Publikationen / vorgänge / vorgänge 26

Die Literaten und die Münchner Rätere­pu­blik

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 79-89

aus: vorgänge Nr.26 (2/1977), S. 79-89

Von der Literatur zur Politik

Die Literaten der Münchner Räterepublik sind nicht durch den Zusammenbruch des Hohenzollernreiches zur Literatur erweckt worden. Es ist zu ihrer Beurteilung wichtig zu wissen; daß sie nicht erst aus Reaktion auf den politischen Umsturz zu schreiben begonnen haben, in dem Sinne etwa, wie Sergej Eisenstein von sich bekannt hat, durch das Revolutionsjahr 1917 zur Kunst gekommen zu sein. Sie haben vorher geschrieben und dabei Ungleiches hervorgebracht. Carl Einstein, Alfred Wolfenstein, Oskar Maria Graf waren Schriftsteller, ehe sie Politiker wurden, und einige von ihnen suchten, wie Kurt Eisner, Erich Mühsam, Gustav Landauer, Silvio Gesell, Ernst Niekisch, Ret Marut (vermutlich der spätere B. Traven), Eugen Levine, ihre schriftstellerische Produktion mit sozialer Theoriebildung zu verbinden. Sie waren politische Publizisten. Ernst Toller hat bekannt, erst durch den Krieg zur Politik gekommen zu sein. Der Krieg, das organisierte legale Massenmorden, hat ihn politisiert; aber er war ein junger Dichter vorher, wie viele.
Der Gegensatz der friedlichen Tätigkeit des Schreibens zu der Fortsetzung der Politik mit Mordinstrumenten ist offensichtlich; aber das heißt nicht, daß alle Schreibenden Kriegsgegner waren und wären. Die politische Präsentation des Vorkriegseuropa hatte etwas Gespenstisches, wie der damals 21 jährige Carl Jakob Burckhardt beim Begräbnis des Prinzregenten Luitpold in München wohl merkte. Er sah das Aufgebot der Fürsten vorbeischreiten und schrieb: „Sie verschwanden vor unseren hohen Fenstern langsam und unheimlich wie die Könige vor Macbeth. Es war verwunderlich, daß der Letzte im Zug nicht einen Spiegel in der Hand hielt und daß man die drei Hexen nicht wispern hörte.”
So kam der Krieg für viele wie eine Lösung. Hermann Hesse mußte die Kollegen ermahnen: „Freunde, nicht diese Töne! „. Sie schweigten nach langen Friedensjahrzehnten in der „großen Zeit”, die Karl Kraus, auch er ein Abseitiger in dieser Sache, im November 1914 die „kleine Zeit” zu nennen wagte, als noch unentschieden war, wer den Krieg gewinnen würde. Man sollte sich hüten, die jeweiligen Projektionen der subjektiven Betroffenheit mit der Elle des Besserwissens zu messen, die den Unbeteiligten die spätere Lektüre zuspielt.
Die Bekenntnisse für und wider den Krieg waren ihrer Herkunft nach Äußerungen der Betroffenheit von einem außerliterarischen Vorgang; aber sie blieben Literatur und waren noch nicht Politik. Der Übertritt in die Politik erfolgt erst mit dem Eintreten in deren Bezugssystem. Das politische System verlangt in aller Regel, nicht mit schriftstellerischer Produktion auf die Herausforderungen zu antworten, sondern mit Handlungen. Man schreibt nicht, sondern begibt sich in die Zentren politischer Kommunikation.

Ernst Tollers Weg als Beispiel

Ernst Tollers Protokoll zur Person vor dem 1. Staatsanwalt Lieberich am 4. Juni 1919 gibt die Abfolge exemplarisch wieder: „Herbst 1917 kulturpolitischer Kongreß Burg Lauenstein, in Heidelberg Mitbegründer des kulturpolitischen Bundes der deutschen Jugend. Lektüre der Broschüre des früheren Londoner Botschafters, des Fürsten Lichnowsky, für einen Verständigungsfrieden. Anfang 1918 Mitglied der Deputation zur Befreiung des im Generalstreik inhaftierten Kurt Eisner, Versammlungsredner, deshalb verhaftet und im Strafverfahren gegen Eisner zu drei Monaten verurteilt und wieder zum Militär eingezogen. Im Oktober in Berlin Auftritt in einer SPD-Versammlung gegen das geplante letzte Aufgebot. Nach der Novemberrevolution Zweiter Vorsitzen-der des von dem allgemeinen Kongreß der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte gebildeten Vollzugsrates.”
Tollers Weg in die politischen Aktivitäten während des 1. Weltkrieges ist hier als Beispiel herangezogen, weil er deutlich macht, wie mit dem Übertritt in politisch gerichtete Kommunikationsprozesse die schreibende Reaktion allmählich verdrängt wird durch Handlungen, die nötig werden, um aus dem Bezug nicht herauszufallen. Sie nehmen mehr und mehr Zeit in Anspruch. Sie besetzen die Psyche, bestimmen die seelische Lage. Das Mitteilungsbedürfnis und. der politische Zugzwang konkurrieren. Die Verlautbarungen Tollers, als er die bewaffnete Macht der Räte zu befehligen hatte, sprechen eine deutliche Sprache. Toller hat dann in seiner Eigenschaft als Abschnittskommandant der Truppen der Räterepublik im Kampf um Dachau sich gegen diesen Zugzwang empört und in Botschaften und Erklärungen seiner eigenen Beurteilung Geltung zu verschaffen versucht. Er reagiert auf das politisch-militärische Ordnungssystem wie ein Schriftsteller, schreibend und argumentierend, nicht wie ein Befehlsempfänger, und legt sein Kommando am 26. nieder, als er sich nicht durchsetzen kann. Er reitet auf einem Schimmel durch die Stadt und predigt Frieden. Diese scheinbare Inkonsequenz bezeichnet tatsächlich eine konsequente Haltung der Schriftsteller in der Münchner Räterepublik von 1918/19.

Schlußpunkt, nicht Anfang

Die ältesten der Münchner Revolutionsteilnehmer, Eisner und Landauer, waren um 1870, die jüngsten in den 1890er Jahren geboren. Letztere waren in ihren Zwanzigern und durch den Krieg auch subjektiv gealtert. Von den Biographien her betrachtet, erscheint der Auftritt der Schriftsteller in Revolution und Räterepublik wie ein Schlußpunkt unter das, was unter den Bedingungen des Hohenzollernstaates schriftstellerisch verarbeitet werden konnte, nicht wie ein Anfang. Eisner stand in jungen Jahren unter dem Eindruck von Hermann Cohens politischer Philosophie, wie sein Zeitgenosse Lenin. Landauer gelangte im Kontakt mit dem Sprachwissenschafter Fritz Mauthner zum Meister Eckart, dem in seiner revolutionären Sprengkraft auch heute noch nicht genügend erkannten deutschen Mystiker. Gleichzeitig erschien in München die Zeitschrift Jugend, die der Epoche ihren Namen gab, und im Simplizissimus schrieb u.a. Georg Simmel, der Begründer der formalen Soziologie in Deutschland.

