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Das Braun­schweiger Schul­buch­in­stitut

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 98-101

oder: Das Vermächtnis des Professors Georg Eckert

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S. 98-101

Vor kurzem hat das mainzer Kabinett unter Ministerpräsident Bernhard Vogel beschlossen, dem Kuratorium des Georg-Eckert-Instituts Braunschweig beizutreten. Einen ähnlichen Schritt erwartete die niedersächsische Regierung Anfang Februar vom Kabinett Filbinger; bekannt-geworden ist darüber bisher nichts. Ferner lassen Äußerungen aus Düsseldorf darauf schließen, daß auch die nordrhein-westfälische Regierung dem genannten Kuratorium beitreten will.
Wer oder was das Georg-Eckert-Institut ist, läßt sich am besten an dem Mann darstellen, dessen Namen diese Einrichtung trägt, Georg Eckert, geboren 1912, religiöser Sozialist, 1974 einer Herzattacke erlegen, war Geschichtsprofessor an der Pädagogischen Hochschule Braunschweig. Als er 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, verschrieb er sich als Mitglied der Lehrergewerkschaft der Völkerversöhnung. In ihm bohrte, wie er sich einmal ausdrückte, die „Null-Stunde”, die „revolutionäre Situation, daß alle deutschen Schulbücher erneuert werden müßten”. Unter diesem Zeichen stellte Eckert den Lehrplan für den Geschichtsunterricht an den Volksschulen des damaligen Landes Braunschweig auf; es war der erste Plan dieser Art in der „Bizone”. Das nächste Projekt war die Überlegung, die neuen Geschichtsbücher zusammen mit gleichgesinnten Experten anderer Nationen auszuarbeiten, die Schulbücher von Nationalismen, eingefleischten Vorurteilen und böswilligen Diffamierungen ohne Beschönigung des Vergangenen freizuhalten und gegenüber dem Ausland dazutun; daß es auch ein „anderes Deutschland” gegeben hatte.
Im Sommer 1949 schon organisierte Eckert die erste deutsch-englische Schulbuchtagung, 1950 fuhr er mit einem Handköfferchen voller Geschichtsbücher nach Paris. Seither hat das Schulbuch-Institut der Braunschweiger PH, zuletzt freilich in einer formelleren Verfassung, rund zweihundert solcher Tagungen durchgeführt. Das ging meist so vor sich, daß man zunächst bilateral die Schulbücher durchforschte, darüber Gutachten anfertigte und diese einer Konferenz von Experten vorlegte, die daraus Empfehlungen für Schulbuchautoren und Verleger verfertigte. Außer der Landesregierung unterstützten den versöhnungswilligen Professor der Europarat und die Unesco. Nicht von ungefähr wurde er später Präsident der deutschen Unesco-Kommission. Diese Position, seine Bescheidenheit, Hingabe und Fachkenntnisse öffneten ihm fast alle Türen, so daß er anfangs der 60er Jahre feststellen konnte, daß die Revision der westlichen Schulbücher im wesentlichen abgeschlossen sei.
Nach einigen Abstechern in die Dritte Welt pochte der „Schulbuchentgifter” an den Eisernen Vorhang, vor allem an die Türen der slawischen Welt. Ein verheißungsvoller Auftakt mit Historikern der CSSR – man war mit dem „Aufräumen” der Geschichte bis zu den Hussiten vorgedrungen – wurde durch die Ereignisse vom August 1968 unterbrochen und seither nicht wieder aufgenommen. 1972 – nach Abschluß der Warschauer Verträge – begannen Beratungen mit polnischen Fachkollegen. Sie sind nach neun Konferenzen in Warschau und Braunschweig mit der Behandlung der Zeitgeschichte in die heikelste Phase eingetreten, weil zur Bewältigung der Vergangenheit noch ideologische Hemmschuhe und die Einbindung in zwei Machtblöcke kamen, und sie haben mit der Endreaktion von 26 Empfehlungen einen gewissen Abschluß erreicht, der durch Fachkonferenzen noch abgerundet werden soll. Eckert erlebte diese Phase nicht mehr, er starb im Januar 1974 nach der fünften Konferenz.

