung von bestimmten Rechtsnormen;

3. Diversion: Vermeidung förmlicher Verfahren bei geringen Verstößen Jugendlicher gegen geltendes Jugendrecht und informelle Reaktion darauf in behandlungsorientierten Programmen;

4. Depönalisierung: Absehen von Bestrafung in bestimmten Fällen ohne Änderung der Rechtsordnung;

5. Entkerkerung: Abbau des Gefängniswesens und Verzicht auf unbedingte Freiheitsstrafen;

6. Entinstitutionalisierung: Verzicht auf jede Form staatlicher institutioneller Freiheitsentziehung.

Hieran wird deutlich, daß Diversion gegenüber den anderen diskutierten Alternativen die systemfreundlichste Lösung darstellt, die weder das System als Ganzes gefährdet, noch sich prinzipiell gegen das System der geschlossenen Unterbringung wendet.

Im Sinn des von Thomas Mathiesen (Überwindet die Mauern; Darmstadt/Neuwied 1979, S. 184ff) verwandten Begriffs der Reformen, stellt Diversion eindeutig eine »reformistische Reform« dar, die das Bestehende rationaler macht, es modernisiert und auf diese Weise der Herrschaftssicherung und nicht dem Abbau von Herrschaft dient. Legt man die Klassifizierung von Gorz (Zur Strategie der Arbeiterklasse im Neo Kapitalismus, Ffm 1967, S. 44f) zugrunde, handelt es sich um eine positive, also systemstabilisierende Reform. Gleichzeitig wird eine erneute Grundlage für die Verfestigung einer Restgruppenideologie (der gefährlichen, nicht resozialisierbaren Straftäter) geliefert – freilich ohne dies explizit zu diskutieren -, die der Legitimation einer drastischen Sanktionspolitik dient. Die theoretischen Grundlagen dieser Strategie werden aus einer Vereinigung zweier, prinzipiell gegensätzlicher, kriminologischer Theorien hergeleitet: aus dem Etikettierungsansatz (labeling approach) und aus der lerntheoretischen Theorie von Sutherland (differential association), ohne eine integrative Verbindung dieser Theorie und der damit verbundenen Paradigmata zu leisten, die – sofern dies überhaupt erstrebenswert ist – nur auf der soziostrukturellen Ebene möglich ist. Gerade diese Fragen führen aber in den Bereich marxistischer Sozialtheorie, doch Überlegungen der Radikalen Kriminologie werden weder von den amerikanischen, noch von den bundesdeutschen Alternativtheoretikern angestellt.

Das Konzept der Diversion entstand in den USA aus der Arbeit der Task Force on Juvenile Justice and Delinquency Prevention, einem Unterausschuß der President’s Commission on Crime. Obwohl in dieser Kommission auch Arbeiten von Wissenschaftlern erörtert wurden, die etwa mangelnde Zugangschancen zu schulischer und beruflicher Bildung als Mitverursachung von Kriminalität anführten, waren die Empfehlungen dieser Kommission eindeutig individualistisch und nicht sozialreformerisch orientiert. Die Einbeziehung der Etikettierungsperspektive beschränkte sich auf das individualistisch orientierte Konzept Lemerts(4) zur sekundären Devianz. Die macht- und herrschaftstheoretischen Elemente dieses Ansatzes wurden nicht zum Gegenstand der Diskussion. Die Krise des Staates und der staatlichen Repression im Bereich der Delinquenz wurde unter Etiketten wie Behandlung und Therapie verschleiert. Besonders betont wurden als Mittel zur Verringerung von Kriminalität:

1. die individualistisch orientierte Resozialisierung des Täters, ohne soziostrukturelle Änderungen seiner Lebensbedingungen;

2. der Schutz der Gesellschaft vor Straftaten, durch Freiheitsentzug.

