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Der Streik der Ärzte - Aussperrung von Hilfe­su­chenden

aus: vorgänge Nr.26, (Heft2/1977), S.10-11- Auss

Je konkreter sich die unpopulären Notwendigkeiten abzeichnen, die sich aus der unausweichlichen finanziellen Konsolidierung unseres sozialen Leistungssystems ergeben, um so offenkundiger wird, daß es dabei nicht ohne schwerste Konflikte abgehen wird. Denn Solidarität und Gemeinsinn sind zwar heute fast schon zu landläufigen Beschwörungsformeln geworden, aber wer in der Realität darauf setzt, überfordert und überschätzt offenkundig die soziale Ausstattung der menschlichen Natur. Und doch entscheidet der Grad der Annäherung an die Maxime der Solidarität über die gesellschaftliche Lebens-fähigkeit eines Staates.
Mit anderen Worten: Ein Staat, dessen gesellschaftliche Gruppen in rücksichtslosen Interessenkämpfen nur noch auf den eigenen Vorteil auf Kosten der anderen bedacht sind, kann auf die Dauer nicht lebensfähig bleiben. Er verliert seinen sozialen Zusammenhalt und damit eine wesentliche Voraussetzung des inneren Friedens: die Bereitschaft nämlich und die Fähigkeit der gesellschaftlichen Gruppen zur halbwegs solidarischen Lösung gemeinsamer Probleme.
Für den Verfall dieser Fundamente gibt es in der Bundesrepublik seit einiger Zeit mancherlei Symptome, wie überhaupt das soziale Klima hierzulande zunehmend durch hemmungslosen Leistungsdruck, Raffgier, Egoismus und Konkurrenzdenken bestimmt wird. Das bislang krasseste und alarmierendste Beispiel für platten Gruppen- und Standesegoismus ist allerdings die schrille Agitation, mit der zur Zeit Teile der Ärzteschaft gegen die Regierungspläne zur Kostendämpfung im Medizinbetrieb Sturm laufen. Worum geht es?

Die Notwendigkeit einer durchgreifenden Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen ist längst unbestritten. Würde sich der geradezu explosionsartige Anstieg der Kosten mit dem bisherigen Tempo fortsetzen, so geriete unweigerlich schon bald das gesamte System in Einsturzgefahr, weil die Belastung des Bürgers dann jedes erträgliche Maß weit überschreiten müßte. Vor diesem unheilvollen Hintergrund hat sich die Bundesregierung jetzt, immerhin schon reichlich spät, zu einem Sanierungsplan durchgerungen, der auf folgendes hinaus will:
Erstens: Der Anstieg der Ärzteeinkommen soll sich künftig auch an der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung orientieren. Damit würde, was im letzten Jahr durch freiwillige Vereinbarung zustande kam, gesetzlich festgeschrieben.
Zweitens: Durch einen Höchstbetrag für Arzneimittel-Ausgaben sollen Ärzte mehr als bisher angehalten werden, bei der Verschreibung von Medikamenten mit dem Geld der Patienten und der Versicherten sorgfältig umzugehen – eine kaum übertriebene Forderung bei dem geradezu massenhaften Medikamenten-Mißbrauch und angesichts der Tatsache, daß nach Auffassung von Experten 40 Prozent aller Arzneimittel überflüssig sind und völlig gleichwertige Medikamente zu höchst unterschiedlichen Preisen gehandelt werden. Zugleich will die Regierung aber ausdrücklich sicherstellen, daß der Höchstbetrag bei den Arzneimittelausgaben überschritten werden kann, wenn und wo immer es medizinisch notwendig und begründbar ist.
Drittens: Um die Krankenhauskosten durch Verkürzung der Verweildauer zu senken, soll künftig unter bestimmten und eingegrenzten Voraussetzungen ambulante Behandlung auch in Krankenhäusern möglich sein. Ein Recht, das die Chefärzte längst in Anspruch nehmen, soll künftig auch anderen Krankenhausärzten eingeräumt werden. Diese Veränderung als Schritt zur Sozialisierung des Medizinbetriebs zu denunzieren, ist offenkundig ziemlich grotesk.
Geradezu einer Verhöhnung der Öffentlichkeit kommt es aber gleich, wenn ausgerechnet die Ärzte, also die Spitzenverdiener der Nation, unter denen sich wahre Inkasso-Artisten befinden, angesichts dieser Regierungspläne über Existenzgefährdung und Einkommensvernichtung lamentieren. Immerhin hat sich mittlerweile herumgesprochen, daß schon die Durchschnittsverdienste unserer Medizinmänner nach Abzug aller Praxiskosten
1 80 000 Mark liegen, also etwa um das Sechsfache über dem Normaleinkommen der abhängig beschäftigten. Unstrittig ist auch, daß die Steigesraten bei den Ärzten seit 1970 weit über der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung lagen. derartig krassen und zumal mit dem Leistungsinzip nicht mehr erklärbaren Unterschieden wäre es naheliegend, von diesem attraktiven Berufsstand Einkommenseinbußen oder zumindest einen zeitweisen Stillstand in der Einnahmenentwicklung zu verlangen – aber nicht einmal dies wird wirklich gefordert.

