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Die Bewußt­ma­chung freiheit­li­cher Geschich­te/­Ge­schichte aus der Sicht der Unter­drückten

Gustav Heinemann und das Rastatter Freiheitsmuseum

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S. 89-92

Geschichte aus der Sicht der Unters­drückten

Am 26. Juni 1974 wurde vom damaligen Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann in Rastatt die ständige „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte” eröffnet. Heinemann hatte seit seinem Amtsantritt – aus Anlaß des 20. Juli 1969 in Berlin-Plötzensee, vor dem Landtag in Stuttgart am 3. 11. 1969, bei der Bremer Schaff ermahlzeit drei Monate später, schließlich 1971 zum 100. Jahrestag der Reichsgründung – immer wieder einen zentralen Gedanken betont: Geschichte wird von den Sie-gern geschrieben – zu Lasten der Besiegten; und von den Herrschenden – gegen die Interessen der Unterdrückten. Gegen diese Tatsache setzte Heinemann die Forderung – von ihm stets als Aufforderung an seine Mitbürger formuliert -‚ die eigene Geschichte neu zu begreifen, sich der eigenen demokratischen Traditionen bewußt zu werden, denn, so Heinemann:

Traditionen gehören nicht „in die alleinige Erbpacht von Reaktionären, obgleich diese am lautstärksten von ihnen reden … Einer demokratischen Gesellschaft, so meine ich, steht es schlecht zu Gesicht, wenn sie auch heute noch in aufständischen Bauern nichts anderes als meuternde Rotten sieht, die von der Obrigkeit schnell gezähmt und in die Schranken verwiesen wurden .. . Es ist Zeit, daß ein freiheitlich-demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt“(1).

Heinemanns systematische Bestrebungen, zu solcher Bewußtwerdung Anstoß zu geben, fanden am Ende seiner Amtszeit ihren materiellen Ausdruck in der Schaffung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte.

Heinemanm: „Keine neue Helden­ga­lerie”

Das Projekt, das seither von über 80000 Personen besucht wurde, stellt den Versuch dar, die demokratisch-republikanische und revolutionäre Tradition Deutschlands in das zeitgenössische Bewußtsein zu heben. Im Rastatter Schloß, das die Ausstellung beherbergt, fand 1 849 das letzte Gefecht der revolutionären Truppen gegen die militärische Übermacht der preußischen Konterrevolutionäre statt. Unter den Opfern der Volkserhebung befand sich auch ein Vorfahre Gustav Walter Heinemanns, der Elberfelder Carl Walter Heinemann. In seiner Eröffnungsrede erinnerte Heinemann daran, daß die Verfassung der Paulskirche die einzige in Deutschland ist, die von einer Volksbewegung mit Waffen verteidigt wurde. Über Sinn und Funktion der Erinnerungsstätte sagte Heinemann:

„Sie soll kein totes Museum sein, sondern eine lebendige Stätte der Anschauung und Begegnung. Was es in unserer Geschichte an Freiheitsbewegung gegeben hat, soll hier in jeweils neuer Form anschaulich gemacht werden, und alle sind aufgerufen, sich daran zu beteiligen, zumal die Jugend mit eigenen Beiträgen und eigener Kritik .. . Eine stumme Heldengalerie, ein Walhalla deutscher Freiheit ist nicht beabsichtigt. Schweigende Verehrung wird nicht erwartet … Hier sollen weniger Antworten gegeben als Fragen gestellt werden. Dazu gehört natürlich auch diejenige nach den Ursachen des Scheiterns von so vielen Freiheitsbewegungen, nach den Kräften, die ihnen entgegenstanden, und nach deren Beweggründen. Nur so wird Geschichte als lebendige Kraft erlebt. Wer dies sagt, sagt auch, daß ausgewählt werden muß. Die .Auswahl gilt hier den deutschen Freiheitsbewegungen. Damit zeichnen sich die Schwerpunkte ab. Was, abgesehen vom Bauernkrieg um 1525, zunächst vereinzelt auftrat, wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem machtvollen Strom, der eine Zeitlang die uralten Dämme der Herrschaft von wenigen überspülte. Wir denken an die deutschen Jakobiner, an die bürgerlichen Liberalen, an die radikalen Demokraten. Wir denken an die Studenten auf dem Wartburgfest 1817, an die Volksfeier auf dem Hambacher Schloß 1832, an das große Aufbegehren von 1848 und insbesondere von 1849“(2).