München – Alternative zu Berlin

München entwickelte sich mehrundmehr gegen die Vorherrschaft Preußens im Reich als Alternative zu Berlin. Es war mit den literarischen und künstlerischen Kreisen, Cliquen, Schulen in Wien, Prag, Dresden, Leipzig, Berlin ebenso verknüpft wie mit denen in Zürich, Basel, Heidelberg, Darmstadt, Düsseldorf und Bremen. Als Universitätsstadt strahlte die Kunststadt München durch die ständig fluktuierende Studentenschaft weit nach Osteuropa aus, und dieses nach München herein. Das Zentrum dieser vielfältigen Beziehungen war der Stadtteil Schwabing, in dem sie fast alle zusammenkamen, die im gestalterischen Ausdruck, in dichterischer Produktion oder in wissenschaftlicher Exegese zu reagieren gewohnt waren. Ein „Capua der Geister” nannte es Erich Mühsam.
Der Auswertung von Polizeiberichten aus den Jahren 1894, 1899 und 1911, die der Historiker Ludwig Schneider 1969 vorgelegt hat, ist zu entnehmen, daß die osteuropäischen Oppositionellen sich dort versammelten. Die Propaganda gegen die Unterdrückung in Rußland und Polen wirkte weit über Schwabing hinaus.

Feindbilder wider Menschen­rechte

Der Aufruf g e g e n brachiale Gewalt, der die ganze Periode durchzieht, begleitet den allmählichen Fortschritt der menschenrechtlichen Postulate von West nach Ost. Nicht nur einzelne Publizisten, wie Ludwig Quidde und Friedrich Wilhelm Foerster, die Breitenarbeit der Sozialdemokraten und Gewerkschafter haben entscheidenden Anteil an diesem weltgeschichtlichen Vorgang. Seine Bedeutung scheint mir einsichtig: Die Menschenrechte sind die einzige Hoffnung, zu gemeinsamen ethischen Grundbegriffen zu kommen. In einer Welt, die sich zunehmend verfeindet, weil immer neue Herrschaftsinteressen miteinander in Konflikt geraten müssen, wird das Minimum an ethischer Norm, das die. Menschenrechte postulieren, zur Überlebensfrage für alle.
Es war schon in den Diskussionen vor dem Ersten Weltkrieg klar, daß dies nicht die Sache einer Handvoll Intellektueller sein kann. Nicht nur die Oberklassen halten an überkommenen Werten fest, auch die anderen. Nicht nur die Bürger nannten Mühsam, Landauer, Niekisch, Eisner „Spinner”, auch die Arbeiter nannten sie so. Das kann nicht anders sein, denn die neue Norm, die da gepredigt wurde, war weder als Klassen-, noch als Standes-, noch als Nationalrecht denkbar. Logisch zwingend ist Menschenrecht immer das Recht des anderen Menschen. Bringe das jemand einer Gruppierung bei, die sich gegen einen tatsächlichen oder abstrakten Feind geeinigt hat, und mehr durch das Feindbild als die Interessen der Gattung bestimmt wird! Da ist ja immer der andere schuld, und wenn er es nicht wäre, verlöre er seine Richtigkeit als „Feind”.
Aber nicht nur in der räumlichen Ausbreitung, auch in der zeitlichen Überlieferung stößt die menschenrechtliche Propaganda auf Schwierigkeiten, die sich mit jedem Neukommer vermehren. Sowenig eine neue Klasse die Achtung vor der Menschenwürde garantiert, so wenig garantiert sie eine j u n g e G e n e r a t i o n. Der Bericht von Oskar Maria Graf über seinen Weg in die Revolution macht dies deutlich. „Bommi” Baumanns 1975 erschienenes und bald darauf verbotenes Buch Wie alles anfing bestätigt die Erfordernis, unentwegt zu lernen.

Oskar Maria Graf und Bommi Baumann: Parallelen

Es gibt gewisse Parallelen zwischen der Beschreibung seiner Adoleszenz, die Oskar Maria Graf unter dem Titel Frühzeit 1922 im Malik Verlag veröffentlicht hat, und den Aufzeichnungen von Bommi Baumann. In beiden Berichten setzen sich die anarchischen Tendenzen der Kindheit gegen die berufliche Unterordnung als Bäcker- bzw. Betonmischerlehrling durch. Graf wollte Tierarzt werden, durfte aber nicht. Die Bemächtigung der Umwelt wird in der Literaturrezeption gesucht, zur Jahrhundertwende in Bongs Klassikerausgaben, um 1970 bei Kerouac und anderer zeitgenössischer Beat-Literatur und -Musik; aber die Rezeption vertieft den Widerspruch zur Umwelt, indem sie deren Tugendmythos als falsch erweist. Ausbrüche brachialer Gewalt erfolgen zunächst als Kraftmeierei, dann aus dem Bedürfnis, irgendwo Schluß zu machen, um neu beginnen zu können. Bald nach den Konventionen brechen sie die Gesetze, und damit ist der Zeitpunkt gekommen, wo das eigene Handeln nach Rechtfertigung verlangt. Sie wird im Umgang mit Gleichaltrigen gesucht, die in ähnlicher psychischer Grundlage sich befinden; und wieder hilft die Literatur. In München um 1910 vorzüglich die russische. Basarow in Turgenjews „Väter und Söhne”, Dostojewskij, Tolstojs „Sklaverei dieser Zeit”, Kropotkins „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt”.
Mählich verdrängt sozialtheoretische Literatur die belletristische. Auch sie entstammt schriftstellerischer Betroffenheit; aber sie erzählt nicht nur, wie Menschen mit den Konflikten ferig werden, die der Schriftsteller für sie zum Ausdruck gebracht hat, um eine „hinreichende Anzahl abfuhrbedürftiger Vorstellungen” loszuwerden.
Oskar Maria Graf schreibt, wie seine langen Haare und sein unkonventionelles Aussehen ihm die Arbeitskollegen und die Leute auf der Straße zum Feind gemacht haben, und Baumann wiederholt die Erfahrung sechzig Jahre später. Die als revolutionär gewollte Veränderung der Körpersymbolik führt nicht zur Bewältigung der Umweltverhältnisse, sondern zur Privation, weil das Identifikationsangebot, das im gleichen Aussehen gegeben ist, zurückgezogen wird durch das ungleiche Äußere und somit Befremdliche. Der Unterschied zwischen 1910 und 1970 ist freilich unverkennbar. Dazumal blieben die Leute mit affektiertem Äußeren als „Bohemiens” oder, wie der Münchner Ausdruck war, „Schlawiner” – was beides auf die benachbarten Slawen zielte – unter sich. 1970 hat der inzwischen konsumorientierte Kapitalismus die Veränderungen aufgegriffen und vermarktet, worauf der „Rebellen-Look” in die Büros und Fabriken einzog, sogar bei den uniformierten Berufen. Solange das nicht erfolgt war, mußte die aus der sozialtheoretischen Literatur übernommene T e r m i n o l o g i e den verlorenen Halt kompensieren helfen. Oskar Maria Graf konnte sich in kurzer Zeit in der Sprache des Sozialistischen Bundes ausdrücken, nachdem er Gustav Landauers Aufruf zum Sozialismus gelesen und mit der Münchner Gruppe Tat diskutiert hatte. Auch Baumann findet sich im Seminardeutsch seiner studentischen Genossen zurecht.
Bei beiden Autoren führt diese verbale Bemächtigungshandlung nicht dorthin, wohin die Theoretiker zielen, zur Weiterarbeit an einem humanen Entwurf, denn nicht dieser Entwurf ist das Problem der Rezipienten, sondern die Entlastung von akuter Bedrängnis. Wie kommt man aus ihr heraus? Wie führt man die eigenen abfuhrbedürftigen Vorstellungen ab, wenn die Identifikation mit der Literatur sie nicht abführt, sei sie künstlerischer oder wissenschaftlicher Machart, oder zwischen Kunst und Wissenschaft, wie die großen sozialtheoretischen Konzeptionen des 19. Jahrhuriderts, die im 20. Jahrhundert als Klassiker gelten?