Diese kriminalpolitische Grundlage wurde im Bericht der Task Force on Juvenile Delinquency and Youth Crime durch eine Kategorisierung der delinquenten Jugendlichen in zwei Gruppen übernommen;

1. Jugendliche, die eine Gefährdung für die Gemeinschaft darstellen oder selbst gefährdet waren, sollten weiter unter der Jurisdiktion (und Sanktionsmacht) des Jugendgerichts verbleiben;

2. die harmlosen Fälle von Delinquenz und Delinquenten sollten in Gemeindeprogramme überwiesen und dort behandelt werden.

Mit diesen Empfehlungen ließ sich gleichzeitig die Doppelstrategie der harten Sanktionierung und weichen Kontrollausweitung, wie auch die Verfestigung der Behandlungsideologie legitimieren. Weitgehende Prämisse der amerikanischen behandlungsorientierten Sozialarbeit ist der unbedingt notwendige Eingriff und die damit verbundenen Resozialisierungsbemühungen bei jeder Art von Abweichungen.

Die Gruppe der Sozialarbeiter und Psychologen nahm diese Kriminalpolitik dankbar auf, da sie ihnen weitere Arbeitsplätze versprach und ihrem beruflichen Verständnis weitestgehend entgegenkam. Durch diese Strategien gelang es ihnen, einen Einbruch in die freie Marktwirtschaft – mit ihren kapitalistischen Maximen – zu erzielen und so quasi einen Angebotsmarkt zu erobern, der bei genügender public relation auch die Nachfrage bei der Justiz weckte. Der angeblich hilfsbedürftige Klient wurde zur existenz- und teils profitsichernden Ware, da ein Großteil der Privatanbieter sich in gemeinnützigen Resozialisierungs GmbHs organisierte, die solange existierten wie Gelder erreichbar waren. Änderten sich Finanzierungsrichtlinien, änderte auch die Gesellschaft ihre Struktur. Gleichzeitig war die Kommission durch solche Vorschläge davon befreit, soziale Mißstände zu untersuchen und öffentlich anzuprangern. Zusätzlich konnte eine weitere Ausweitung der folgenlosen Einstellung (screening) verhindert werden.

Was geschaffen wurde, war eine Form außerjustizieller, privater Strafvollstreckung, die charakterisiert ist durch die Überwachung und Vollstreckung von Sanktionen in der Lebenswelt der Delinquenten, durchgeführt durch Spezialisten im Umgang mit der Eindämmung sozialer Widerstandspotentiale: Sozialarbeiter, Psychologen und Mediziner. Stan Cohen charakterisiert dieses System treffend als »Punitive City«. Innerhalb der Gemeinde, die als (existentes) abstraktes Ideal sozialer Ordnung stilisiert wird, erfolgt die Reproduktion derselben Zwangsmerkmale, die man angeblich beseitigen wollte, bei gleichzeitiger Erweiterung des Kontrollpotentials.

Diese Interventionen sollten zum frühest möglichen Zeitpunkt erfolgen(5) und falls erforderlich, bestimmt von den Sozialkontrolleuren, auch die gesamte Familie umfassen. Den im Bereich Diversion tätigen Sozialarbeitern und Programmbetreibern wurde eine nie dagewesene Macht zuteil, die sie dankbar aufnahmen.

