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Die Deutschen und ihr Reich

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 64-70

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S.64-70

Deutsche Schwie­rig­keiten mit der Geschichte

Die Deutschen in ihrer Gesamtheit haben noch immer Schwierigkeiten mit ihrer Geschichte, die stärker als die eines anderen europäischen Volkes mit dem Begriff „Reich“ verknüpft ist. Nach drei Reichen mit immer katastrophalerem Ende (1806, 1918, 1945) sollte man meinen, daß die Deutschen genug hätten vom Reich, seiner Macht und trügerischen Herrlichkeit. Aber, kaum ist’s zu glauben, es gibt wieder – oder noch – politische Kräfte in der Bundesrepublik, deren Logik auf ein 4. Reich zielt – nicht nur die NPD und verwandte rechtsradikale Kräfte trauern dem Reich so heftig nach, polemisieren so maßlos gegen die Bundesrepublik, daß der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, sie würden am liebsten einen neuen deutschen Machtstaat errichten, wenn sie könnten; zunächst „nur” in den Grenzen des Deutschen Reichs von 1937, in ihren geheimen Wunschträumen vermutlich anschließend bis zu den Grenzen von 1914, und dann wären neu-deutschen Neuordnungsvorstellungen kaum wieder Grenzen gesetzt, mit katastrophalen Rückwirkungen wie gehabt.

Welches „Reich”?

Auch Franz Josef Strauß wird sich fragen lassen müssen, welche Logik er in seinen Attacken gegen die sozialliberale Ostpolitik und die Ostverträge anvisierte, wenn er 1972 behauptete, das Deutsche Reich existiere noch immer: Welches Reich? Das letzte, also das 3. Reich? Oder ein von aller Numerierung abstrahiertes, gleichsam „ewiges” Reich der Deutschen? Von Otto dem Großen oder gar von Karl dem Großen, in dessen Namen noch immer in Aachen Karlspreise vergeben werden? Wäre ein wie auch immer geartetes Deutsches Reich also sein, zumindest geheimes, Ideal für die politische Existenz der Deutschen? In welcher Form? Als Monarchie, also vermutlich wieder mit einem Kaiser an der Spitze? Oder als caesaristischer Führerstaat wie unter Hitler? Wer wäre, wenn nicht er selbst, der starke Mann dieses neuen Reichs, gekrönt oder ungekrönt? So wären dann Bundesrepublik Deutschland und DDR nichts als lästiges Interregnum, schwächliches Intermezzo von Reich zu Reich? Und was würde aus Österreich? Würde es auch gleich mit vereinnahmt in das neue Reich? Fragen über Fragen. Wenn Strauß sie für absurd oder gar diffamierend hält, so muß die Rückfrage lauten: Warum dann so unverantwortliches Geschwätz, zumal er sich so gern mit der Aura des Wissenden umgibt, der allein in Deutschland sich mit historischen Perspektiven nach rückwärts und vorwärts wirklich auskennt?

Fatale Inter­re­gnums-Logik

Auch alle offiziellen wie offiziösen Stellen, die noch immer von der Existenz des Deutschen Reichs ausgehen, leisten solchen Fragen nach der politischen Virulenz des Reichsgedankens in Deutschland immer noch oder wieder Vorschub. Schon der Adler an der Stirnwand des Deutschen Bundestags in Bonn seit 1953, fetter selbst als der des 3. Reichs, häßlicher noch als der des 2. oder 1. Reichs, sollte für alle Republikaner ständiges Ärgernis sein. Die These von der Weiterexistenz des Deutschen Reichs mit der Bundesrepublik gleichsam als einzig legitimer Statthalterin weist, vielleicht ungewollt, wieder auf jene fatale Interregnums-Logik hin, die der rechtsradikalen Reichs-Romantik zugrunde liegt.
Sinnvoll ist natürlich die Konstruktion, daß die Bundesrepublik Rechtsnachfolgerin des 1945 untergegangenen deutschen Staats ist, in dessen Rechte und Pflichten sie eintritt, schon weil es aus praktischen Gründen kein Rechtsvakuum zur Regelung vieler Alltagsprobleme geben darf.
Aber dann ist auch die DDR, so mies sie sich gerade in allerjüngster Zeit wieder einmal selbst darstellt, Rechtsnachfolger des 1945 untergegangenen deutschen Staats, der damals Deutsches (seit 1938 sogar „Großdeutsches”) Reich hieß. Nur: ein Deutsches Reich existiert nicht mehr – seit 1945. Alles andere ist politisches Stühlerücken, das in seiner Konsequenz Kräften in die Hände arbeiten könnte, die den Vertretern der offiziellen oder offiziösen Reichs-These, zB dem Bundesverfassungsgericht, sicher auch suspekt und unerwünscht sind.