Ausbruch in die Gewalt – das Ende des Diskurses

Beim Oskar Maria Graf heißt die Lösung „kurzen Prozeß machen!“, bei Baumann, der allerdings darauf hinweist, daß er den Slogan nicht erfunden habe: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!”
Aufruf zur Gewalt ist der gemeinsame Nenner aller Sozialrebellen. Die Verkürzung auf den Slogan verweist auf das vorhandene Theoriedefizit. Die Schlägereien bei Graf, die bewaffneten Überfälle bei Baumann ergeben sich nicht notwendig aus der Theorie, vielmehr soll die Theorie nun die Praxis rechtfertigen, die sich aus den schiefgegangenen Versuchen ergeben hat, sich der Umwelt zu bemächtigen. Franz Jung, der Jugendfreund Oskar Maria Grafs, hat diese Konsequenz in seiner Autobiographie Der Weg nach unten, verdeutlicht. Brachiale Gewaltanwendung fordert nicht nur mitmenschlichen Protest heraus, sondern zugleich das staatliche Gewaltmonopol. Wenn dessen Inhaber nun wiederum brachial gegen vermutete und bekennende Anhänger gewisser Theorien reagieren, ist die Verwirrung vollständig, weil die sozialen Theorien, die nun von beiden Seiten in diese Auseinandersetzung hineingezogen werden, nur literarisch und nicht brachial zugänglich sind. Der Diskurs ist mit Pistolen nicht zu treffen.
Der Kreis schließt sich: Die zur Bemächtigung der Umwelt herangezogene Literatur hat zwar den Bemächtigungseffekt nicht gehabt, sondern die Isolation ihrer Rezipienten verstärkt; aber sie wird nun als Gesamtheit zum Symbol von Verfolgten. So nimmt B e k e n n t n i s charakter an, was zur Erkenntnis geschrieben worden ist. Der wissenschaftliche Ansatz verkümmert, der Diskurs er-stirbt, die Fahnen werden aufgezogen …
1905 wurden in St. Petersburg 1500 Demonstranten niedergemacht, weil sie dem Zaren von Rußland eine Petition überbringen wollten. 1967 wurde bei der berliner Demonstration gegen den Schah von Persien der arglose Benno Ohnesorg von dem Polizisten Kurras erschossen. Bei bei den Demonstrationen hat die legale Gewalt versagt. Die vielen Morde, die nachfolgten, sind ohne solches Versagen der legalen Gewalt nicht zu verstehen. Es wiegt schwerer als ein Verbrechen, denn es belastet die Legalität mit dem Gewicht archaischer Schuld. Wenn jugendliche Rebellen und die Inhaber der Staatsgewalt nicht begreifen, daß wir im 20. Jahrhundert nicht zum Ritual der Vorzeit zurückkehren dürfen, müssen die Schriftsteller gegen das Menschenopfer protestieren und die Fraglichkeit erhalten.

Bayern gegen das „Berliner” System

Als in den letzten Oktobertagen 1918 Österreich-Ungarn zusammengebrochen war, richtete sich die ganze Erbitterung der Bayern gegen „Berlin”. Die Münchner befürchteten Luftangriffe, und die überwiegend ländliche Bevölkerung hoffte, nun dem Druck der Kriegsverwaltungswirtschaft zu entkommen. Die Massen sahen in dem Hause Wittelsbach und den bayerischen Ministern nur die ohnmächtigen Werkzeuge des verhaßten „Berliner” Systems; sie hatten das Vertrauen verloren, daß die Wittelsbacher ihnen aus ihrer Not helfen könnten. So kam es nicht zu einer dynastisch-partikularistischen Aktion, schreibt der Historiker Arthur Rosenberg, sondern die älteste deutsche Dynastie wurde gegen den Willen der Veranstalter einer Friedenskundgebung am 7. November 1918 als erste gestürzt. Nunmehr stellte sich die Frage nach der Übergabe der politischen Macht, die im Interessenausgleich der Exponenten von Beamtentum, Großkapital und Großgrundbesitz, Adel, Großbürgertum und hohem Klerus aufgehoben war, während ein Egalisierungs- und Demokratisierungsprozeß in der Unter- und Mittelschicht durch großzügige Gesetzgebung soviel Raum hatte, daß dort, wie der Historiker Karl Möckl 1965 formuliert „die Bewußtseinsschwelle des Verlangens nach Ausübung staatlicher Gewalt bis zum Weltkrieg nicht erreicht wurde”.