Diversion im Kontext
der sozial- und krimi­nal­po­li­ti­schen Lage in den USA

Die sozialpolitische Krise der 60er Jahre in den USA ist in ihren nationalen Konsequenzen mit der Weltwirtschaftskrise vergleichbar. Das Elend war zu Beginn der 60er Jahre in den USA so offensichtlich geworden, daß Kennedy sich entschloß einen »Feldzug gegen die Armut« (War on Poverty) zu initiieren. Nach dessen Ermordung führte Johnson diesen Feldzug, von dem die Armen außer leeren Versprechungen kaum etwas erhielten, fort. Seine öffentliche Erklärung: »Wir werden erst ruhen, wenn es in diesem Land keine Armut mehr gibt«, war, wie die weitere Entwicklung bestätigt, nichts als Propaganda. Mitte der 60er Jahre lebten 40% der indianischen Bevölkerung in Armut, 42% aller farbigen Kinder und 60% aller unter der Armutsgrenze Lebenden waren Kinder. 1968 betrug das Durchschnittseinkommen für schwarze Familien jährlich US $ 1000, für indianische Familien US $ 1500 und US $ 3000 für 2/3 der mexikanischen Familien, während die Armutsgrenze für eine Familie mit zwei Kindern US $ 3500 jährlich betrug. Man kann sich nur in etwa vorstellen, in welchem Elend der überwiegende Teil der amerikanischen Minderheiten am Wohlstand der Reichen zugrunde ging. Die Doppelzüngigkeit der kriminalpolitischen Liberalisierung läßt sich an wenigen qualitativen Beispielen verdeutlichen.

1967 erhielt der damalige Gouverneur des Bundesstaates Kalifornien und heutige Präsident der USA, Ronald Reagan, einen Betrag von 20 Millionen US $ von der Filmgesellschaft 20th Century Fox, deklariert als Kaufpreis für ein (wertloses) Stück Land. An dem Tag, als Reagan das Geld erhielt, stellte er einen Haushaltsplan auf, in dem sein Gehalt erhöht wurde, während die Zuschüsse zu Schulmahlzeiten bedürftiger Kinder fast gänzlich gestrichen wurden, ebenso wie die 79 Cent Zuschuß für die Mahlzeiten von behinderten Kindern, die in staatlichen Einrichtungen untergebracht waren. Die Mahlzeit, die von der Kürzung betroffen war, bestand aus: »… wässrigen Marinebohnen, Krautsalat, einer dünnen Scheibe an den Rändern vertrockneter Salami, einer Scheibe Brot und einer Tasse Milch.« (L. de Mause, Reagans Amerika; Ffm 1984, S. 67).

Die politischen Ereignisse, die die Diversionsentstehung begleiteten, waren die Ermordung John F. und Robert Kennedys, die Bürgerrechtsbewegung, der Vietnamkrieg, die Ermordung Martin Luther Kings und die von Malcolm X, die Ermordung der 4 Studenten der Kent University bei einer Demonstration durch Polizei und Nationalgarde, die Übergriffe von Polizei und Nationalgarde beim Parteitag der Republikaner in Chicago 1968, sowie die Besetzung von Alcatraz und Wounded Knee durch Indianer und schließlich Watergate.

Während man die Revolte der Farbigen noch durch unvorstellbar brutale Polizeieinsätze niederknüppeln bzw. -schießen konnte und dies bei der Mehrheit der weißen Bevölkerung auf Zustimmung stieß, drohte der amerikanischen Gesellschaft die größte Gefahr von den Revolten an den Universitäten und Oberschulen. Hieran waren überwiegend weiße Mittel- und Oberschichtsangehörige beteiligt, die nicht ohne weiteres massenhaft kriminalisierbar waren. Gerade diese Gruppe zeigte aber massenhaft Verhalten im Sinn der Status Offenders und wandte sich zudem offen dem Drogen- bzw. Alkoholkonsum zu. Die Kluft, die sich hier zwischen der Welt der Erwachsenen und der Jugend auftat, läßt sich wiederum an einer Aussage von Reagan darstellen: »… diese Advokaten sexueller Ausschweifung, Drogengenuß und unflätiger Sprache, die nichts im Sinn haben, als die akademische Gemeinschaft zu ruinieren, müßten unverzüglich unter Kontrolle gebracht werden… Die Kluft zwischen deren Moral und unserer ist so eklatant geworden, daß man sie nicht länger ignorieren kann«. Zu den Unruhen in Berkley sei Reagan’s allgemein bekannter Satz angeführt: »Wenn’s ein Blutbad sein muß, dann gleich…« (s. de Mause, a.a.O. ‚ S. 65 u. 69). Die hier angeführten Beispiele aus Kalifornien sind deshalb interessant, weil dieser Bundesstaat nicht nur die namhaftesten Diversionstheoretjker (Klein, Lemert) an seinen Universitäten beschäftigte, sondern auch durch eine Reihe liberaler Experimente im kriminalpolitischen Bereich (auch der Diversion) bekannt wurde. Heute steht Kalifornien an 5. Stelle der Arrestraten und an 18. Stelle der Strafvollzugsraten. Konservative Staaten, die übrigens auch sehr großen Widerstand gegen Diversionsbestrebungen zeigten und sich teils weigerten, diese Strategie zu übernehmen, rangieren weit hinter Kalifornien. So steht Texas bei den Arrestraten an 21. und bei den Strafvollzugsraten an 33. Stelle.

