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Die „Lebens­läng­li­chen” zwischen Politik und Erkenntnis

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 12-16

Aus: vorgänge Nr.26, (Heft 271977), S.12-16

Zu den anscheinend unversiegbaren Quellen deprimierender Erfahrungen gehören die Widersprüche zwischen Politik und Erkenntnis. Ihre Auswirkungen verewigen Ahumanität. Nach der Quantität ihrer Opfer gemessen, werden vor allem die Parias einer Gesellschaft durch sie zerstört.
„Menschen gehen irreparabel geschädigt, wenn auch nicht physisch und psychisch tot”, aus ihnen hervor. Daß sie noch arbeiten können (…), besagt nicht, daß sie noch leben. Obwohl sich diese Feststellung Helga Einseles(1) speziell auf zu Parias absinkende Häftlinge bezieht, die als Mörderinnen zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt wurden – mittelbar wurzelt deren Vernichtung „als soziale Wesen“(2) in der von politischen Pragmatismen verwalteten Kluft zwischen (rechts)politischen Entscheidungen und sie bloßstellenden Erkenntnissen.

Dieser kasuistisch-ideologisch nicht weg zu disputierende Tatbestand drängte sich auf dem vom 11. bis 13. Januar 1977 in Hamburg tagenden Symposion „Lebenslang oder nicht?” beklemmend ins Bewußtsein. Auf dem Experten-Treffen, zu dem der Stern eingeladen hatte, diskutierten unter der Leitung von Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann, Strafrechtslehrer, Praktiker des Strafvollzugs und für ihn Verantwortliche aus Ministerien, gerichtsmedizinisch gutachtende Psychiater und Psychologen, Publizisten und Politiker über die lebenslange Freiheitsstrafe. – Sie ist in der Bundesrepublik bei Mord und Völkermord (ss 211 und 220a StGB) zwingend zu verhängen und kann bei weiteren 18 Straftatbeständen wahlweise zugemessen werden.
Die Mehrheit der von ihr Betroffenen verbüßt sie als Langzeitstrafe. Begnadigungen werden im Bundesdurchschnitt nach 18—20 Jahren gewährt. In Belgien und Frankreich werden dagegen die „Lebenslänglichen” nach durchschnittlich 10—14, in Dänemark und Holland nach 11, in Schweden nach 9,6 und in England nach 9 Jahren begnadigt, wie Professor O. Trifterer aus Gießen in seinem in Hamburg gehaltenen Referat belegte. Ein Vergleich zu den osteuropäischen Staaten ist hier nur schwer heranzuziehen, weil dort, wie Professor Herwig Roggemann vom Osteuropa-Institut der FU Berlin referierte, ein vielfältig gestaffeltes Strafsystem diesen nicht zuläßt.
Die Androhung und Vollstreckung dieser „absoluten Sanktion” ist seit ihrer Einführung im 19. Jahrhundert bei Strafrechtsexperten umstritten. Die Teilnehmer der Hamburger Tagung – zu der neben anderen namhaften Reformjuristen auch der Pionier der Straf vollzugsreform aus der Schweiz, Professor E. Naegeli, gekommen war – analysierte vorrangig: ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit, ihre kriminalpolitische Effektivität, ihre – oder desozialisierenden Auswirkungen auf die Inhaftierten und die Argumente für ihre Abschaffung oder Reformierung.
Zu den letztgenannten Themenkomplexen merkte Professor Herbert Jäger, Frankfurt, an: „In auffallendem Kontrast zum Tenor sonstiger Reformüberlegungen geht es (…) in der Diskussion über die lebenslange Freiheitsstrafe weniger darum, ob diese den Gefangenen befähigt, ,künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2- StVoll.zG), sondern ganz im Gegenteil um die Frage, ob von einer solchen Strafe selbst schädigende, desozialisierende Wirkungen ausgehen.” Für die meisten der in Hamburg Diskutierenden (einschließlich dessen, der sie stellte) war diese Frage eine rhetorische. Ihre Bejahung erschien ihnen selbstverständlich. Das hatten schon die vor der Zusammenkunft als Diskussionsgrundlagen verschickten Statements – unter ihnen auch die „Thesen der Humanistischen Union zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe„ (3)- vermuten lassen. Die Referate des ersten Tages untermauerten diesen Konsens zusätzlich. Sie wurden gehalten: von Dr. Helga Einsele, die sich auf ihre fast 30jährigen Erfahrungen als Strafanstaltsleiterin in Frankfurt-Preungesheim stützen konnte, von . Dr. H.-D. Stark, dem Leiter der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel und von dem Sozialwissenschaftler Dr. P.-A. Albrecht aus Göttingen, der seine vorliegende Forschungsarbeit über die „soziale Reintegration Lebenslänglicher” in Niedersachsen kommentierte.

