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Baden-Würt­tem­berg - Triage in der Covid-19-Pan­demie

Mitteilungen24408/2021Seite 17-19

In: Mitteilungen 244 (01/2021), S. 17 – 19

Triage in der Covid-19-Pandemie

Am 21. April 2021 fand im Rahmen der Vortragsreihe “Tacheles” der Humanistischen Union Baden-Württemberg eine Online-Veranstaltung statt. Die HU hatte Prof. Dr. Jörg Arnold, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg eingeladen, der zum Thema : “Triage in der Covid-19-Pandemie: Nur theoretische Debatte oder bereits Realität (insbes. bei Menschen mit Behinderung)?”referierte.

Als Triage wird das Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung bei unzureichenden Ressourcen, etwa aufgrund überfüllter Intensivstationen, bezeichnet. Es geht also um Situationen, in denen Ärztinnen und Ärzte entscheiden müssen, wen sie behandeln und wen nicht. Die Corona-Pandemie hat die Diskussion um das Verfahren und die Kriterien der Priorisierung massiv angeheizt. Nicht nur in der Rechtswissenschaft scheint die Triage ein neues Modethema zu sein, auch die Geisteswissenschaften und insbesondere die (Medizin-)Ethik sehen sich mit neuen und nicht abschließend geklärten Fragen konfrontiert.

Entsprechend behandelte der Referent des Vortrags das Thema auch keineswegs allein aus juristischer Sicht. Vielmehr zeigte er auf, dass es gerade in der Debatte um die Triage wichtig ist, sich den gesellschaftspolitischen Rahmen vor Augen zu führen, in dem Triage-Situationen stattfinden und der mit zum Entstehen dieser Situationen beiträgt. Wer also “von Triage reden will, darf weder von der Corona-Politik noch vom real existierenden Kapitalismus schweigen”.

Und so verließ der Referent zunächst seine strafrechtswissenschaftliche Provenienz und wagte eine “Tour d’Horizon” durch Politik, Ökonomie und Gesellschaft, bevor er zu der Triage-Thematik Stellung bezog. Er kritisierte zunächst die schon seit langem vor der Pandemie anhaltende Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Er sprach zudem die durch die Pandemie bzw. die Corona-Politik beförderte gesellschaftliche Spaltung und die Vertiefung sozialer Schieflagen an.

Die Corona-Politik von Bund und Ländern beleuchtete Arnold differenziert. Er hob einerseits hervor, dass wir weder in einer Corona-Diktatur noch in einem Ausnahmezustand leben. Die Pandemie stelle eine reale Gefahr dar, der begegnet werden müsse. Andererseits müssen jedoch juristische wie gesellschaftliche Bedenken an den zum Teil tiefen Eingriffen in die Grundrechte der Bürger*innen berücksichtigt werden. Es müsse zudem Sorge dafür getragen werden, dass die – aktuell noch notwendigen und gerechtfertigten – Grundrechtseingriffe nach der Pandemie zurückgenommen werden.

Im zweiten Teil des Vortrags kam Arnold zur Triage und richtete seinen besonderen Fokus auf die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung. Sein Ausgangspunkt war das dem Grundgesetz zu entnehmende Prinzip der Lebenswertindifferenz. Aus diesem folge, dass eine utilitaristische Bewertung des Lebenswertes und eine Abwägung zwischen verschiedenen Leben nicht zulässig sind. Ein 90-jähriger kranker Mann hat daher kein geringeres Lebensrecht als ein 5-jähriger gesunder Junge. Dieser Grundsatz gelte freilich nicht allein hinsichtlich des Alters, sondern er sperre jegliche materielle Differenzierung nach dem Lebenswert. So sei auch die Abwägung zwischen dem Leben eines 35-jährigen Behinderten und eines 50-jährigen Nicht-Behinderten nicht zulässig.

Sodann fragte Arnold, was aus diesem Grundsatz für die zulässigen Kriterien zur Entscheidung in Triage-Fällen abzuleiten sei. Jedenfalls die Berücksichtigung der “klinischen Erfolgsaussichten” sei, so Arnold, angesichts der potenziell diskriminierenden Wirkung nicht geeignet. Ein mögliches Kriterium könne die Dringlichkeit der Behandlung sein, wobei diese schwer abzuschätzen sei und daher häufig unterstellt werden müsse. Lediglich Erkrankte, deren Überleben völlig aussichtslos sei, dürften hiernach “zurückgestellt” werden. Als Alternative bliebe womöglich nur die Zufallsentscheidung.

Arnold plädierte schließlich dafür, gesetzliche Regelungen zur Triage einzuführen. Er sprach sich zwar nicht für einen Katalog an positiven Kriterien aus, aber verlangte, dass – negativ – festgelegt werden müsse, welche Kriterien nicht in Triage-Situationen herangezogen werden dürfen.

Sogar dem Strafrecht wollte Arnold schließlich Triage-Entscheidungen unterwerfen, wenn bei diesen dem Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderung zuwidergehandelt werde. In diesen Konstellationen solle das Strafrecht allerdings nur eine symbolische Wirkung zur Normstabilisierung entfalten. Es solle also die Botschaft senden, dass auch Diskriminierungsunrecht strafbar sei.

Jakob Bach, Freiburg

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