Nun gab es trotz des massenhaften Anfalls von Delinquenz kein unmittelbares Bedürfnis nach Diversion, solange der Jugendrichter und die Polizei noch uneingeschränkte Machtbefugnisse innehatten. Diese wurden aber gerade in der Zeit von 1966 bis 1968 durch Entscheidungen der amerikanischen Bundesgerichte (vor allem durch die Fälle Miranda, Kent, Gault) drastisch beschnitten. Der Jugendliche bekam erstmals Rechte, die Erwachsenen in den Verfahren seit längerem zustanden, wodurch das Jugendstrafverfahren zunehmend formalisiert und kontrollierbar wurde. Durch diese Formalisierung war es nun erforderlich, daß selbst bei Status Offendern ein formell einwandfreies Verfahren durchgeführt werden mußte, was die selektive Sanktionierung der Unterschichtler erschwerte. Hinzu kam eine restlose Überlastung der freiheitsentziehenden Einrichtungen auch bei Jugendlichen. So bot sich aus der Sicht des Justizpraktikers die vorgeschlagene Art der Diversion (Ableitung des Falles ohne formelles Verfahren in ein außerjustizielles Behandlungsprogramm) nahezu an, da sie effektiv (Verfahrensentlastung, keine fmalisierten Verurteilungen etc.) und kostengünstig (durch die private Durchführung der Auflagen) war. Gleichzeitig hatte die Justiz weiterhin die Kontrolle über Klientel und Programme, da sie für die Zuweisung zuständig war. Es trat also weder ein Macht- noch ein Kontrollverlust ein. Im Gegenteil wuchs durch die informelle Erledigungsmöglichkeit der Fälle die Verarbeitungskapazität der Justiz, so daß wesentlich mehr Jugendliche staatlicher Sozialkontrolle unterworfen wurden als je zuvor. Dieser Effekt wird in der englischen Literatur als »net-widening« (Erweiterung des Netzes sozialer Kontrolle) bezeichnet. Die Konsequenz der Verfeinerung des Netzes sozialer Kontrolle und die verfassungs- und verfahrensrechtlich bedenkliche Praxis von Diversion werden auch von den hiesigen Befürwortern dieser Strategie nicht bestritten(6).