Der Tod des Professors Eckert zeigte, daß alle bisherige Schulbuchrevision das Werk dieses Mannes war. Zwar trug sein Schulbuchinstitut längst die Bezeichnung „international”, zwar hatte bereits 1967 der Europarat das Institut zum „clearing house” der Mitglieder für die Schulbuchrevision ernannt und die meisten Aktionen erfolgten im Namen der Unesco, aber was Eckert nicht mit diplomatischem Geschick in die Wege geleitet hatte, geschah nicht. Die Lücke, die sein Tod gerissen hatte, konnte nur durch eine Institution gefüllt werden, und so wurde damals im Schoß der Sozialliberalen Koalition Niedersachsens (der Braunschweiger Eckert war seit je mit dem aus Braunschweig stammenden Ministerpräsidenten Kubel befreundet) die Idee eines Georg-Eckert-Instituts mit öffentlich-rechtlichem Charakter geboren. Der Gesetzentwurf sah eine enge Bindung an das Land Niedersachsen durch entsprechende Besetzung des „Kuratoriums” vor, das den „Direktor” des Instituts in seiner Arbeit unterstützen sollte.
Die damals oppositionelle CD U forderte dagegen, daß das niedersächsische Patronat an den Kreis der Kultusministerkonferenz abgetreten werde, mit anderen Worten: die CDU wollte mitreden. Diese Bestrebungen fanden Unterstützung bei der Bundesregierung, weil in Bonn polnische Klagen vorlagen, daß die oft hart erarbeiteten „Empfehlungen” der Konferenzen in manchen Bundesländern an den Plafond der Kulturhoheit stießen. Die Bundesregierung ließ demnach wissen, daß sie in Zukunft Geld nur beisteuern werde, wenn die KMK an die erarbeiteten Ergebnisse der Schulbuchrevision gebunden werde.
Die Niedersachsen passten sich an. Das vor-gesehene Kuratorium wurde im Gesetz von neun auf neunzehn Mitglieder dadurch erweitert, daß jedes Bundesland darin durch einen Abgesandten des zuständigen Ministers vertreten ist. Mit dem Beitritt ist die Verpflichtung verbunden, nach dem Königsteiner Schlüssel die fixen Kosten des Instituts mitzutragen, das sind jährlich rund 400000 DM (1976: 378000 DM). Die Projekt-kosten (für die Konferenzen) in Höhe von ZO 000 bis 30 000 DM pro Veranstaltung besorgte Eckert (jetzt sein Nachfolger) jeweils beim „Bund”, bei VW-Stiftung und Deutscher Forschungsgemeinschaft usw. Dem so abgeänderten Gesetz stimmte auch die CD U zu, sie übernahm es, über den damaligen Mainzer Kultusminister Vogel die CDU-geführten Länder zum Beitritt zu bewegen. Die SPD übernahm diese Aufgabe für die von ihr regierten Länder.
Das Gesetz trat am 1. Juli 1975 in Kraft. Nach Eckerts Tod hatte der Wissenschaftsminister einem „Wissenschaftlichen Beratergremium”, bestehend aus den Professoren Marien feld (Hannover), Mertineit (Flensburg), von Thadden (Göttingen) und Wöhlke (Berlin), die Verantwortung für die Fortsetzung der Institutsarbeit übertragen. Sprecher des Gremiums ist Professor Bachmann, Rektor der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen. Er übernahm gleichzeitig bis zur Berufung eines Direktors, wie ihn das Gesetz vor-sieht, die Leitung des Instituts. Beirat und Interimsdirektor amtieren heute noch, denn außer Veröffentlichung des Gesetzestextes hat sich am Institut seither nicht viel verändert. Zum Teil ist das darauf zurückzuführen, daß die im April 1976 von der deutsch-polnischen Kommission verabschiedeten „Empfehlungen” unter Beschuß geraten waren, zum anderen Teil aber, weil Anfang 1976 in Hannover die CDU die Regierungsgeschäfte übernommen hatte.

Der erste Schuß gegen die deutsch-polnischen Empfehlungen kam aus den Reihen der Vertriebenenverbände. Es ging um die Zeitabschnitte nach 1945 und dabei um zwei Passagen. Einmal hieß es in den Empfehlungen, die territorialen Veränderungen bei Kriegsende seien „mit umfangreichen Bevölkerungsverschiebungen verbunden” gewesen. Zum anderen wurde von der starken Wirkung der „deutschen Zweistaatlichkeit” auf das deutsch-polnische Verhältnis gesprochen.
Ein niedersächsischer CDU -Abgeordneter nahm die Beanstandungen auf und heischte von der neugebackenen Minderheitsregierung Albrecht Antwort, ob sie dies decke und ob sie diese Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen für ausgewogen halte.
Die Regierung Albrecht ließ sich Zeit, denn inzwischen hatte der Ministerpräsident durch sein Ein-treten für die deutsch-polnischen Verträge im Bundesrat der Bundes-CDU eine Möglichkeit gezeigt, in der Ostpolitik bessere Wege zu beschreiten. Außerdem lag eine Warschauer Einladung an Albrecht zu einem Besuch in Polen vor. Die Antwort, vier Monate nach der Anfrage des CDU-Abgeordneten, fiel entsprechend „diplomatisch” aus. Zum Komplex „Völkerverschiebung” (statt „Massenvertreibung”) wurde darauf verwiesen, daß die Empfehlung im nächsten Absatz auch die Vokabeln „flüchten”, „ausweisen” und „zwangsaussiedeln” enthalte. Zum zweiten Komplex bedauerte die Regierung, „daß durch die undifferenzierte Verwendung der Begriffe ,zwei deutsche Staaten` und ,deutsche Zweistaatlichkeit` der Eindruck entstehen kann, die Empfehlung verkenne die Besonderheit der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR als Teile eines immer noch existierenden umfassenden Staates Gesamtdeutschland mit einem einheitlichen Staatsvolk“. Schließlich ging die Regierung davon aus, daß die Empfehlungen die bestehenden kontroversen Standpunkte nicht aufzuheben, höchstens einander anzunähern vermögen und daß sich daher eine „möglichst befriedigende Ausgewogenheit” nicht erzielen lasse.