Die Regierung verfolgt nur den vergleichsweise schüchternen Plan, daß die ohnehin überdimensionierten Ärzteeinkommen nicht auch noch weiterhin überdimensionierte Steigerungsraten aufweisen – ein relativ bescheidenes Ziel, wenn man bedenkt, daß die große Mehrheit der weitaus weniger einkömmlich lebenden Mitbürger erhebliche Abgabesteigerungen und teilweise auch schon reale Einkommenseinbußen akzeptieren mußte. Unter solchen Umständen ist es unmöglich, in den gegenwärtigen Aktionen und Kampagnen der Ärztefunktionäre eine legitime Interessen-Vertretung zu sehen. Stattdessen erleben wir hier ein besonders eklatantes und abstoßendes Beispiel gruppen-egoistischer Unersättlichkeit, nur notdürftig bemäntelt mit der unvertretbaren Schutzbehauptung, es gehe um die Interessen der Patienten. So peinlich offenkundig es hier um die Verteidigung von Bereicherungssystemen geht, so riskant ist diese Kraftprobe für die Regierung. Denn es ist eine Auseinandersetzung mit den einflußreichsten Multiplikatoren dieser Gesellschaft. Ihre finanziellen Möglichkeiten zu aufwendigen Propaganda-Kampagnen, die verbreitete, geradezu irrationale Ehrfurcht vor den „Göttern im weißen Kittel” und ihr Vertrauensverhältnis zu den Patienten – aus alledem ergeben sich für die Politiker viele Gründe zu Vorsicht und Zurückhaltung. Wer wiedergewählt werden will, so lesen wir in der Welt, darf es sich mit der Ärzteschaft nicht verderben.
Gleichwohl müßte es verheerende Auswirkungen haben, wenn sich Regierung und Parlament in diesem Konflikt als erpreßbar erwiesen in einer Auseinandersetzung, in der ein Teil der Ärzteschaft selbst vor illegitimen Methoden nicht zurückschreckt. Zum ersten mal in der Geschichte der Bundesrepublik haben Ärzte jetzt zum Mittel des Streiks gegrif-fen, und mit Recht ist bemerkt worden, daß es hier in Wirklichkeit um eine Aussperrung von Hilfesuchenden geht und daß Ärzteausstand grundsätzlich an unterlassene Hilfeleistung grenzt.

In der Tat: Die Ärzte benutzen hier die Angst und die Abhängigkeit der Patienten als Druckmittel gegen Regierung und Parlament; insofern ist ihr Erpressungsmanöver gleichsam ein Akt der kollektiven Geiselnahme. Ihr Streik ist ein Verstoß gegen ihre gesetzliche Pflicht, die Versorgung der Bürger mit ärztlichen Leistungen sicherzustellen, und er ist sicher unvereinbar mit dem Eid und dem beanspruchten Ethos dieses Berufsstandes. Der Streik ist, ähnlich wie seinerzeit bei den Fluglotsen, die Ausnutzung einer Monopolfunktion für die Durchsetzung ökonomischer Interessen, und er ist darüber hinaus ein völlig unannehmbarer Versuch, Regierung und Parlament unter Druck zu setzen. Es handelt sich um politischen Streik. Wenn Gewerkschaften solches unternäh-men, gäbe es einen Sturm der Entrüstung.
Vor siebzehn Jahren hat Konrad Adenauers Arbeitsminister Theodor Blank eine Streikdrohung der Ärzte mit dem Hinweis beantwortet, daß dies unter Umständen den Tatbestand des § 105 Strafgesetzbuch erfülle, der das Unternehmen der Nötigung eines Gesetzgebungsorgans mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren oder mit Einschließung von gleicher Dauer bedrohte. Solch martialischen Hinweisen zum Trotz haben sich Adenauer und Blank damals am Ende dem Druck der Ärzte gebeugt.
Eben das darf heute nicht wieder geschehen. Es gibt Anzeichen, daß die Ärzte mit ihrem überzogenen Auftrumpfen die Emotionen eher gegen als für sich mobilisieren. Die Regierung muß darauf bauen, daß nicht nur die große Mehrheit der Patienten, sondern gerade auch die Mehrheit der Ärzte ihr Interesse an einer wirksamen Kostendämpfung im Gesundheitssystem erkennen. Denn wenn dies jetzt nicht gelingt, wird die weitere Kostenentwicklung das gesamte System binnen kurzem in die Luft sprengen. Von Freiheit und Selbstverwaltung wird dann nicht mehr viel übrig bleiben, und stattdessen würden genau solche Radikallösungen unvermeidlich, wie sie Teile der Ärzteschaft gegenwärtig mit demagogischen Schlagworten an die Wand malen. Das heißt: Die Teile der Ärzte-schaft, die jetzt blindwütig Sturm laufen, ohne die geringste Bereitschaft zu eigenen Beiträgen zu zeigen, sägen mit Vehemenz an den Ästen, auf denen sie selbst am bequemsten sitzen. Und das Verblüffende ist, daß sie es trotz aller Zurufe aus der Gesellschaft nicht einmal zu merken scheinen.

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