Diversion aus politisch-­öko­no­mi­scher Perspektive

Während der Etikettierungsansatz sich auf die Konsequenzen sozialer Kontrolle konzentriert, setzt eine politisch-ökonomische Analyse bei den ökonomischen und materiellen Bedingungen, sowie ihren rechtlichen und politischen Begleiterscheinungen als Determinanten sozialer Kontrolle und somit auch der Etikettierungshandlungen an. Eine solche Perspektive ist umfassender, als die teils rein technischen Wirkungs(losigkeits-)-analysen. Sie bietet zudem die Möglichkeit, im Rahmen genereller Perspektiven, nationale Geschehnisse auf internationale Paralellen hin zu untersuchen, die Nachweise erlauben, inwieweit Strategien sozialer Kontrolle ökonomischen Bedingungen unterworfen sind. Aus dieser Perspektive betrachtet stellen die USA einen Wohlfahrtskapitalismus, der mittels seines Staatsapparats die minimalen Überlebensstandards für den »sozialen Abfall« bereitstellt, dar. Private profitorientierte Unternehmer stellen die Innovationen sozialer Kontrolle bereit, die zur Erhaltung des Mythos einer Liberalisierung erforderlich sind. Diese Privatisierung vollzieht sich in einem prozeßhaften Verlauf(7), der in den USA zunächst im Bereich der alten Menschen und psychisch Gestörten einsetzte. Diese Strategie ermöglichte es dem Staat gleichzeitig staatliche Einrichtungen zu betreiben und durch Bereitstellung finanzieller Anreize die Einrichtung privater, stationärer Programme zu fördern – die aus einer Kosten-Nutzen-Analyse immer noch billiger sind als staatliche Bürokratien – und so Klienten von einem System ins andere zu transferieren. Diese Transinstitutionalisierung wurde als Deinstitutionalisierung deklariert und statistisch durch die Abnahme der staatlich Untergebrachten belegt(8). Es entwickelte sich ein »hidden system« sozialer Kontrolle. Zenoff/Zients berichten (in: George Washington Law Review, Vol. 51, 1983, S. 171), daß 1975 mehr als 95 000 Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der psycho-medizinischen Hilfe untergebracht waren. Davon befanden sich nur ca. 25 000 in staatlichen Einrichtungen.

Die Entwicklung dieses privaten Marktes läßt sich auch anhand der Anzahl der Einrichtungen belegen. Im Bereich der alten Menschen waren 1969 56% der Betroffenen in staatlichen Institutionen und 44% in privaten, 1973 waren 29% in staatlichen Einrichtungen und 71% in privaten untergebracht9. 1982 waren 63% dieser Klienten in staatlichen Einrichtungen und 37% in privat betriebenen. Hinzu kommt eine riesige Zahl von Kindern und Jugendlichen, die im Bereich psychiatrischer Unterbringung verschwinden, wozu keine Statistiken geführt werden.

Für die USA läßt sich festhalten, daß im Rahmen der Diversion nie eine relative Abnahme der freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Jugendlichen – was ja auf die Status Offenders bezogen eine der Diversionsprämissen war – stattgefunden hat. Die vermeintlich reale Abnahme der freiheitsentziehenden Sanktion bei Jugendlichen ist vielmehr auf einen Rückgang des entsprechenden Bevölkerungsanteils und eine Verlegung der weiblichen Delinquenten von öffentlichen in private Einrichtungen zurückzuführen. Die Transinstitutionalisierung hat somit auch ein sexistisches Element. Durch Diversion ist es auch nicht zu einer Verringerung der jugendgerichtlichen Verfahren, trotz des sinkenden Bevölkerungsanteils, gekommen, wie die offiziellen Statistiken ausweisen – wobei hier zu bedenken ist, daß es sich um Schätzungen handelt, die auf systematisch unterschätzten Zahlen beruht, so daß die Verfahrenszahlen real noch höher sein dürften.