„Reichs“-Tradition in der DDR

Die Sachlage wird auch nicht gerade dadurch erleichtert, daß die DDR aus taktisch-opportunistischen Gründen sich ihrerseits selektiv an zumindest äußerliche Namen und Symbole deutscher Reichsvergangenheit klammert: Deutsche Reichsbahn und Mitropa, Wiederentdeckung und Aufmöblung der reaktionär-deutschtümelnden „Befreiungskriege“-Ideologie von 1813 in den Jahren seit 1952 zur Gewinnung der Reste des nationaldenkenden Bürgertums in der DDR, gar die der deutschen (später großdeutschen) Wehrmacht nachempfundenen Uniformen der Nationalen Volksarmee, mit altpreußisch-militaristischem Zeremoniell, vom Stechschritt über Wachablösung vor dem Alten Zeughaus Unter den Linden bis zu militaristischen Renommier-Paraden durch Ost-Berlin zum 1. Mai und ähnlichen Anlässen. Die Beibehaltung der Mitropa in der DDR ist besonders aufschlußreich, denn mit der Mitropa fährt im Geiste mit, wenigstens in der Abkürzung verfremdet, die mitteleuropäisch verschleierte Variante kaiserlich-deutscher Reichshegemonie im 1. Weltkrieg. Die Mitropa wurde immerhin 1917 als „Mitteleuropäische” Speisewagen- und Schlafwagengesellschaft gegründet, als nach der Eroberung Serbiens (1915) die Deutsche Reichsbahn erstmals den langerträumten Schienenweg von Berlin nach Konstantinopel, unter einheitlich deutscher politischer Kontrolle in Regie nehmen konnte. Und die Beteiligung von DDR-Truppen der Nationalen Volksarmee beim Einmarsch in die CSSR 1968 rief unweigerlich, vor allem bei den Betroffenen selbst, die Erinnerung an den Einmarsch von Truppen des (damals schon großdeutschen) Reichs in die CSR 1938 wach, schon weil sich die Uniformen der deutschen Soldaten über 30 Jahre hinweg so fatal ähnelten. Der kritische Außenstehende kann vorläufig nur ahnen, was sich hinter der offiziellen DDR-Funktionärs-Mentalität, nur kommunistisch gewendet, alles an deutschen Ordnungs- und Hegemonialvorstellungen noch als latente Möglichkeit verbergen mag, namentlich gegenüber ökonomisch weniger entwickelten „Bruderstaaten” in der sozialistischen Gemeinschaft, wenn sie ideologisch nicht so parieren, wie Moskau und/oder Ost-Berlin es wünschen!

Ökonomische Krisen – Gefahr für die Freiheit

Warum dieser hyperkritische Rundschlag? Politisches Gespenstersehen aus reiner Freude an der Kritik? Keineswegs. Wenn nicht alles täuscht, so steht uns – in der Welt insgesamt, im Westen und in der Bundesrepublik besonders – eine tiefgreifende Strukturkrise ins Haus, die sicher auch uns inzwischen selbstverständlich gewordene Vorstellungen in Mitleidenschaft ziehen wird. Eine kürzlich aufgeschnappte Bemerkung eines älteren Mitbürgers zu einem Gleichaltrigen mag einen ernstzunehmenden Hinweis geben: „Wenn sich die Genossen (das meint: die SPD; I. G.) noch lange halten, dann wird es bald wieder wie 1933.” In der Tat zeigt die historische Erfahrung; daß Freiheiten und Mitbestimmungsrechte, errungen in Zeiten ökonomischer Expansion, in Zeiten einer ökonomischen Krise wieder gefährdet sind. Der Sieg des Faschismus in Deutschland 1933 – kurzfristig unmittelbare Reaktion auf die große Weltwirtschaftskrise von 1929, längerfristig auch Reaktion auf den Verlust des 1. Weltkriegs und den Untergang des 2. Deutschen Reichs – ist nur das uns am nächsten liegende Beispiel, weil es historisch unsere gegenwärtige politische Existenz auf vielfältige Weise am nachhaltigsten geprägt hat, direkt oder indirekt.