Zweifel an der Sozialschädlichkeit der „absoluten” Langzeitstrafe und die sie befür-wortende Gegenposition – hier verkürzt charakterisiert: das modisch „verbreitete Gerede vom Persönlichkeitsabbau” unterstütze die „Verwahrlosungsanfälligkeit” der Verurteilten und ermutige die „zum Querulieren Neigenden”, die „Unzufriedenen” und „Aufrührerischen” unter ihnen – wurden nur als Ausnahmen laut. Allerdings als bestürzende. Denn sie kamen aus kompetenten Mündern. Die (vermutlich parteipolitisch-taktisch) zweifelnde artikulierte der amtierende Bundesjustizminister Vogel, der zu einer Stippvisite von Bonn nach Hamburg eingeflogen war – die abstruse der amtierende gerichtspsychiatrische Gutachter Prof. Dr. Dr. P. H. Bresser vom Institut für gerichtliche Medizin in Köln. Es entbehrte nicht der bitteren und erbitternden Pikanterie, daß der sozialdemokratische Ressortminister seine Bedenken über die Stichhaltigkeit der Beweise für die seelische und geistige „Unflexibilität” und die zunehmende Unfähigkeit zu sozialen Kontakten von über 12-15 Jahre hinaus Eingesperrten ausgerechnet durch Herrn Bresser bestätigt fand. Genau gesagt: durch eine eben veröffentlichte Studie von dessen Schülerin und Assistentin Mechthild Goemann (Das Schicksal der Lebenslänglichen)(4), die nach dem Rezept Bressers dessen Überzeugungen zu belegen versucht, daß durch unbefristeten Freiheitsentzug „aus völlig verwahrlosten Rechtsbrechern, bei denen schließlich ein Mord den Höhepunkt ihrer dissozialen Karriere bildete, im Laufe der langfristigen und zunächst unbefristeten Strafverbüßung innerlich und äußerlich gefestigte, durchaus verantwortungsbewußte und im besten Sinne resozialisierte Persönlichkeiten geworden sind” (im Gegensatz zu den Zeitsträflingen, bei denen eine „echte Umkehr” nur selten erfolge)(5).
Möglicherweise hatte der Justizminister (oder sein Referent) das Bresser/Goemanra-Buch nur angeblättert und wußte nicht, auf welche anfechtbare Beweisführung er sich berief. Die in der juristischen Fachwelt bekannten reaktionären Wertmaßstäbe und Einflußnahmen des Kölner Gutachters können ihm allerdings nicht unbekannt gewesen sein. Außer ihm jedenfalls hielt niemand im Gremium Professor Bressers Erleuchtungen über den lebenslangen Strafvollzug als Pädagogische Provinz auch nur erwägens-, geschweige denn diskussionswert. Ihnen wird auch hier nur ein so unverhältnismäßig breiter Raum gewährt, weil der die lebenslange Haftstrafe reformieren wollende Fachminister sie in seine Argumentation einbezog, was selbst Skeptiker gegenüber der sozialdemokratischen Reformpolitik denn doch nicht für möglich gehalten hatten.
Denn wenn auch von den Praktikern des Strafvollzugs eingeräumt wurde – neben Einsele und Stark auch von dem Leiter der JVA Bremen-Oslebshausen, Erhard Hoffmann, und dem Ministerialdirigenten Jan-Wolfgang Berlit aus Hannover – daß die Existenzbedingungen der Langzeithäftlinge in den vergangenen Jahren humaner und offener geworden seien und sich nach Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes wahrscheinlich weiter verbessern würden, so wird das nach ihren Erfahrungen das Regredieren auf infantile oder frühsensile Horizontverengungen, die Entpersönlichung zu „Funktionierern” (Albrecht) der 10, 12 und mehr Jahre Einsitzenden nicht aufhalten können. Die sie in den ersten Haftjahren noch stabilisierenden Familienkontakte (soweit überhaupt vorhanden gewesen) sind nach dieser Zeitdauer erloschen. Ebenso die Einsicht in das eigene Schuldverhalten (Einsele). Gelebt wird in psychischer und physischer Isolation, die dissozialisiert. Denn Ein- und Anpassung an die Gefängnisordnung, wie Professor Bresser kurzschloß, ist nicht Resozialisierung.