Auswir­kungen der Diver­si­onss­tra­tegie

Diversion und andere »Alternativen« haben in den USA zu einer massiven Erweiterung sozialer Kontrolle geführt, ohne einen Rückgang freiheitsentziehender Maßnahmen zu bewirken. Versuche, diese Strategie auf nationaler Ebene umfassend zu analysieren, sind aufgrund der qualitativ unzulänglich vorhandenen Daten gescheitert(10). Einzelne qualitative Beispiele belegen jedoch den Trend. So stellt Blomberg (in: Journal of Crim. Law and Criminology 1977, S. 274ff) fest: »Der Großteil der Klienten der Diversionsprogramme wurde ‚Präventionsklienten` genannt – solche Jugendliche, die nicht ins System geraten wären, denen aber in Diversionsprogrammen BEHANDLUNG zu Teil wurde, um zukünftige Delinquenz zu verhüten«. Scull (Die Anstalten öffnen? Decarceration der Irren und Häftlinge; Ffm 1980) beschreibt den Gesamttrend am Beispiel Floridas. Dort betrug 1965 die Anzahl der Gefängnisinsassen 6969 Personen, denen 8840 Personen gegenüberstanden, denen unter verschiedenen Bedingungen Haftverschonung gewährt wurde. 1975 befanden sich 11335 Personen in den dortigen Gefängnissen, aber die Zahl der »alternativ« Kontrollierten betrug 54412, was einer Steigerung von ca. 500% entspricht. Palmer et al.(11) kommen in ihrer Evaluation des kalifornischen Experiments zum Ergebnis, daß ca. 51% der beteiligten Jugendlichen nach der Hauptverhandlung zu (irgendeiner) Sanktion verurteilt worden wären, 49% aber ohne weitere Intervention entlassen worden wären, wenn es Diversion nicht gegeben hätte.

Auch deutsche Autoren belegen eindrucksvoll die Ausweitung der Kontrolle auf die gesamte Familie(12). Castel et al. ziehen ein vernichtendes Resumee: »Das Paradoxe an diesen ‚Alternativen` ist, daß sie bis auf wenige Ausnahmen nicht dazu beigetragen haben, die Gefängnisse zu leeren und daß sie die Zahl derer vervielfacht haben, die der Zuständigkeit der Justiz unterliegen … Die Berücksichtigung psychologischer Dimensionen unabhängig vom objektiven Tatbestand des Delikts hat also zur Folge, Populationen, die am weitesten von den Lebensmodellen der Mittelschicht entfernt sind, noch unbarmherziger zu stigmatisieren« (Die Psychiatrisierung des Alltags, Ffm 1982, S. 200f). Daß die nationale kriminalpolitische Liberalisierung nicht allzu ernst gemeint war, zeigt auch das seit Mitte der 70er Jahre betriebene riesige Ausbauprogramm des Strafvollzugs. Seit dieser Zeit sind mehr als 800 neue Strafanstalten mit 50000-60000 Haftplätzen im Bau bzw. in der Planung, wobei ein Haftplatz ca. 60 000 US $ kostet. Die Zahl der Gefangenenpopulation stieg allein in den Staats- und Bundesgefängnissen (ohne Berücksichtigung der örtlichen Jails) von 187 614 im Jahr 1968 bis auf 280 677 im Jahr 1976. 1983 wurde die Rekordhöhe von 483 830 Gefangenen erreicht. Es hat in den USA somit nie eine generelle Liberalisierung in der Kriminalpolitik gegeben.

Ein anderes Argument zur Rechtfertigung der praktizierten Interventionsdiversion ist das der Rückfallsenkung. Dies scheint mir bereits im Ansatz fragwürdig, da der Erfolg eines Programms an Klienten gemessen wird, bei denen konstatiert wird, sie seien in den traditionellen Verfahren von vorne herein fehl am Platz. Kobrin und Klein erklären zurecht: »Wir messen weder die Effektivität von Bewährung gegenüber nicht verurteilten Erwachsenen, noch die Wirkung von Drogenprogrammen auf nicht Abhängige. Warum sollte man dann die Wirkung der Entinstitutionalisierung bei Jugendlichen messen, für die eine solche höchst unwahrscheinlich und unsinnig wäre?«(13)