Die letztere Feststellung trifft den Kern der Sache und sie zeigt zugleich eine kompromißbereite CD U-Regierung. Die Antwort entspricht dem, was Eckert 1972 gesagt hatte, als die deutsch-polnischen Beratungen begannen: „Es kann dabei weder Sieger noch Besiegte geben.” Vor kurzem hat Professor Gotthold Rohde, Mainz, Mitautor der Empfehlungen, in der FAZ die Teilnehmer der deutschen Verhandlungskommission vor dem Vorwurf in Schutz genommen, sie hätten vor den Polen kapituliert. An Beispielen wies Rohde nach, daß um die meisten Formulierungen, die die Zeit nach 1945 betreffen, hart gerungen wurde, wobei beide Seiten nachgeben mußten. So sei bei der Erwähnung des Verzichts auf Reparationen vom 1. Januar 1954 von polnischer Seite der Wunsch auf Einschaltung des Satzes erhoben worden: „ . . . ohne daß damit auf polnische zivilrechtliche Ansprüche verzichtet wurde”. Diesem Wunsch sei mit dem Argument pariert worden, daß dann auch die zivilrechtlichen Ansprüche der deutschen Vertriebenen ausführlich behandelt werden müßten. Solche Kompromisse kamen zustande, “ in geradezu dramatischen, immer wieder verlängerten und zeitweilig von Abbruch bedrohten Verhandlungen”. Kritikern der Empfehlungen sei schließlich ins Gedächtnis gerufen, daß in Polen bisher Begriffe wie „Heimatvertriebene” und in Zusammenhang damit Vokabeln wie „Zwang” und „große Verluste” verpönt waren. Das wird durch die Empfehlungen anders.

Neben dem Vertriebenenverband rieb sich auch Bayern an den Empfehlungen. Es lehnte offiziell einen Beitritt zum Kuratorium mit der Begründung ab, daß die Empfehlungen „im Widerspruch zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Rechtslage Deutschlands” (,‚Zweistaatlichkeit“) stünden und daß historische Fakten verschwiegen würden. Gemeint ist das Ribbentrop-Molotow-Abkommen.
Gegen letzteren Einwand wird von Konferenzteilnehmern vordergründig die Bilateralität der Vereinbarungen ins Treffen geführt: hier sei es um deutsch-russische, nicht um deutsch-polnisch-russische Beziehungen gegangen, das Molotow-Ribbentrop-Abkommen müsse in einem größeren internationalen Rahmen abgehandelt werden. Zweifellos steckt in diesen Formulierungen Rücksichtnahme auf Polens Stellung im Ostblock.
Alle Kritik aber rennt weitgehend ins Leere, wenn man sich vor Augen führt, was die Empfehlungen sein sollen. Sie sind keineswegs die Geschichtsschreibung selbst; das verbietet allein schon ihr Umfang. Sie sind Orientierungshilfen für die Beschreibung von kritischen Situationen in tausend Jahren Beziehungen zwischen dem deutschen und beispielsweise dem polnischen Volk. Manchmal waren die Situationen so kritisch, daß auch die versöhnungswilligen Experten nicht auf einen Nenner kamen. Dann steht Meinung neben Meinung, und so sollte es auch in den Geschichtsbüchern stehen, soweit angesichts des schrumpfenden Geschichtsunterrichts das betreffende geschichtliche Ereignis überhaupt Erwähnung findet.