Ein genereller weltge­schicht­li­cher Mechanismus

Aber auch sonst gibt es unzählige Beispiele dafür, wie eine Gesellschaft, die an Erfolg und Expansion, ökonomisch wie militärisch, auf einen ernsthaften Rückschlag, gar eine Umkehrung des bisherigen Prozesses, mit Krisen nach Innen reagierte, gar mit Sturz des Regierungssystems, das „versagt” hatte, das den gewohnten oder erwarteten Erfolg nicht mehr brachte. Dieser Mechanismus ist so allgemein, vom alten Ägypten und alten China bis in die Gegenwart, daß wir Deutsche uns aus politischem Weltschmerz nach der Erfahrung des Faschismus nun auch nicht in einen historischen Nihilismus zu flüchten brauchen. Quälerische Selbstzerstörung unserer historischen Identität aus antifaschistischer Gesinnung ist ebenso schädlich wie eine offen oder versteckt reaktionäre Bagatellisierung des Faschismus. Die Entschlossenheit, die politischen Hypotheken des 3. Reichs zu übernehmen, kann vor dem Versinken in Verzweiflung an den Deutschen bewahren, als seien nur die Deutschen schlecht, oder als seien sie besonders schlecht.
Dazu ist allerdings rationale Kenntnis der Geschichte unerläßlich, der außerdeutschen wie der deutschen. Die außerdeutsche Geschichte gibt den generellen Mechanismus in der Weltgeschichte zu erkennen, wie expandierende Gesellschaften auf die früher oder später eintretenden Niederlagen mit Konflikten nach innen reagieren, bis hin zur Selbstzerstörung. Die deutsche Geschichte macht die spezifisch deutsche Variante dieses universalen Mechanismus deutlich, im deutschen Fall noch besonders verquickt mit der Problematik von Reich und Nation.

„Regnum” und Natio­nal­staat

Alle politischen Gebilde, die sich über das Niveau von Stammesgesellschaften oder Stadtstaaten er-hoben, organisierten sich entweder als nationale oder als imperiale Machtstrukturen, oft auch mit einem fließenden Übergang zwischen beiden Typen. Der Zusammenschluß von meist (aber. nicht notwendig immer) ethnisch, sprachlich und kulturell verwandten Gruppen, meist unter Druck von außen (Krieg), zu einem Staat „nationalen” Charakters ist die Regel. Die meisten modernen Staaten beanspruchen den Charakter von Nationalstaaten. Als ihre Vorform läßt sich das begreifen, was in der westlichen Antike und im europäischen Mittelalter mit dem lateinischen Begriff des „regnum” bezeichnet wurde, also des „Königreichs”. Ein „regnum” stand in der Mitte zwischen Stammesgesellschaften auf barbarischem oder halbbarbarischem Niveau und den großen Imperien, die in der Regel mehr oder weniger identisch waren mit den großen Zentren der antiken Hochkulturen wieder vom alten Ägypten bis zum alten China.
Für die schriftlich artikulierte und daher am ehesten rational faßbare Geschichte ist „regnum” somit auch die grundsätzliche Alternative zum „imperium”, den auf Eroberung, aber auch Zivilisierung beruhenden Großstaaten – z.B. der Perser oder der Römer –, die über einen ursprünglich „nationalen” Kern hinausgriffen. Die Dialektik zwischen Eroberung und Ausbreitung der antiken Hochkulturen beziehungsweise ihren modernen Weiterentwicklungen (kürzer: Zivilisation) läßt sich seit einem Jahrzehnt, humoristisch verfremdet, gut in den modernen Volksbüchern des „Asterix und Obelix” ablesen, die geradezu von der Spannung zwischen erobernder Zivilisation und, in diesem Fall, sogar dem Rückzug auf den konservierten präzivilisierten Tribalismus auf Dorfebene leben.
Häufig konstituierte sich ein „Regnum” aus einem zerfallenden „Imperium”, auf der Grundlage von tribalen Einheiten, die vorher durch imperiale Eroberung in Kontakt mit der jeweils dominierenden Hochkultur gekommen waren, über die sich neue, von Außen kommende halb-barbarische Eroberer schoben. Eine wichtige Variante für das Zustandekommen eines „regnum” bietet Skandinavien, das niemals im Herrschaftsbereich des Römischen Reichs lag – (gewaltsamer) Zusammenschluß von Kleinkönigtümern in Nachahmung des Prozesses, der weiter südlich auf dem Boden des Römischen bzw Fränkischen Reichs schon angelaufen war.
Für unsere Region ist natürlich das Römische Reich mit seinen Eroberungen und zivilisatorischen Ausstrahlungen über seine Grenzen hinaus und über seine politische Existenz hinaus (durch Christentum und lateinische wie orthodoxe Kirchen) das prägende Grundmodell, das sich aber, bei näherem Zusehen, auch bei anderen Großreichen finden läßt (zB dem persischen, dem arabischen Kalifat usw). .
Symbol imperialer Herrschaft ist in unserer Region der Adler geworden, seitdem Marius den mit römischen Proletariern aufgefüllten neuen Legionen Roms die Legionsadler verlieh, um ihnen gegenüber den eingebrochenen barbarischen Kimbern und Teutonen neues Selbstvertrauen zu geben. Eine weitere Variante des Adlers war der Doppeladler, zuletzt in Österreich-Ungarn und im zaristischen Rußland, der über das mittelalterliche Heilige Römische Reich und Byzanz, das neupersische Reich der Sassaniden bis auf die Sumerer um 2000 v Chr. zurückgeht.