Eisner: Demokratie durch Räte

Der erste Ministerpräsident der neuen Republik, der Berliner Schriftsteller Kurt Eisner (USPD), sah in der republikanischen Reichsregierung Politiker am Werk, die er als Vorwärts-Redakteur schon vor dem Weltkrieg als unfähig bezeichnet hatte. Seine eigene Absicht war, in Bayern die wirtschaftlichen Interessen durch ein System von Räten zu politisieren und damit die Demokratie zu verwirklichen: Der Anteil der Arbeit jedes Berufs an der Gesamtheit solle die demokratische Grundlage der Gesellschaft bilden, sagte er im Provisorischen Nationalrat, der Gewerkschaften und andere Berufsverbände versammelte. Er sollte künftig Bestätigungsrechte und Kontrollbefugnisse gegenüber dem Parlament haben, das die Grundlage der neuen Republik war. Eisner, dem die Manipulation der russischen Räte durch Lenin im Jahr 1917 noch gewärtig war, lehnte die Strategie der Kaderpartei entschieden ab. Vor Münchner Soldatenräten erklärte er: „Das russische Beispiel lockt uns nicht, auch nicht die Methode. Ich bin der Meinung, daß wir genug Blutvergießen gehabt haben.“ Eisner führte somit seine Politik gegen die tradierten Machtkonstellationen, wie gegen die Berliner Sozialdemokratie, die Kommunisten im Spartakusbund und später in der KPD sowie gegen die Indifferenz der Basis. Die SPD wollte die Räte entpolitisieren, die KPD wollte sie zum Instrument ihrer Diktatur machen, und die alten Anhänger des Systems wollten sie eliminieren. Dies gelang im vorläufigen Staatsgrundgesetz, das die Regierung am 4. Januar 1919 erließ. Eisners Räte waren nicht einmal erwähnt.

Max Webers Kritik; Dilet­tan­tismus

Das Meinungsklima verschlechterte sich rasch, als die neue Regierung die materielle Lage nicht verbessern und im Widerstreit zwischen Parlamentarismus und revolutionären Räten kein Monopol der Gewalt demonstrieren konnte.
Max Weber, um Deutschlands künftige Verfassung besorgt, sagte am 1. Dezember 1918 nach einem Bericht der Frankfurter Zeitung:

„Die bisher ja wesentlich negativen Errungenschaften der Revolution wollen wir ohne jeglichen Vorbehalt und Zweideutigkeit befestigen und in der Richtung planmäßiger Sozialisierung ausbauen helfen. Daß sie freilich erst durch eine Revolution gewonnen werden mußten, war ein schweres Unglück. Es hat uns wehrlos gemacht, damit der Fremdherrschaft überliefert und außerstande gesetzt, die Grundsätze rückhaltlos friedlicher und freier Selbstbestimmung der Völker bei der Neugestaltung der Welt zur Geltung gegen die in allen Ländern mächtigen Imperialismen zu bringen. Die feindlichen Regierungen sind rein bürgerlich. Die Wirkung der deutschen Revolution aber hängt von diesen Feinden ab, die im Lande stehen. Revolutionen nehmen aber einen aus der Geschichte bekannten verhängnisvollen Kreislauf, der oft leicht zu den alten Gewalten zurückführt. Und die bisherige Entwicklung liegt leider in dieser Linie. Der Redner bezeugte der Wirksamkeit der örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte und dem Idealismus der Führer, ohne Unterschied, ob Unabhängige oder Mehrheitssozialisten, alle Anerkennung, betonte aber umso mehr das bisherige völlige Versagen der Berliner und Münchner Leitung allen großen Aufgaben gegenüber, trotz zweifellos hingebendster Arbeit.”

Der Vorwurf des Dilettantismus ging an Kurt Eisner, aber auch an dessen Finanzminister, Webers Freund, Edgar Jaffe. Eisners journalistischer Erzfeind, Josef Hofmiller, prägte das Schimpfwort von der „Strizzikratie”. Als Eisner am 21. Februar 1919 ermordet wurde, vermerkte Hofmiller in seinem Revolutionstagebuch 1918/19, daß Schüler „Hurra” schrien und Röntgen seine Vorlesung in der TH wegen der studentischen Begeisterung über die Mordnachricht abbrechen mußte. 100 000 folgten dem Leichenzug. Gustav Landauer hielt die Totenrede. Der rasche Umschlag der Zustimmung für den Friedenspolitiker in die Ablehnung des „Bolschewisten” ist wahrscheinlich die Konsequenz der politischen Konstellation, aber wohl auch des Glaubens von Eisner, „sich mit den Methoden des Vertrauens und der Verständigung über Machtfragen hinwegsetzen zu können.” So der Historiker Falk Wiesemann 1965.

Die Literaten als Sündenböcke

Im Winter 1918/19 war eine deutliche Tendenz zu beobachten, „die Literaten” zu den Sündenböcken der Revolution zu stempeln. Sie wollten heraus aus dem alten Mächtespiel, sie sprachen von Schuld:

„Wir haben in Deutschland zwei Monate hinter uns, deren vollendete Erbärmlichkeit im Verhalten nach außen alles überbietet, was die deutsche Geschichte aufzuweisen hat. Das Ohr der Welt gewannen allerhand Literaten, die das Bedürfnis ihrer durch die Furchtsamkeit des Krieges zerbrochenen oder der Anlage nach ekstatischen Seele im Durchwühlen des Gefühls einer Kriegsschuld befriedigten. Eine solche Niederlage mußte ja die Folge einer ,Schuld` sein – dann nur entsprach sie jener ,Weltordnung`, welche alle solche schwachen, dem Antlitz der Wirklichkeit nicht gewachsenen Naturen allein ertragen. Die Welt ist nun aber anders eingerichtet, als sie sich glauben machen möchten …
Allein das politisch für die Zukunft der Beziehungen unserer Nation zu allen anderen Völkern Gefährliche liegt in dem grundfalschen Anschein, der in der Welt über die Meinungen desjenigen s c h w e i g e n d e n  D e u t s c h l a n d erregt wird, welches, einerlei wie bald, jedenfalls irgendwann wieder zu seinem Recht gelangt, wenn das Treiben des jetzigen dilettantischen Regimes ein Ende gefunden haben wird. Im Namen der Ehrlichkeit muß der Welt schon jetzt zugerufen werden, weithin über die Länder und Meere: Es ist nicht wahr, dies Literatenvolk ist nicht Deutschland und sein Gebaren entspricht nicht der wirklichen inneren Stellung der Deutschen zu ihrem Kriegsschicksal.”

So Max Weber am 17. Januar 1919 in der Frankfurter Zeitung. Er mag dabei an Kurt Eisner, aber auch an seine Heidelberger Schüler, Ernst Toller und Eugen Levine gedacht haben.