Wenn Heinemann anschließend darauf hinweist, die deutsche Freiheitsbewegung sei danach „vor allem in der entsagungsvollen, unermüdlichen Selbstbefreiung der Arbeiterschaft,, weitergetragen worden, und in diesem Zusammenhang zu Recht vermerkt, das 1871 „von oben” begründete Reich habe Einheit gerade nicht mit Freiheit verbunden, dann sind damit Tatbestände markiert, die einflußreiche Gruppen und Teile der Öffentlichkeit nach wie vor nicht wahrhaben wollen. Daß Heinemanns Initiative in Rastatt auch für solche Einsichten in die deutsche Geschichte steht, macht sie in diesen Kreisen umstritten. Über die daraus hervorgehenden Kontroversen wird abschließend noch ein Wort zu sagen sein.

Anlage und Aufbau des Museums

Träger der ständigen Ausstellung ist das Bundesarchiv Koblenz. An Finanzmitteln standen dem Bundesarchiv als Erstausstattung für das Rastatter Projekt nur DM 100 000 zur Verfügung. Seit diesem Zeitpunkt hat die Ausstellung einen jährlichen Etat von DM 15000. 1977 soll nach Angaben des Bundesarchivs ein Betrag von DM 75 000 zur Verfügung gestellt werden. (Zum Vergleich: Für die Ausstellung im ehemaligen Reichstagsgebäude in West-Berlin „1871-1971: Fragen an die deutsche Geschichte” brachte der Bund etwa 2 Millionen DM auf.)
„Die ständige Ausstellung ist in acht Räumen auf einer Fläche von 385 qm untergebracht. Sie zeigt auf 150 Stellwänden und in acht Vitrinen 567 Exponate, davon 287 Bilder, 258 geschriebene oder gedruckte Dokumente, 21 Karten und Graphiken und eine Fahne. Hinzu kommen zwei flurartige Räume. Dort befindet sich neben einer Filmvorf ühranlage mit 60 Sitzplätzen eine Einrichtung, über welche die Besucher – maximal jeweils 12 – Freiheitslieder und -gedichte vom Tonband abhören können. In einem Benutzerraum (Lesesaal) stehen den Interessenten rund 1000 Bände zur Verfügung; neben allgemeinen historischen Darstellungen wichtige Quellenpublikationen zur Geschichte der Freiheitsbewegungen und entsprechende Monographien, ferner publizistische Quellen aus dem 19. Jahrhundert, die nicht dauernd ausgestellt sind. Außerdem können rund 700 Arbeiten von Schülergruppen zur Geschichte der Revolution 1848/49 eingesehen werden, die im Wettbewerb um den Gustav-Heinemann-Preis für die Schuljugend 1974 eingerichtet wurden“(3).
Im einzelnen ist die Ausstellung folgendermaßen aufgebaut:

  1. Vom Absolutismus zum Deutschen Bund.
  2. Vormärz: a) soziale Entwicklung im Vormärz, b) Sammlung der politischen Kräfte.
  3. Revolution 1848/49: a) Märzrevolution; b) Volksvertretungen; c) Volksbewegungen.
  4. Kampagne für die Reichsverfassung im Frühsommer 1849.
  5. Die Reaktion in den 50er Jahren.
  6. Von der Reichsverfassung von 1849 zum Grundgesetz von 1949.