Nationaler Freiheits­kampf gegen imperiale Unter­drü­ckung

Die meisten modernen Nationalstaaten zumindest Europas weisen somit direkt oder indirekt auf mittelalterliche „Regna” zurück, die ihrerseits unter direkter oder indirekter Einwirkung von antiken Imperien oder ihren mittelalterlichen Fortsetzungen (Byzanz und Karolingerreich/Imperium der Deutschen, Osmanisches Reich, Russisches Reich, arabisches Kalifat) standen. Sie bezogen oder beziehen ihr nationales Pathos geradezu aus dem nationalen „Freiheitskampf” gegen imperiale Unterdrückung oder imperialen Druck- von der spanisch/portugiesischen „Reconquista” im Südwesten über den Freiheitskampf der Niederlande gegen Spanien im Nordwesten, den Kampf der Russen gegen die Tatarenherrschaft im Osten und der Balkanvölker gegen das byzantinische, später Osmanische Reich im Südosten. Das italienische „Risorgimento” des 19. Jahrhunderts lebte vom Ressentiment ment gegen Österreich bzw. Osterreich-Ungarn, und selbst die französische Nationalmonarchie, als unmittelbare Vorstufe zur modernen Nation der Französischen Revolution seit 1789, erhielt ihre entscheidende Ausprägung zu Beginn der Neuzeit in der Selbstbehauptung, gegenüber dem Druck der Habsburger im Reich und in Spanien. Die Schweiz zehrt vom Freiheitskampf ihrer Urkantone gegen die fiskalischen Anforderungen des modernen Staats in Gestalt des habsburgischen Territorialstaats, der immerhin mehrere Jahrhunderte lang die Grundlage für die Herrschaft der Habsburger im Reich abgegeben hatte.

Vom „Regnum” zum „Imperium”

Umgekehrt widerstanden Gesellschaften, die als „Regnum” organisiert waren, kaum der Versuchung, sich zu einem „Imperium” auszuweiten, wenn Machtvakua, meist entstanden aus innen-politischen Wirren und Konflikten, bei Nachbarstaaten dazu einluden. So hatten fast alle modernen europäischen Nationen Phasen zumindest versuchter Großmachtbildung mit imperialer Gebärde, mit oder ohne Kaisertitel als förmlicher Krönung solch imperialer Prätentionen – Spanien in Süditalien wie später in der Neuen Welt, Polen vor allem gegenüber Litauen und Rußland, Ungarn vor allem gegenüber Südslawen, Bulgaren, Serben auf dem Balkan, Frankreich in Italien, die Deutschen mit ihren drei Reichen, selbst die heute so friedlichen Skandinavier mit Wikingern (Normannen) im frühen Mittelalter bis zum Hochmittelalter, ferner mit Eroberungen untereinander und jenseits von Ost- und Nordsee, oder die Niederländer, deren Herrschaft über Belgien zwischen 1815 und 1830 als Bedrückung empfunden wurde.
Die meisten euopäischen Nationalstaaten zehren noch heute vom Glanz ihrer jeweils imperialen oder annähernd imperialen Phase der Vergangenheit, je weiter rechts im politischen Spektrum ihre führenden Kräfte stehen. Die Ideologie. der Faschisten lebte unter anderem gerade von der Anknüpfung an den Glanz imperialer Vergangenheit. Im italienischen Fall ist der Zusammenhang mit geradezu klassischer Klarheit am krampfhaften Bemühen Mussodinis abzulesen, das „Imperium Romanum” wiederherzustellen, bis hin zur Wiederbelebung des Kaisertitels, und wenn nur auf der Grundlage der Eroberung im fernen Aethiopien, das bekanntlich nie zum Römischen Reich gehört hatte.