Nach Eisners Ermordung:
Von der „Zweiten” zur „Dritten Revolution”

Mit Eisners Tod war der Dualismus zwischen den Räten und dem Landtag nicht aufgehoben. Eisner wollte zur lange hinausgeschobenen Eröffnung eilen, als der Graf Arco ihn ermordete. Die Räte waren nicht im Gesetz; aber sie waren vorhanden, wenn auch weit über das Land verstreut, nicht sehr überzeugt und weit entfernt von revolutionärem Enthusiasmus.
Dieser war bei den Schriftstellern, vor allem Erich Mühsam. Ihnen war Eisner nicht entschieden genug zur Basis vorgestoßen und hatte zu wenig für das Modell der Räte als sich selbst regulierender Einheiten der humanen Bedürfnisse getan. Sie waren mit ihren Anhängern eine verschwindende Minderheit in der Bevölkerung. Schon Eisner hatte keine Mehrheit gehabt. Als Mühsam am 28. Februar 1919 die Ausrufung der Räterepublik im Rätekongreß beantragte, fiel er mit 70 gegen 234 Stimmen durch.
Die Unabhängigen schwankten. Ihr Sprecher, Ernst Toller, und der neue Führer der Kommunisten, Eugen Levine kämpften um eine gemeinsame Linie. Levine, aus reichem jüdischen Haus, russischer Sozialrevolutionär, in Heidelberg zum Doktor der Nationalökonomie promoviert, hatte den witzigen, aber eher zurückhaltenden Parteivorsitzenden Max Levien in den Schatten gestellt. Levine orientierte sich an leninistischen Taktiken: „Wir können uns nur an einer Räterepublik beteiligen, die von Räten proklamiert wird. Und auch dann nur in dem Fall, wenn die Mehrheit der Räte-Vertreter Kommunisten sind. Denn wir könnten nur an einer Regierung teilnehmen, die kommunistische Politik macht, und das können nur die Kommunisten”, erklärte er den Unabhängigen. Seinen Vertrauensleuten sagte er im selben Zusammenhang: „Wir wollen die schwankende, zarte Braut … in unsere starken kommunistischen Arme schließen und dafür sorgen, daß aus dieser Ehe eine machtvolle kommunistische Partei hervorgeht.”

Die Ehe kam nicht zustande. Nach einem Vorstoß Augsburger Räte wurde die Räterepublik am 6.17. April 1919 ausgerufen. Ein 30jähriger Lehrer, Ernst Niekisch, war ihr erster Vorsitzender, Ernst Toller der nächste. Die Finanzen übernahm der Anarchist Silvio Gesell, dessen Freigeldtheorie ein originelles Denkmodell ist, aber natürlich zu erfolgreicher Praxis einen langen Weg benötigt hätte. Die ersten revolutionären Maßnahmen der Räteregierung, wie Einsetzung von Revolutionstribunalen, Wohnungsbeschlagnahmen, Einschränkung der Bankgeschäfte, Schließung der Universität, Pressezensur, konnten die Basis der Räte nicht verbreitern. Der Belagerungszustand wurde ausgerufen, nach ungarischem Muster der Tag selber zum Nationalfeiertag erklärt und mit Glockengeläut und roten Fahnen verkündet.
So war auf den Höhepunkt gelangt, was Ulrich Linse in seiner Dokumentation, Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918/19 (Berlin 1974) die „zweite Revolution” genannt hat. Die Unentschiedenheit der Fraktionen und Köpfe über den „richtigen” Zeitpunkt blieb bestehen. „Die Dritte Revolution vom 7. April bis 1. Mai 1919” bestätigte die Vermutung des konservativen Beobachters Hofmiller in den Süddeutschen Monatsheften, daß die Tendenzen, die sie selber fördern, die Literaten an die Wand drücken oder stellen.

Gustav Landauer  – Schlüs­sel­figur der bayerischen Rätere­vo­lu­tion

In diesem Sinne ist Gustav Landauer in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der Politik die Schlüsselfigur der bayerischen Räterevolution von 1919. Landauer ging davon aus, daß Bewußtseinsveränderung, nicht Machtübernahme die Gesellschaft erneuert. Die Trägheit und der Gehorsam der Massen müssen aufhören, ehe Institutionen verändert werden können. Das stellte ihn gegen die besonders von Engels bestimmte Sozialismus-Interpretation und auf die Seite der „hier und heute” zu realisierenden Organisationsversuche, wie sie in der Gartenstadtbewegung, in ländlichen Siedlungen und anderen Absetzbewegungen unternommen wurden, am nachhaltigsten wohl in den stark an Landauer orientierten palästinensischen Kibbuzim. Sein Lebensgang ist gekennzeichnet durch Perioden der Absonderung von allem Politischen und höchste Aktivität.
„Die Revolution – ein Bad des Geistes” lautete eine von Landauers Metaphern. Die Frage war demnach: Wie handelt man im Bade? Was ist richtiges Handeln im Moment, da alles im Fluß sich befindet? Gustav Landauer war ein Gegner aller Gewaltanwendung; aber in der Diskussion über die Revolutionierung des Landes schrieb er am 29. März 1919:
„… ich sei also ein Hasardeur wie Ludendorff. Ich erwidere darauf, daß jetzt die Stunde der Entscheidung ist, wo nicht mehr nach formaler Ähnlichkeit gefragt wird, sondern nach dem inhaltlichen Gegensatz. Nur die, die selber kein Ziel haben, werfen den anderen die Gewagtheit ihrer Mittel vor. Ludendorff hat die schauderhaftesten Mittel für etwas benützt, was uns weniger als nichts, was uns Verrottung und Verderben ist. Wir wollen im Guten nach dem Guten trachten, wollen uns nicht selbst schlechter Mittel bedienen, sehen nur vor Augen, daß die Gefahr der Verirrung und des Mißbrauchs besteht; wir sagen es uns, um uns davor zu bewahren.”
So lag die Konsequenz nahe, Gewaltanwendung zur Verteidigung der Revolution zuzulassen. „Unter Räterepublik ist nichts anderes zu verstehen”, erklärte Landauer am 12. April den Beamten seines Ministeriums, „als daß das, was im Geiste lebt und nach Verwirklichung drängt, nach irgendwelcher Verwirklichung drängt, nach irgendwelcher Möglichkeit durchgeführt wird. Wenn man uns in unserer Arbeit nicht stört, so bedeutet das keine Gewalttätigkeit; nur die Gewalt des Geistes wird aus Hirn und Herzen in die Hand und aus den Händen in die Einrichtungen der Außenwelt hineingehen.” Der Volksbeauftragte wandte sich an jeden einzelnen Beamten, eine Gesamterklärung wollte er nicht annehmen, und er sagte eindeutig, daß die völlige Dezentralisation das anzustrebende Ziel sei.
Im historischen Kontext steht Landauer hier mit Proudhon und dessen Schülern, die als föderalistische Republikaner 1868–1874 die spanische Republik von den Gemeinden her organisieren wollten. Sie scheiterten, wie der libertäre Föderalismus überall dort scheitern mußte, wo die Wirtschaft nationalstaatlich organisiert war und der freien Föderation die Einheit von Politik und Ökonomie entgegensetzte. Landauer sah diese Barriere sehr genau und stimmte auch hierin mit Proudhon überein, daß die unglückseligste Kombination die Verbindung des Sozialismus mit dem Absolutismus sei, welcher die Bestrebungen des Volkes nach ökonomischer Befreiung und materiellem Wohlstand mit der Diktatur und der Konzentration aller politischen und sozialen Gewalten im Staat erstrebe.