Quellentexte und Bilder werden durch Zwischentexte in den historischen Kontext gestellt. Auffallend für deutsche Verhältnisse ist: der sozialistische Beitrag zur demokratischen Bewegung wird nicht diffamiert, sondern einigermaßen angemessen dargestellt. Freilich mit der Kehrseite, daß auf der Schlußtafel 150 „Weimarer Verfassung und Grundgesetz” „politische Köpfe” von Lassalle bis Adenauer undifferenziert nebeneinander gestellt sind und die Bundesrepublik verfehlterweise im Sinne unmittelbarer historischer Kontinuität als höchster Ausdruck der Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte erscheint. In der Darstellung treten allerdings die auslösenden sozialen Bewegungen – einschließlich ihrer Demonstrationen, Streiks und Kämpfe, ihrer Frauen- und Kinderarbeit – häufig hinter die Darstellung politischer Höhepunkte und hinter der reichlichen Wiedergabe von Verfassungstexten zurück. Knappe, thesenartige Zuspitzung, deutliche Schwerpunktsetzung und klare Gliederung des Wesentlichen fehlen häufig oder lassen zu wünschen übrig.

Um die Zukunft der Erinne­rungs­stätte

Der Diskussion dieser Fragen, dem Ziel, die Konzeption der ständigen Ausstellung kritisch zu überprüfen, diente ein erstes Kolloquium, mit 47 Teilnehmern (Politikern, Historikern, Pädagogen, Museumsfachleuten und Archivaren), das auf Anregung Gustav Heinemanns am 19. 6. 1976 in Rastatt stattfand.
Von Heinemann, der selbst wegen Krankheit von einer Teilnahme absehen mußte, wurde ein Grußwort verlesen, in dem es hieß:

„Als die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte eröffnet wurde, war allen Beteiligten klar, daß hier mehr als lediglich ein Museum entstehen sollte. Die Aufgabe einer Verlebendigung der freiheitlichen Vorgänge deutscher Geschichte war mit der Gründung nicht abgeschlossen, sondern erst begonnen worden. Es bleibt zu prüfen . . . ‚ wie die Erinnerungsstätte fortentwickelt, verlebendigt und damit einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht werden kann“(4).

Die Diskussion über die Konzeption und die Wirkung der Ausstellung wurde unter drei Gesichtspunkten geführt:

  1. Wurden die Gründungsabsichten erfüllt?
  2. Wie kann und soll die Erinnerungsstätte ergänzt und ausgebaut werden?
  3. Wie kann ihre Wirkung in der Öffentlichkeit gesteigert werden?

Als Kernpunkt der Debatte schälte sich die Forderung heraus, eine didaktische Konzeption der Ausstellung zu entwickeln, Aussagekraft der Texte und Bilder zu steigern sowie die Aktualität des Ringens um Freiheitsrechte deutlich zu machen. Wenn es um die Darstellung von Volksbewegungen in der deutschen Geschichte geht, dann kann nicht der Aufbau einer allgemeinen historischen Ausstellung – mit notwendigerweise verwirrender inhaltlicher Vielfalt – das Ziel sein, sondern vielmehr eine Akzentuierung der Ausstellung auf thematische Schwerpunkte hin, die zur Diskussion und Auseinandersetzung reizen und durchaus auch Widerspruch herausfordern. In der bereits oben erwähnten Tafel 150 wird eine Verbindungslinie von dem Widerstandsrecht in der 1849er Verfassung zum Widerstandsrecht im Bonner Grundgesetz – beziehungsweise anläßlich der Verabschiedung der Notstandsgesetze in das Grundgesetz geschobene Widerstandsrecht – gezogen. Auf solche Verbindungslinien sollte man lieber verzichten, da hier die Gefahr der Falschmünzerei besteht. Wenn man schon historische Kontinuität von Freiheitsbewegungen beziehungsweise von reaktionären Gegenströmungen darstellen will, dann etwa von den Karlsbader Beschlüssen zum Radikalenerlaß – siehe die Rede von Gustav Heinemann in Hamburg im Oktober 1975 anläßlich der Verleihung des Lessing-Preises -‚ oder zu bestimmten Ereignissen während der Studentenbewegung und dem Kampf gegen die Notstandsgesetze, z.B. in Form einiger markanter Sätze aus der Rede von Werner Maihofer auf dem vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und der Industriegewerkschaft Metall organisierten Kongreß gegen die Notstandsgesetze im Mai 1965 in der Bonner Universität(5).
Noch ist fraglich, ob die Ausstellung in ihrer gegenwärtigen Form die vielbeschworene junge Generation wirklich erreicht, ob sie dem Betrachter „unter die Haut geht”, und ob sie sich zur anschaulichen Untermauerung des schulischen Geschichts- und Sozialkundeunterrichts eignet. Eine neue Konzeption der Ausstellung würde sicherlich mehr Raum (der im Südteil des Schloßmittelbaus zur Verfügung gestellt werden müßte) und beträchtlich höhere Mittel erfordern – von 1,5 bis 2 Millionen DM war die Rede. Insbesondere aber käme man dann um den Zusammenhang nicht herum, der von den Historikern Eberhard Kolb und Reinhard Rürup formuliert wurde: die Schaffung einer wirklichen Erinnerungsstätte für liberal-bürgerliche und sozialistische Freiheitsbewegungen ist nicht möglich ohne entschiedene „Parteilichkeit” im Sinne der von Gustav Heinemann formulierten grundsätzlichen Ansprüche.