Ob es die Ablehnung Bayerns war oder der Regierungswechsel in Hannover – Tatsache ist, daß die Verwirklichung des Gesetzes zum Georg-Eckert-Institut immer noch auf der Stelle tritt, Außer Bayern hat auch das Saarland abgelehnt; nicht aus politischen, sondern aus finanziellen Gründen: Da es im Saarland keine einzige Einrichtung gemäß Königsteiner Schlüssel gebe, beteilige sich die saarländische Regierung an keiner solchen Institution. Ohne Beteiligung der Länder gibt es kein Kuratorium, ohne Kuratorium keinen neuen Direktor. Die niedersächsische Regierung hat – bisher vergeblich – einen finanziellen Köder ausgelegt: Laut Gesetz müssen die Länder, die bisher beigetreten sind, den Anteil der noch nicht beigetretenen Länder gemeinsam tragen; Hannover hat sich nun bereit erklärt, diese finanzielle Bürde allein zu tragen, bis das Kuratorium komplett ist. Ferner hat der Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, Axel von Campenhausen, eine politische Erleichterung in den Vordergrund geschoben: die Kultusminister seien ja garnicht verpflichtet, sich an die Empfehlungen zu halten. Das ist . formal richtig, in dieser unverblümten Form aber ein Verstoß gegen den Geist, der bei der Umformung des ursprünglichen Gesetzentwurfes obwaltete. Wie erwähnt, folgten die niedersächsischen Gesetzesmacher damals dem Wunsch der Bundesregierung, die atmosphärisch wertvolle, staatsrechtlich aber mehr oder weniger unverbindliche Arbeit Eckerts an die Kultusministerkonferenz zu binden, soweit dies der bundesdeutsche Kulturföderalismus zuläßt. Der Wunsch der Bundesregierung ergibt sich aus der Tatsache, daß sie seit drei Jahren bei internationalen Kulturabkommen die Schulbuchrevision in die Verträge aufnimmt.
Unverständlich ist aber auch, warum die SPD-geführten Länder das Erbe Eckerts nicht mitverantworten wollen, zumal der frühere Ministerpräsident Kubel seinen ehemaligen Kollegen Kühn, Schütz und Koschnik wiederholt ins Gewissen geredet hat. Freilich leuchtet auch das Zögern der CDU-geführten Länder nicht ein, denn Konstruktion und Befugnisse des Kuratoriums sind geeignet, eine wie immer geartete Majorisierung zu verhindern.

Geklärt werden müssen überdies noch die Absichten der niedersächsischen Regierung. Ministerpräsident Ernst Albrecht hat auf seiner Goodwill-Reise nach Polen in der ersten Dezemberhälfte 1976 im Eröffnungsgespräch mit dem neuen Außenminister Wojtaszek gesagt, er und sein (anwesender) Kultusminister Remmers würden, weil mit der Grundtendenz der Empfehlungen einverstanden, bei der Zulassung neuer Schulbücher darauf achten, daß diese der Verständigung dienen und ein Bild der Geschichte vermitteln, das auch dem polnischen Volk Rechnung trage. Bereits am nächsten Tag, gegenüber dem polnischen Minister für Erziehung und Wissenschaft, sprach Albrecht davon, daß die Empfehlungen „vage formuliert und dadurch in ihrem Inhalt etwas blaß” seien. Zu diesem Zeitpunkt waren CDU und CSU durch Kreuth noch entzweit. Als Albrecht nach hause kam, stand die Wiedervereinigung der beiden Parteien bevor, und der Ministerpräsident ließ jetzt über dpa verbreiten, seine Regierung könne den Empfehlungen nicht vorbehaltlos zustimmen, es dürften weder die bitteren Erfahrungen der Vergangenheit, noch bestehende Probleme der Gegenwart im Normalisierungsprozeß beider Länder bagatellisiert werden. Sehr viel Goodwill ist da nicht mehr herauszulesen. Die SPD-Landtagsfraktion hat nun einen Entschließungsantrag eingebracht, dessen Behandlung – durch Abstimmung – nicht nur Klarheit über die Absichten Albrechts, sondern auch über die Haltung seines neuen Koalitionspartners FDP bringen dürfte. Der linke Teil der FDP-Fraktion hatte sich vor anderthalb Jahren sehr tatkräftig für das Institut eingesetzt

Schulbuchrevision ist, es läßt sich nicht leugnen, immer ein Stück Politik und Diplomatie. Das dürfte nicht zuletzt Interimsdirektor Bachmann wissen. In den Schränken des Instituts liegen seit Jahresfrist sowjetische Schulbücher, die auf eine. Revision im Sinne Eckerts untersucht werden sollen. Die Ereignisse um die deutsch-polnischen Empfehlungen lassen ahnen, um wieviel delikater Schulbuch-Beratungen mit der kommunistischen Supermacht sein werden. Sie dürften ohne die im Gesetz vorgesehene Rückendeckung – im Kuratorium werden auch der Bundesregierung zwei Plätze zugestanden – nicht möglich sein.

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Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben. Deutschland war ihr theoretisches Gewissen. Die Abstraktion und Überhebung seines Denkens hielt immer gleichen Schritt mit der Einseitigkeit und Untersetztheit ihrer Wirklichkeit …
Es fragt sich: kann Deutschland zu einer Praxis ä la hauteur des principes gelangen, d.h. zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird.
Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst! Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!

Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung (1843).

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