Reform­ver­suche ohne breite Basis

„Wenn man uns Zeit läßt”, schrieb Landauer, Volksbeauftragter für Volksaufklärung, am 7. April 1919 an den Freund Fritz Mauthner, könne man hoffen, etwas zu leisten. Aber wer keine breite Basis in der Politik hat, hat auch keine Zeit. Die städtischen „Massen”, die das Münchner Geschehen beeinflußten, glichen, an der schweigenden Mehrheit der Bayern gemessen, doch eher dem Chor auf einer Bühne. Da die legale Nachfolgeregierung Eisners unter dem Sozialdemokraten Johannes Hoffmann zwar aus München vertrieben aber nicht abgesetzt war, verschärfte jede Aktion der Räterepublik den Dualismus. Eine Fülle von Plakaten und Erklärungen der Räte überschwemmte die Stadt.
Landauer begann, die Universität zu reformieren. Ret Marut wollte die Presse den Städten übereignen, ohne ihnen Einfluß auf die redaktionelle Gestaltung zu geben. Sein Plan stimmte mit dem Sozialisierungsplan von Ferdinand Lassalle überein, aber auch weitgehend mit dem des Leipziger Nationalökonomen Karl Bücher, der als Begründer der Zeitungswissenschaft an den deutschen Universitäten gilt. Marut forderte: „Das Recht auf Meinungsfreiheit soll niemand` genommen werden. Das Bürgertum und die Kapitalisten haben die Mittel zur Verfügung, eigene Blätter herausgegeben, falls sie dies für notwendig erachten. Aber das Inseratengeschäft soll ihnen nicht mehr zugestanden werden. Das Proletariat hat Jahrzehnte hindurch mühselig die Mittel aufbringen müssen, um sich eine Presse schaffen zu können. Es hat diese große Tat vollbracht aus reinem Idealismus und aus unerschütterlichem Glauben an seine Mission. Wenn das Bürgertum wirklich etwas Wertvolles zu sagen hat und glaubt, daß seine Mitarbeit für den Neuaufbau der zusammengebrochenen Kultur notwendig sei, so wird es wohl in der Lage sein können, seine Meinung auszusprechen, ohne dadurch ein Geschäft machen zu wollen, wie es bisher mit Hilfe des Inseratenblattes geschah. Die gesamte Inseratenbewirtschaftung wird von heute an dem Verwaltungsrat des Ortes übertragen, in dem die Zeitung oder die Zeitschrift herausgegeben wird. Alle Einnahmen für Inserate, die in Tagesblättern oder in Zeitschriften erscheinen, müssen an den Verwaltungsrat abgeliefert werden. Zeitschriften bleiben vorläufig im Besitz des bisherigen Verlegers; sie können enteignet werden, wenn der Verwaltungsrat dies für gut befindet. Den Zeitschriften-Verlegern wird für die Inserate nur der Betrag vergütet, den der Druck der Inserate und das Papier, auf dem die Inserate veröffentlicht werden, wirklich kosten. Zeitschriften, die ohne die Inseraten-Einnahmen nicht mehr weiter bestehen können, haben keine Daseinsberechtigung: sie sollen eingehen.“

Eugen Levine: Der „Real­po­li­tiker” und der Opfer-­Kom­mu­nismus

Levine sprach von einer „Scheinräterepublik”. Er sah darin, daß kein Proletarier bewaffnet und kein Bourgeois entwaffnet sei, das Verhängnis heraufziehen. Seine „realpolitische” Lagebeurteilung nach den Gewaltverhältnissen unterschied ihn von den anderen Schriftstellern. Eugen Levine war wahrscheinlich der einzige realpolitische Kopf im herkömmlichen Sinne, und es scheint auch nach dem Gedenkbuch, das seine Witwe ihm zugeeignet hat, nicht ausgeschlossen, daß er sich als Lenin der bayerischen Revolution und Eisner als deren Kerenski sah. Bei seiner richtigen Einschätzung der fehlenden Massenbasis und der militärischen Hilflosigkeit der Räterepublik ist sein Entschluß, dann doch in sie einzutreten und die „kommunistische Räterepublik” durchzusetzen, allerseits auf Erstaunen gestoßen. Die revolutionäre Phraseologie, so argumentierte er, habe zur Illusion geführt, daß die Arbeiter eine Macht besäßen. Bis jetzt sei die militärische Konfrontation nicht erfolgt: Die Kommunisten „können die Katastrophe nicht abwenden, doch eine revolutionäre Führerschaft ist für den Zustand verantwortlich, in dem die Arbeiter aus ihr hervorgehen: als ein niedergeschlagener Haufen oder als hochgemute, zu neuem Kampf bereite Revolutionäre. Wir werden ihnen die Wahrheit sagen: ein ehrenvoller Tod und Lehren für die Zukunft ist alles, was wir aus der gegenwärtigen Lage retten können.”
Mit anderen Worten: der blutige Preis müsse bezahlt werden, denn eine friedliche Lösung könne es nicht geben. Spricht so der Realpolitiker? Das sind wortwörtlich die Parolen, mit denen seit Jahrtausenden immer wieder junge Leute in den Tod gehetzt wurden, zuletzt 1914, und man begreift Toller, daß er sich dieser Poesie des Menschenopfers widersetzte.
In Carlo Mierendorffs Zeitschrift Das Tribunal – Hessische radikale Blätter vom Dezember 1919 rekapitulierte der Student Egon Wertheimer die Fragwürdigkeit des Kriegsopfers für den Ausbruch der Revolution: „Als Soldat beinahe ohne Unterbrechung Frontdienst leistend … die Frage nach dem Sinn der Opferung wurde fordernder. Das entgötterte Bild des Staates zertrümmert … Das Ende des Jahres 1917 bedeutete Bewußtwerden dieser Antinomie: Bluthaftes Ehrgefühl und abstraktes Pflichtgefühl (Kriegsopferung, die von ihrem überindividuellen Sinn nichts abgeben wollte). Andererseits: wachsende Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammenbruchs eines Systems, das aus seiner Struktur heraus des Volkes Vertrauen grenzenlos mißbrauchte.”
Opferung ohne Vertrauen war auch Levines letzte Weisheit für die Räterepublik. Sie war die Ursache, aus der heraus die mehrheitlich gewerkschaftlich orientierten Räte den parteikommunistischen Vollzugsrat abwählten. Und überall, wo Wahlen frei waren, ist der Opferkommunismus seitdem abgewählt worden. .
Auch der andere Vorstoß gegen libertäre Prinzipien, die Pressezensur, führte nicht zu den Zielen, die sie haben sollte. Hofmiller bezeichnete sie als schlimmer als die Kriegszensur. Levine bejahte sie als „Terror”. In Wahrheit hat das Ausbleiben der gewohnten Berichterstattung die Unsicherheit der Bevölkerung gesteigert und sie dem Gerücht ausgeliefert.