Dunford, vom Behavioural Research Institut in Colorado, hat jetzt eine bereits 1977 beendete Studie(14) veröffentlicht, in der wichtige Ergebnisse – auch für die bundes-deutsche Planung – unterteilt werden. Dunford hat mit sehr exakten statistischen Verfahren (random assigment) 11 vom Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention geförderte, quer über die USA verteilte, Diversionsprogramme untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, daß »diversion to nothing« (also Nonintervention) die kriminalpolitisch sinnvollste Strategie ist. Bei den Jugendlichen, auch solchen mit schweren Taten, zeigten solche, die in Interventionsprogrammen (Freizeitbereich, Schulbereich, Beratung) waren, keine besseren Ergebnisse, als die, bei denen keinerlei Intervention (außer der polizeilichen Entdeckung der Tat) erfolgte. Gerade dem, auch bei uns in letzter Zeit so gelobten Bereich, der Freizeitintervention im Rahmen von Diversionsprogrammen bzw. ambulanten Alternativen(15) ist eine große Skepsis gegenüber angebracht. Dunford stellt fest, daß die Jugendlichen, die in solchen Programmen behandelt wurden, ein erheblich größeres negatives Selbstbild bekommen hatten, als die anderen Jugendlichen in den Vergleichsgruppen. Schließlich konnte Dunford keinen Unterschied zwischen weiteren Straftaten (polizeilich registriert und Selbstmeldeergebnissen) und Grad der Interventionsintensität nachweisen. Auch unter Stigmatisierungsaspekten schnitt keine der Interventionsalternativen besser ab, als die Nonintervention. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da Analysen von Sozialarbeitstechniken deren Wirkungslosigkeit bei Delinquenz nachweisen(16).

Schließlich ist noch ein weiterer Aspekt bei der Bewertung von Reformen zu berücksichtigen. Wirkliche Reformstrategien neigen einerseits dazu, von den Praktikern deren Bedürfnissen angepaßt zu werden und somit ziel- und zweckentfremdete Umsetzung zu erfahren. Diese Erkenntnis läßt sich aus dem Wissen der Organisationssoziologie ableiten, wo bei Bürokratien eine Verlagerung der Mittel-Ziel-Relation erfolgt und die Mittel schließlich zum Ziel der Unternehmung werden. Rothmann zeigt dies für die ameri-kanischen Reformbestrebungen(17).
Ein weiterer wesentlicher Punkt bei der Einschätzung der Wirkung von Reformen sind deren Langzeitkonsequenzen. Hier zeigt vor allem die historische Analyse, daß gescheiterte Reformbestrebungen und -modelle immer wieder als Nachweis für das generelle Versagen liberaler Strafrechtspolitik angeführt werden und so auf Reformperioden mit rigider Strafpolitik reagiert werden kann(18).

Dies sollte um so mehr zum Nachdenken über den Charakter und Inhalt von Reformen Anlaß geben, bevor man sich blind auf die »neue« Strategie stürzt, nur weil sie angeblich alternatives verheißt und den eigenen, subjektiven Therapiegelüsten entgegen kommt.

Als Konsequenzen der Diversionsstrategie in den USA sind somit festzuhalten:

  • Diversion hat das Netz sozialer Kontrolle verfeinert und massiv erweitert;
  • Diversion hat keine Verringerung der geschlossenen Unterbringung bewirkt, sondern war Teil einer Strategie der Transinstitutionalisierung, von der in besonderem Maße weibliche Delinquente betroffen waren und sind;
  • Diversion hat eine weitere Entrechtung der delinquenten Jugendlichen durch Therapeutisierung und Individualisierung sozialer Probleme bewirkt.