Das Rastatter Projekt in der Kontroverse

Bedenkt man dies, dann nimmt es nicht wunder, daß in die Kontroversen, die Heinemanns Bemühungen um mehr Freiheit und soziale Demokratie seit seiner Wahl zum Bundespräsidenten auslösten, auch die Erinnerungsstätte hineingerät. Der Rheinische Merkur behauptete am 17. 5. 1974: „Im Bundesarchiv hieß es angesichts der Akkordarbeiten, die für Rastatt zu leisten sind, recht bissig: ,Es ist nicht vorauszusehen, ob sich in Zukunft noch ein Gremium findet, das weitere Mittel für die Launen des abgetretenen Bundespräsidenten bereitstellt`.” Obwohl diese angebliche Äußerung vom Bundesarchiv als falsch zurückgewiesen und mit einer Gegendarstellung gekontert wurde, wiederholte die Wochenzeitung in einem Artikel vom 6. 2. 1976 ihre Falschmeldung in verschärfter Form. Unter der Überschrift: „Das ,tote Kind` von Gustav Heinemann” stand nunmehr: „Vom Geldmangel und den Kompetenzschwierigkeiten abgesehen, hieß es im Koblenzer Bundesarchiv, das für die Gestaltung des Museums verantwortlich zeichnete, schon frühzeitig: ,Wir glauben kaum, daß es nach dem Abtritt des Bundespräsidenten noch wesentliche Geldmittel für seine Marotten gibt”.
Diese Äußerungen einer konservativen Presse stehen freilich nicht isoliert. Sie spiegeln eine anhaltende Bewußtseinsspaltung in der veröffentlichten Meinung, aber auch in Teilen der Bevölkerung der Bundesrepublik wider, die abschließend durch zwei Beispiele verdeutlicht werden soll. In der Erinnerungsstätte liegt ein Gästebuch aus. Darin kann man beispielsweise lesen: „Wir haben die Verfolgung von Demokraten und Sozialisten noch nicht überwunden, siehe Berufsverbote.” Darin befindet sich aber auch der Satz: „Das Militärmuseum ist leider viel zu klein im Gegensatz zu dieser Erinnerungsstätte”(6).

Verweise

1 Gustav W. Heinemann: Reden und Interviews. Hrsg: Bundespräsidialamt, Bonn 1970, S 77 ff.
2 Gustav W. Heinemann: Reden und Interviews (V). Hrsg: Bundespräsidialamt, Bonn 1974, S 162 ff.
3 Ivan Pfaff: Das Rastatter Freiheitsmuseum, in: Das Parlament Nr 22/29, Mai 1976.
4 Anlage 1 des Protokolls des Kolloquiums über die Ausgestaltung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte am 19. Juni 1976 im Schloß Rastatt, Hrsg: Bundesarchiv, Koblenz 1976.
5 Vgl Werner Maihofer: Die Demokratie vor dem Notstand, Protokoll des Bonner Kongresses gegen die Notstandsgesetze am 30. Mai 1965. Hrsg: Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), Frankfurt 1965.
6 Ebenfalls im Rastatter Schloß befindet sich ein Militärmuseum, Träger ist der Bundesminister für Verteidigung.

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