Die Liquidierung der Räterepublik –
Menschenopfer für die Wiederherstellung der „Ordnung”

An Ostern 1919 läßt die Regierung Hoffmann Flugblätter über der Stadt abwerfen, die „Befreiung” in wenigen Tagen in Aussicht stellen. Die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte als Grundstock der neuen Demokratie funktionieren nicht im Sinne der Zentrale, was ja auch nicht der Sinn von Räten ist. Räte sind selbstgenügsame Gebilde. Mitglieder einer rechtsradikalen Thule-Gesellschaft werden verhaftet, zu ihr gehören spätere Nationalsozialisten wie Alfred Rosenberg und Rudolf Hess. Aus ungeklärten Gründen werden sieben „Geiseln” erschossen. Der Zentralrat und der Oberkommandierende verurteilen das Verbrechen. Es zeigt, daß sie die Truppen nicht mehr in der Hand haben. Am 27. April spricht die gewerkschaftlich orientierte Versammlung der Räte dem Vollzugsrat das Mißtrauen aus. Er tritt zurück, doch hält der Druck der anrückenden Reichswehr und Freikorps die Räterepublik noch einmal für ein paar Tage zusammen. Das Ende nimmt das der „Republik von Kronstadt” 1921 vorweg.
Als am 1. Mai 1919 die „Weißen” in die Stadt einmarschieren, werden sie mit Zigaretten und Blumen begrüßt; aber bald verstört ihr Terror die Münchner aufs neue. Hofmiller, der sich in seinem
Tagebuch nicht genug mokieren konnte über die Phrasen der Roten und der Anarchisten, notiert jetzt willkürliche Erschießungen und Standrecht bis in den Juli hinein. 5000 kommen vor Gericht. Gustav Landauer wird als Gefangener bestialisch ermordet, Levine zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die sozialdemokratische Regierung lehnt ab, den politischen Gegner zu begnadigen. Der Oberbefehlshaber, Generalmajor Möhl, und der kommandierende General v. Oven fordern Levines Opferung, indem sie die heidnische Blutschuld beschwören: „Es ist Pflicht, nachdrücklichst darauf hinzuweisen, daß eine Begnadigung dieses Mannes, der durch seine Hetztätigkeit in erster Linie an den blutigen Vorgängen in München Schuld trägt, auf die Stimmung der Truppen von bedrohlichem Einfluß wäre. Die beträchtlichen Verluste der Regierungstruppen bei den Kämpfen in München würden eine Milde gegen Levine-Niessen unverständlich erscheinen lassen. Der Truppe müßte sich die Überzeugung aufdrängen, daß das Leben eines fremdblütigen, nicht-bayerischen Abenteurers höher gewertet wird als das Blut zahlreicher Deutscher. Es wird dringend gebeten, daß die Manneszucht der Truppe und die Selbstbeherrschung des Einzelnen nicht auf diese gefährliche und harte Probe gestellt wird. Es steht sonst zu befürchten, daß bei etwaigen erneuten Unruhen die Truppe entweder ihre Befugnisse überschreitet und sich zu Ober-griffen hinreißen läßt oder daß sie versagt, weil sie nicht die Überzeugung hat, daß die Regierung unter allen Umständen Ordnung schafft.”
So der Oberbefehlshaber. Der kommandierende General v. Oven fordert noch deutlicher das Menschenopfer: „Die Truppe, die München befreit hat und eine ganze Reihe von Todesopfern hierbei zu beklagen hatte, würde kein Verständnis dafür haben, daß derjenige, der nach dem einstimmigen, freien Urteil des standrechtlichen Gerichts im Namen des Freistaates Bayern wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden ist und der damit an dem Blut, das in München geflossen ist, in erster Linie schuldig befunden ist, diesem Urteil entzogen wird. Gerade der bayerische Teil dieser Truppe würde das nicht verstehen, und es würde die große Gefahr heraufbeschworen, daß bayerische Soldaten eines Tages ihrem Temperament erliegen und zur Selbstjustiz gegen den gewissenlosen russischen Verführer des bayerischen Volkes schreiten könnten.”
Aber Landauer und Levine sind nur zwei von tau-send Menschenleben, die im Namen der wiederhergestellten Ordnung geopfert wurden. Einer der militärischen „Befreier”, der General Ritter v, Epp, sollte von 1933 bis 1945 Hitlers Reichsstatthalter in Bayern werden. Hofmillers Witwe veröffentlichte sein Tagebuch 1938 mit einer Huldigung an Großdeutschland.

„Geis­tes­kranke, Psycho­pa­then, Juden …”

Die Revolution zersplittert das Gewaltmonopol, die Reaktion massiert es. Und wo das Gewaltmonopol massiert wird, ist schon Reaktion, egal welche Phraseologie sie hat; das ist eine Lehre aus der Münchner Räterepublik. Die Akte „Die Münchner Räterepublik im April 1919 und ihre Gewalttaten”, dargestellt von der Polizeidirektion München, kommt freilich zu anderen Ergebnissen:

„Die ganze Frage, wie weit Geisteskranke und Psychopathen in der revolutionären Bewegung seit November 1918 und besonders in der Räterepublik eine führende Rolle spielte, würde eingehende Sachverständigenuntersuchung lohnen. Der Umstand, daß sie sich in so hervorragenden Rollen als Volksbeglücker überhaupt halten konnten, gibt aber sehr zu denken. Der sonst so gesunde Sinn des Volkes, der solche Mängel merken und beanstanden müßte, versagte bei weiten Kreisen der arbeitenden Bevölkerung und bei gewissen Schichten der Intellektuellen, die in ihnen Heilande und Erlöser erkennen wollten, nur weil sie gewissen- oder gedankenlos unter Verkündung blendender und täuschender Lehren den Massen bessere Zeiten versprachen. Inwieweit das werktätige Volk, durch die Erfahrungen der Aprilrätezeit und ihre Schäden klug geworden, in Zukunft Führer mit derartigen Qualitäten ablehnen oder willig wieder anerkennen wird, muß die Zukunft lehren. Die Wahl, die es in dieser Frage wie in der Frage der Gefolgschaft zu moralisch nicht einwandfreien Persönlichkeiten trifft, bildet den besten Gradmesser für den Fortschritt des Gesundungsprozesses, den die durch Kriegs- und Nahrungsnot und Revolutionseinwirkung erkrankte Volkspsyche durchzumachen hat, wie für die geistige Reife unseres Volkes gegenüber dem in siegreichem Fortschreiten begriffenen Sozialisierungsproblem überhaupt.”