Die Sanktionsbefugnis des Staates hat sich nach dem Rechtsverständnis des Grundgesetzes an der Verhältnismäßigkeit zwischen Schuld und Strafe zu orientieren (Übermaßverbot). Auf dieses Rechtsprinzip wiesen in Hamburg vor allem diejenigen hin, die die lebenslange Freiheitsstrafe für verfassungswidrig halten: der Landgerichtspräsident Heinrich Beckmann aus Verden und Rechtsanwalt Sieghart Ott, München, wobei Ott in seinem schriftlichen Diskussionsbeitrag als einziger der anwesenden Rechtsexperten auch die verdrängte Klärung der Definierung des Schuldbegriffes in seine kritischen Überlegungen einbezog, was insbesondere die Rechtsentscheidungen bei Mord und Totschlag folgenschwer problematisch macht. Totschlag wird nach § 212 StGB mit einer Zeitstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft. Daß die Verurteilung nach § 211 StGB das Verhältnismäßigkeitsangebot überschreitet, weil sie nur die Strafzumessung „lebenslang” bei Mord zuläßt – dessen Strafbestandsmerkmale zudem „ein Sammelsurium unbestimmter Rechtsbegriffe” sind, „die subjektiver Ausfüllung Tür und Tor öffnen” (Ott) – war bekanntlich einer der Gründe, die das Verdener Schwurgericht im März 1976 veranlaßten, ein Verfahren auszusetzen und die Akte dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen, ob der § 211 StGB, der die lebenslange Freiheitsstrafe zwingend vorschreibt, verfassungswidrig ist.
Die Entscheidung des BVG steht noch aus. Inwieweit es sich den Argumentationen des Verdener Schwurgerichtsvorsitzenden Heinrich Beckmann anschließt, mit denen dieser die Verfassungswidrigkeit begründete6 und die er in seinem Hamburger Referat „Verfassungsrechtliche Grenzen staatlicher Strafen” noch einmal präzisierte, ist ungewiß. Beckmann stützt seine Beweisführung in erster Linie auf die Artikel 1, 2 und 19 des Grundgesetzes (Menschenwürde, Freiheitsrecht, Grundrechtsgarantie). Zur Verfassungsbarriere des Art 1 sagte er: „Die Menschenwürde ist auch ohne persönlichkeits-zerstörende Wirkung durch die lebenslange Freiheitsstrafe verletzt, weil der Mensch von Rechts wegen (…) jedenfalls dann nicht auf Lebenszeit seiner Freiheit beraubt werden kann, wenn diese Maßnahme nicht sachlich, d.h. als eine notwendige Maßnahme der Verbrechensbekämpfung begründbar ist … Straftäter, die bezeichnenderweise nicht wegen Mordes, sondern als Mörder endgültig bis an ihr Lebensende von Rechts wegen aus der Gesellschaft ausgeschlossen wer-den, werden… als minderwertige Ballastexistenzen und damit menschenunwürdig behandelt …