Verweise

1 vgl. hierzu vor allem die Beiträge in: Kury, H. / Lerchenmüller, H. (Hg.): Diversion  Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, 2 Bde.; Bochum 1981
2 Blau, G.: Die Erledigung von Straffälligkeiten Jugendlicher außerhalb des Strafverfahrens; in: DVJJ, Regionalgruppe Hessen (Hg.): Referate der IX. Hessischen Studienwoche für Jugendkriminalrechtspflege; Eigenverlag 1985, S. 11
3 vgl. M. Walter: Buchbesprechung von: H.-J. Kerner (Hg.): Diversion statt Strafe?; in; MschrKrim 4/1984, vgl, die Beiträge von Kerner, Janssen, ~ Voss‘ in: H.-J. Kerner: Diversion statt Strafe?; Heidelberg 1983;H. Janssen: Diversion im Jugendstrafrecht als kriminalpolitische Alternative?; olitische Alternative? • in: Kriminalstatistik 4/1985,5. 208 ff; M. Voss: Die ambulanten Hilfen auf dem Prüfstand: Mehr Hilfe oder mehr Kontrolle?; in DVJJ (Hg.): Jugendgerichtsverfahren und KriminalPrävention> • Schriftenreihe der DV
JJ> Neue Folge Heft 13, München 1984, S. 341 ff
4 eine gute Darstellung des »labelig approach« findet sich bei: W. Ferchhoff/F. Peters: Die Produktion abweichenden Verhaltens; Bielefeld (AJZ) 1981
5 vgl. H. Janssen in H.-J. Kerner> a.a.O.; M. Klein: A Judicious Slap on the Wirst, • 1985, S. 367 ff; M. Wambach (Hg.): Der Mensch als Risiko — Zur Logik von Prävention und Früherkennung; Ffm 1983
6 vgl. stellvertretend: M. Walter: Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität. Zur kriminologischen9 kriminalpolitischen und insbesondere dogmatischen Bedeutung von Diversion, • in ZStW 1983, S. 33 ff, vgl. P. Lermann: Deinstitutionalization and the Welfare State, • New Brunswick (Rutgers UniversitY Press) 1982; P. Guttrige/ C. Warren: Adolescent PsYchiatric Hospitalization an Social Contro1, • in: C. Templin (Ed.): Mental Health and Criminal Justice, • Sage 1984
8 vgl. B. Krrsberg / 1. Schwartz: Rethinking Juvenile Justice, • in: Crime and Delinquen
cy 1983, S. 333 ff
9 Tenecron Inc.: Improving California’s Mental Health System, BerkleY C.A. 1978
l0 vgl. M. Klein: Deinstitutionalization and Diversion of Juvenile Offenders, • in: N. Morrrs / M. Tonry (Ed.): Crime an Justice. An Annual Review of Research, Vol. 1, • Chicago, London 1979, S. 145 ff
11 Palmer et al.: California Dept. of the Youth A uthoritY – The Evaluation of Diversion ProJects – Exe cutive SummarY of the Final Report; ort• Washington D.C. 1978
12 vgl. hierzu: N. Herriger: Familienintervention und soziale Kontrolle, • in. • Kr‘
1mJ 1980, S. 283 ff, sowie B.
Sonnen: Diversion – Wege zur Vermeidung des förmlichen Verfahrens, . • in: • DVJJ (Hg.). Die jugendrichterlichen Entscheidungen. Anspruch und Wirklichkeit; Schriftenreihe der DVJJ, München 1981 , 5.177 ff
13 S. Kobrin / M, Klein: National Evaluation of the Deinstitutionaliz
ation of Status Offenders, Vol. I4 NJJDP; Washington D.C. 1980, Kap. 29 S. 2
14 F. Dunford et al.: The Impact of Diversion and Diversion Services; unveroffentl, Vortrag, gehalten auf der Tagung der Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie, San Francisco, C.A. 1980
15 vgl. hierzu die Berichte über das Modellprojekt Uelzen – zuletzt: Neue ambulante Maßnahmen nach § 10 JGG in Niedersachsen, hg. v. Niedersächsischen Minister der Justiz, Hannover 1985
16 D. Roming ~ : Justice for Our Cildren• Lexington 1978
“ D. Rothmann: Conscience and Convenience: Th ‚
e Asylum and rt’s Alternatives m Progesslve America° , Boston 1980
16 vgl. E. Doleschal: The Dangers of Criminal Justice Reform, • in. • Cr’m‘
~mal JustXCe Abstracts,1982, 5.133 ff

nach oben