Der Polizeibericht über die Münchner Räterepublik 1919 wird noch deutlicher:

„Ein weiteres Moment, das vom volks- und rassenpsychologischen Standpunkt aus bei objektiver Würdigung aller Begleiterscheinungen nicht übersehen werden darf, ist die Tatsache, daß die große Mehrzahl der leitenden Köpfe – und gerade der radikaleren und
radikalsten Richtung – wie schon seit dem 7. November 1918 (Eisner, Kämpfer, Fechenbach, Jaffe), so erst recht während der beiden Räteregierungen (Toller, Mühsam, Landauer, Wadler, Levien, Levine, Axelrod, Frau Friedjung) jüdische und darunter vorherrschend norddeutsch- und ostjüdische A b s t a m m u n g aufweist. Breite Massen des bayerischen Volkes, dessen Abneigung gegen alles norddeutsche Wesen fast sprichwörtlich ist, schöpften aus dieser, auch in der Presse schon wiederholt hervorgehobenen Erscheinung, Mißtrauen. Der Haß, den ein Teil dieser Führer predigte, liegt dem bayerischen Volkscharakter nicht; so entstand der Verdacht, daß bei einzelnen dieser volksfremden Männer nicht nur reinste Nächsten- und Menschenliebe, sondern auch persönliche Motive oder – bewußt und unbewußt – ein Abrechnungsbedürfnis mit der bestehenden Weltordnung die Triebfeder ihres Handelns bilden könnten. Solche gerade in den unteren Schichten der Bevölkerung vielfach auftretende Bedenken spielten zweifellos auch eine Rolle beim Mißlingen der Bewegung.“

Der Blut- und Opferkult der Natio­nal­so­zi­a­listen

Das Nachspiel ist wieder literarisch. Die überlebenden Schriftsteller kehren an ihre Schreibtische zurück. Ret Marut, der Herausgeber des Ziegelbrenner, verschwindet im Geheimnis hinter dem Autoren-Pseudonym B. Traven. Erich Mühsam faßt im April 1929 rückblickend in seiner Zeitschrift Fanal zusammen: „Wer geschichtliche Vorgänge miterlebt, an ihnen mitgewirkt, ihren Verlauf beeinflußt hat, muß sich zur Kritik stellen und sich, ist das von ihm verantwortete Unternehmen mißlungen, in die Rolle dessen fügen, der sich zu verteidigen hat. Leider ist diese Selbstverständlichkeit in unserer Gegenwart mit vielen anderen moralischen Verpflichtungen, die früher niemals zweifelhaft gewesen sind, stark außer Geltung geraten.”
Mühsams noble Haltung rettete ihn nicht vor dem Blut- und Opferkult, den Hitler 1933 durchsetzte. Mühsam wurde im KZ ermordet. Andere Schriftsteller wurden vertrieben, „die Literaten” als „Asphaltliteraten” stigmatisiert. Hitler hatte in Mein Kampf verbreitet: „Indem Kurt Eisner der revolutionären Erhebung in Bayern eine ganz bewußte Spitze gegen das übrige Reich gab, handelte er nicht im geringsten aus bayerischen Gesichtspunkten, sondern nur als Beauftragter des Judentums. Er benützte die vorhandenen Instinkte und Abneigungen des bayerischen Volkes, um mittels ihrer Deutschland leichter zerschlagen zu können. Das zertrümmerte Reich aber wäre spielend eine Beute des Bolschewismus geworden.” Dieses Feindbild: „Jude”, „Bolschewist”, „Reichsverderber”, ging in die Schulbücher ein. Die Nationalsozialisten hatten nichts vergessen und nichts dazugelernt.
Ernst Niekisch erinnerte sich, als auch das „Dritte Reich” vorüber war, Berge von geopferten Menschen hinterlassend: „Anfang Februar 1933 rief mich Toller eines Tages an. Er fragte mich, was er tun solle. ,Lieber`, riet ich ihm, ,verlasse schleunigst Deutschland. Nie werden die Nationalsozialisten das Wort vergessen, das du im Berliner Tageblatt geprägt hast, das Wort nämlich: >Das Heldenideal ist das dümmste aller ldeale


Kommu­nis­ti­sche Diffa­mie­rung Tollers

Schon als Toller nach der Niederwerfung der Räterepublik in Haft saß, hatte Paul Werner (eigentlich: Frölich) namens der KPD den Schriftsteller symbolisch hingerichtet. (Ganz ähnlich war Karl Marx mit Michael Bakunin verfahren, als jener nach der Revolution 1849 in der Petersburger Peter-Paul-Festung lag. Toller wehrte sich schriftlich in Moskau, als Werners Verdikt in der Prawda vom 20. März 1926 auftauchte. Neben „kleinbürgerlichem Pazifismus” warf Werner Toller vor, er habe am 30. April 1919 den Rückzug von Dachau befohlen und damit den Zusammenbruch herbeigeführt. In Wahrheit hatte Toller am 26. April das Kommando niedergelegt. Werner in der Prawda: „Als Fantast, Demagoge und Verräter gleichzeitig trug er zum Verderben der Sowjetrepublik bei … Toller … erklärte sich prinzipiell zum Gegner jeglichen Blutvergießens (,‚roter General!“). Im Bunde mit ihm ähnlichen Kleingeistern appellierte er so an die niedrigsten Instinkte der feinen Bourgeoisie, die sich im Sowjet festsetzte und die wir bis dahin noch nicht ausschließen konnten.“ Dieses Feindbild ging in andere Schulbücher ein.
Ein Skript Ernst Tollers (Collection Harold Hurwitz) mit seiner Darstellung über den Leserbrief hinaus, den die Prawda am 26. März 1926 auf Seite 5 brachte, ist meines Wissens ungedruckt geblieben. Emil J. Gumbels Bilanz der Menschenopfer von 1921, Zwei Jahre Mord, bleibt bis heute unbeachtet.
Aber der Versuch, die Schriftsteller der Revolution mit Hilfe der Psychiatrie allesamt als Verrückte zu bezeichnen, fand ein breites Echo. Er ist inzwischen zu einem weitverbreiteten Mittel sozialer Ausstoßung geworden: Sensibilität gegen Unrecht stigmatisiert, und die Empörung gegen das magische Opfer wird zur Unvernunft erklärt.

Magie des Menschenopfers und literarische Potenz:
Unversöhnliche menschliche Ausdrucksmöglichkeiten

Der Vorwurf Werners und anderer Kommunisten richtet sich in der Hauptsache gegen Tollers skrupulösen Umgang mit der Gewalt; und mit der „feinen Bourgeoisie”, die noch nicht ausgeschlossen werden konnte, werden die anderen Literaten gemeint sein: Mühsam, Landauer, Wolfenstein, Niekisch, Marut.. .
Werner sieht da ganz richtig einen Widerspruch; aber er läßt sich in das Klassenschema nicht hineinzwängen. Er reicht weit über alle soziologischen Abstraktionen hinaus: Die Magie des Menschenopfers steht auf der Skala der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten auf der einen Seite und die literarische Potenz auf der entgegengesetzten. Zwischen beiden gibt es eine Vielzahl anderer Möglichkeiten; aber die Pole bleiben, wo sie sind – und was sie sind: unversöhnlich.

nach oben