Konfliktzonen

Konfliktzonen zwischen modernen Nationalstaaten entstehen unter anderem dort, wo sich Territorialforderungen verschiedener Nationalstaaten, abgeleitet aus der einstigen Zugehörigkeit zur jeweiligen imperialen oder quasi-imperialen Phase zweier Staaten, überschneiden. Das klarste Beispiel dafür ist Makedonien, das jeweils einst vom „Großbulgarischen” und vom „Großserbischen” Reich im Mittelalter erobert worden war, das aber auch Griechenland beansprucht, schon wegen noch viel älterer historischer Zusammenhänge. Umgekehrt lassen sich Spannungen zwischen verschiedenen Landesteilen in modernen Nationalstaaten, die teilweise föderativ überbrückt werden, unschwer auf die lange Zugehörigkeit zu imperialen Gebilden unterschiedlichen Charakters und Prägung durch sie erklären, vor allem in Jugoslawien: Die westlichen Bundesstaaten gehörten seit der endgültigen Teilung des Römischen Reichs (395) stets zum lateinischen, römisch-katholischen Westen, der Osten zu Byzanz, zu von Byzanz kirchlich und kulturell geprägten Staaten bzw. zum Osmanischen Reich. Erkennbar, wenn auch politisch nicht mehr potentiell so explosiv wie in Jugoslawien, sind noch die Unterschiede, die 125 Jahre Zugehörigkeiten zu gleich drei imperialen Strukturen in Polen herbeigeführt hatten – zu Rußland, Österreich-Ungarn und Preußen-Deutschland.

Der imperiale Faktor in der deutschen Geschichte

In so weite historische und geographische Zusammenhänge ist eine rationale Analyse der deutschen Geschichte zu stellen, um kurzschlüssige Reaktionen in der einen oder anderen Richtung zu. vermeiden. Die deutsche Geschichte ist besonders intensiv und vielfältig vom imperialen Faktor geprägt. Das deutsche „Regnum” entstand, wie das französische, als Spaltungsprodukt des Karolingerreichs (911), das seinerseits, mit der Kaiserkrönung Karrs des Großen (800), den Anspruch erhoben hatte, das Römische Reich im lateinischen Westen wieder zu erneuern. In der Tradition Karls des Großen stand wiederum Otto der Große, als er, in Nachahmung der Karolinger, noch einmal – das Imperium Romanum mit seiner Kaiserkrönung zu erneuern beanspruchte (962), obwohl rund die Hälfte des damaligen Deutschland nie zum Römischen Reich gehört hatte, obwohl die Deutschen als neue Reichsnation keineswegs zu den ökonomisch und zivilisatorisch höchststehenden Völkern des mittelalterlichen Europa gehörten, eher einen bescheidenen Mittelplatz einnahmen.
Die mittelalterlichen Deutschen schlüpften daher in kaiserliche Schuhe, die ihnen viel zu weit waren, und in einen viel zu weiten imperialen Mantel, in dem sie sich ständig verhedderten: sie konnten ihren imperialen Anspruch nicht ausfüllen, weder mit militärischer Macht noch mit zivilisatorisch-kulturellen Leistungen, allenfalls, aber nur für kurze Zeit, mit dem missionarischen Anspruch gegenüber den slawischen Stämmen zwischen Deutschland und Polen und gegenüber Skandinavien. Gleichwohl blieb der imperiale Hegemonialanspruch, den das neue Imperium Romanum mit militärischer Eroberung auszufüllen versuchte, wo immer es nur gelang, bis hin zur Erzwingung einer deutschen Oberlehensherrschaft über Nachbarstaaten, entsprechend der damals gängigen Form der feudalen Monarchie. Auf dem Höhepunkt solcher imperialen Ansprüche, unter dem Staufer Heinrich VI (1190-1197), reichte die (zumindest formale) Anerkennung deutsch-kaiserlicher Oberlehensherrschaft immerhin von England bis nach Zypern und Klein-Armenien, einschließlich der Tributsleistung von Byzanz.

Absturz in die Dauer-Krise

Der frühe Tod von Heinrich VI (1197) schnitt konkrete Pläne zur Eroberung des durch seldschukische Türken, innere Konflikte und Kreuzzüge geschwächten Byzanz ab und brachte zugleich den Absturz in die eigene Reichskrise, von der sich das Reich der Deutschen im Grunde nie wieder erholte. In der jahrhundertelangen Agonie des ersten Reichs der Deutschen, von 1 197 bis 1806, darüber hinaus in der Zeit des Deutschen Bundes (1815-1866) als Ersatz- und Nachfolgeorganisation des untergegangenen Deutschen Reichs, spiegelte die Kyffhäuserlegende mit der Kombination von Kaiser Friedrich I und Friedrich II, jeweils Vater bzw Sohn von Kaiser Heinrich VI, die populäre Sehnsucht nach „Kaiser und Reich” wider, mithin nach der vergangenen Macht und Herrlichkeit des mittelalterlichen Reichs vor seinem Absturz in die Dauerkrise von über 600 Jahren.

Deutsche Reichs­-Nost­algie verhindert Natio­nal­staat

Nichts an diesem Vorgang ist an sich ungewöhnlich: Die Macht- und Glanzperioden von großen Reichen sind in der Regel nur relativ kurz, leben aber auch in anderen Gesellschaften als Glanzpunkte der je nationalen Geschichte sehr viel länger fort. Der Versuch zur Wiederherstellung eines untergegangenen Reichs, wie im Falle der mittelalterlichen Deutschen, auch durch Kräfte, die selbst dem untergegangenen Reich nie oder nur marginal angehört hatten, ist auch anderswo anzutreffen. Ein gutes Beispiel ist die moskowitische Ideologie, die nach dem Fall von Konstantinopel (1453) Moskau als „Drittes Rom” beanspruchte, in der Nachfolge von Byzanz, das seinerseits als das Reich der „Rhomäer” die einzig legitime Fortsetzung des Römischen Reichs beanspruchte, oder die Erneuerung des Großreichs des Dschingis Khan durch Timur um 1400 von Samarkand aus. Im deutschen Fall aber verhinderte die jahrhundertelange Reichs-Nostalgie die Herausbildung eines Nationalstaats der Deutschen, wie er sich im übrigen Europa durch alle inneren und äußeren Konflikte über die Jahrhunderte hindurch als der Regelfall durchzusetzen begonnen hatte. Die Nationalmonarchie ließ sich, seit den Präzedenzfällen der Englischen Revolution im 17., der Französischen Revolution im späten 18. Jahrhundert, auf europäischem Boden gleichsam dialektisch zur bürgerlichen Demokratie umstülpen, jetzt schon auf der ökonomischen Grundlage der anlaufenden industriellen Produktion, selbst wenn die westlichen Nationalstaaten ihre Eroberungspotenzen mit der Bildung von Kolonialreichen in Übersee auslebten.

Vom Deutschen Bund zum Kaiserreich

Da das alte Heilige Römische Reich Deutscher Nation bei Ausbruch der Französischen Revolution formal noch bestand, wirkte seine endgültige Zertrümmerung durch die Französische Revolution und ihren, sich zuletzt seinerseits kaiserlich-imperial drapierenden Vollstrecker, Napoleon 1, keineswegs als Befreiung vom Alptraum der Geschichte, der die Hirne der damals Lebenden so bedrückt hatte, sondern, gekoppelt mit den bei Eroberungen offenbar unvermeidbaren Gewalttaten und Ausbeutungsvorgängen, als „nationale” Katastrophe, von der provisorisch zunächst die „Befreiungskriege” von 1813/15 wieder befreiten.
Im Deutschen Bund blieb zwar den Reichspatrioten, wie dem Freiherrn von Stein, ein neues Reich der Deutschen vorenthalten, aber er nahm Rücksicht auf 600 Jahre Geschichte Europas, in der das deutsche Zentrum weitgehend ein Machtvakuum gewesen war, zuletzt ausbalanciert durch die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen. Die Verhinderung einer neuen Machtzusammenballung in Deutschland, symbolisiert in einem neuen Reich, geschah aber politisch in so reaktionärer Form, daß sich vorübergehend eher chauvinistische Reichspatrioten und demokratische Republikaner in ihrer Opposition gegen den Deutschen Bund trafen. In der deutschen Revolution von 1848/49 ging es daher vor-wiegend um die Errichtung eines neuen Reichs für die Deutschen, ob klein-deutscher oder groß-deutscher Prägung. Nach dem Scheitern einer Reichsgründung überwiegend von unten war der Weg frei für die bekannte Reichsgründung eher von oben durch Bismarck mit den drei Blitz-und Einigungskriegen von 1864, 1866 und 1870/71, die nun tatsächlich in ein neues Kaiser-reich einmündeten.

Das Scheitern deutscher Weltmacht­po­litik

Nach einer Generation der relativen inneren Konsolidierung und der ökonomischen Expansion schloß sich mit der Weltpolitik, als deutscher Variante des inzwischen weltweit gewordenen modernen Imperialismus, der Versuch zur Expansion in Übersee an, der seinerseits konsequent in den 1. Weltkrieg und den Versuch zur kontinentalen Expansion in Europa einmündete, um die territoriale Basis für die angestrebte deutsche Weltmachtstellung in Übersee zu verbreitern. Die notwendige Überanstrengung der deutschen Kräfte und Ziele gegen die sprichwörtliche „Welt von Feinden” führte zum politischen Kollaps der Novemberrevolution 1918 und in die Weimarer Republik, die von deutschen Reichschauvinisten nun als neues Interregnum abgewertet wurde: Aus dem Ressentiment über Verlust des Krieges, der Krone und der Prosperität entstand das explosive Gemisch von durchaus heterogenen sozialen und politischen Faktoren, die sich im Nationalsozialismus als deutscher Variante des Faschismus zusammenfanden.
Der Versuch des (nunmehr 3.) Reichs, durch einen global gewordenen Konflikt hindurch die deutschen Kriegsziele des Kaiserreichs aus dem 1. Weltkrieg noch zu erweitern, gleichzeitig seine Methoden zu vergröbern und zu brutalisieren, endete im bekannten Debakel des 2. Weltkriegs und des 3. Reichs, von dem unsere gegenwärtige politische Realität historisch ihren Ausgangspunkt nimmt.

Neue deutsche Macht­zu­sam­men­bal­lung?

Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik sind, historisch gesehen, gleichsam die logischen Zerfallsprodukte des Deutschen Reichs. Beide deutschen Staaten nehmen mit ihrem ökonomischen und militärischen Potential schon längst den zweiten Platz in West und Ost ein. Zusammengenommen würden sie automatisch wieder eine jener Machtzusammenballungen werden, die dem politischen Gleichgewicht Europas noch nie bekömmlich waren. Andererseits ist der Wunsch nach einem Minimum von Zusammengehörigkeit der Deutschen durchaus legitim. Aber die Deutschen in West wie in Ost werden die verheerenden Erfahrungen Europas und der Welt mit neu-deutscher Machtzusammenballung in zwei Weltkriegen zu respektieren haben, wenn sie sich nicht selbst neue politische Katastrophen bereiten wollen.

Rationale Krisen­lö­sung statt Flucht in die Expansion

In der sich abzeichnenden Krise ökologisch-ökonomischer Art, wie sie sich im Konflikt um Kernkraftwerke, jüngstens in Brokdorf, abzeichnet, ist daher der Weg nach rückwärts in ein neues Deutsches Reich versperrt. Die anstehenden inneren Konflikte müssen wir rational und politisch durchstehen. Die Flucht in die Expansion nach außen, zunächst einmal „nur” zur Wiederherstellung der deutschen Einheit auf der Basis neuer Machtpolitik, könnte, wie gehabt, zu kurzfristigen „Erfolgen” führen. Sie würden aber mit umso tödlicherer Sicherheit in eine noch tödlichere Katastrophe als nach 1933 führen. Das sollten alle die bedenken, die aus Ärger über manchmal tatsächlich zu weitgegangene Freiheiten und „Reformen”, z.B. an Schulen und Universitäten, den Sieg einer Reaktion ä la Strauß oder gar ä la 1933 wünschen oder hinzu-nehmen bereit sind.

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