Mit dem Hinweis auf die sachlich begründbare Notwendigkeit für die die Menschenwürde verletzende Freiheitsentziehung zielte Beckmann auf das mit einem Straftäter gegebene oder nicht gegebene Sicherheitsrisiko für die Sozialgemeinschaft ab. Nach statistisch belegbaren Erfahrungen, auf die nicht nur er sich bezog, sondern die in Hamburg auch zurückhaltender argumentierende Juristen berücksichtigt wissen wollten, stellen gerade die für Mord Verurteilten eine Bedrohung für das Gemeinwohl nur in seltenen Fällen dar (geringe Rückfallquote). Sehr viele von ihnen sind Konflikttäter, die in einer einmaligen, so nie wiederkehrenden, scheinbar aussichtslosen Situation töteten, und nicht Bressers „Verwahrloste”, die zur Krönung ihrer „dissozialen Karriere” blindwütig morden. Nach Helga Einseles Beurteilung sind sie nach ihrer Tat für ihre Umwelt so ungefährlich, daß man sie nach der Gerichtsverhandlung, die sie als Erwachens-Schock erleben, freilassen könnte! Wie sie außerhalb der Gitter, hinter denen sie für zwei Jahrzehnte, wenn nicht bis kurz vor ihrem Lebensende, verschwinden, auch sühnen könnten (,‚Sühne, verstanden als eine auf Versöhnung gerichtete freiwillige sittliche Leistung”, Beckmann) wurde leider auf dem Hamburger Symposion nicht erörtert. (Hier fehlte Helmut Ostermeyer, der bedauerlicherweise abgesagt hatte.)
Beckmann und Ott, auf deren detaillierte verfassensrechtliche Argumentationen hier nicht näher eingegangen werden kann, kamen zu dem Schluß: daß die rationalen Strafzwecke General- und Spezialprävention, Abschreckung und Sicherung der Gemeinschaft die Verfassungskonformität der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht rechtfertigen können. Die Möglichkeit zur Begnadigung bleibt für die gebotene Rechtsstellung auch des Straftäters ohne Einfluß. Nach ihrer Auffassung (und nicht nur nach ihrer) kann die absolute Strafandrohung des § 211 StGB nur als irrationale Vergeltungsstrafe definiert werden, als Schuldausgleich des Bösen mit Üblem, der nicht nur sittlich nicht vertretbar, sondern auch verfassungswidrig ist. In Richtung auf den bei seinem Referat anwesenden Bundesjustiz-minister unterstrich Beckmann: „Dem Gesetzgeber muß deutlich zum Bewußtsein gebracht werden, daß eine Gesetzesänderung nicht nur rechtspolitisch erwünscht, sondern verfassungsrechtlich geboten ist. Dabei ist zu beachten, daß nach unserem Verfassungsverständnis weder die Volksmeinung noch den Gesetzgeber bewegende allgemeine Gründe die Aufrechterhaltung eines verfassungswidrigen Zustandes rechtfertigen.” Und er fuhr fort, um die Dringlichkeit seines Appells zu erhärten: „Das Bundesverfassungsgericht sagt: Die Grundentscheidung der Verfassung, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller Regelungen stellt, bestimmt Gestaltung und Auslegung der Rechtsordnung. Auch der Gesetzgeber ist ihr gegenüber nicht frei; gesellschaftspolitische Zweckmäßigkeitserwägungen, ja staatspolitische Notwendigkeiten können diese verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden (B Verf. GE 1, 14/36). Auch die in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen würden hieran nichts ändern können (BVerf GE 39,1(67).”

Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel schienen die juristischen Argumente und der Appell des Verdener Schwurgerichtsvorsitzenden zur Beseitigung eines als Unrecht diskreditierten Rechtsinstituts wenig zu beeindrucken – im Gegensatz zu den übrigen Zuhörern, die Heinrich Beckmanns Stringenz als einen Höhepunkt der Tagung bewerteten. Er ging nur mit der Anmerkung auf sie ein, daß er diese verfassungsrechtlichen Bedenken nicht teile und wiederholte mit dem ihm eigenen rechthaberischen Impetus lapidar, was schon durch die Presse bekannt war: In seinem Ministerium denke niemand an die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe. Dies geschah offenbar vorallem zur Beschwichtigung des am zweiten Tag der Tagung ebenfalls für ein paar Stunden anwesenden CDU -Bundestagsabgeordneten Dr. Carl Otto Lenz vom Bonner Rechtsaus-schuß – anwesend war nun auch der Bundestagsabgeordnete Detlef Kleinert von der F.D.P. – um sich von der spürbaren Mehrheits-Gegenmeinung im Gremium zu distan-zieren.
Im übrigen erläuterte Vogel in einem Kurzreferat den in seinem Ministerium ausgearbeiteten Reformvorschlag zum § 211 StGB. Er war in ähnlicher Fassung schon 1972 von seinem Vorgänger Jahn vorgelegt worden, der ihn aber wegen des negativen Echos aus den Länder-Justizministerien wieder zurückgezogen hatte. Kurz umrissen, beinhaltet dieser Vorschlag die gerichtliche Überprüfung der lebenslangen Haft nach der Verbüßung von 15 Jahren und ihre Aussetzung zur Bewährung bei günstiger Sozialprognose.
Die Zeit, die sich Minister Vogel für die Diskussion seiner Reformplanung zu einer gerade vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfenden Rechtsproblematik in Hamburg gestatten konnte, war eng bemessen. Dementsprechend unwirsch reagierte er auch zuweilen auf bohrende Einwände gegen sein halbherziges Abmilderungsprojekt aus der Expertenrunde. Er versuchte dieser vordringlich deutlich zu machen, daß aus der Sicht eines verantwortlichen Ministers der Kompromiß zur Durchsetzung einer Reform Vorrang vor der Sache der Reform habe.
Schärfer kontrovers wurde die kurze Debatte zwischen dem Politiker und den Rechts-experten und den Publizisten (darunter beispielsweise die . Hochschullehrer für Strafrecht, 0. Triffterer aus Gießen, H. Schüler-Springorum aus München, H.-L. Schreiber aus Göttingen und die rechtspolitisch engagierten Journalisten Werner Hill und Karl-Heinz Krumm) bei der Bewertung der öffentlichen Meinung gegenüber einschneidenderen Strafrechtsreformen zugunsten von Straftätern, insbesondere solchen mit Tötungsdelikten. Der Minister, der Zugewinn oder Verluste von Wählerstimmen einkalkulieren muß (oder zu müssen glaubt) stilisierte das öffentliche und veröffentlichte Echo zu Werturteilen der Bevölkerung hoch, die Demokraten zu respektieren hätten – die Experten aus den Hochschulen und der Vollzugspraxis nannten die von Vogel angesprochene „gesunde” Volksmeinung unumwunden: nach Vergeltung rufende Vorurteile und atavistische Sündenbock-Projektionen. An dieser Stelle der Diskussion mit „Bonn” traten nicht nur Verständigungsschwierigkeiten zwischen Politik, Wissenschaft und Praxis unüberbrückbar zu Tage, sondern auch der eingangs angedeutete deprimierende Konflikt zwischen politischem Pragmatismus und aus Erkenntnissen abgeleitetem humanen Anspruch. Er läßt wenig Hoffnung für die „Lebenslänglichen” in der Bundesrepublik.

In den noch verbleibenden Stunden der Tagung konzentrierte man sich (nun wieder ohne den Versuch ministerieller Bevormundung und Anwerbung für eine Minimallösung) auf die Bestandsaufnahme der Ergebnisse aus der zweitägigen Diskussion und auf die aus ihnen zu ziehenden Schlüsse. Mit Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Teil-nehmer am Symposion wurde diese Erklärung formuliert und der Presse übergeben:

„Strafrechtler und Psychiater stellen fest: L e b e n s-lange Strafe sinnlos.

  1. Es besteht keine gesellschaftspolitische Notwendigkeit für die Beibehaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe, da sie in der Verbrechensbekämpfung nichts erreicht, was durch zeitlich begrenzte Strafen nicht auch erreicht werden könnte.
  2. Daher soll die lebenslange Freiheitsstrafe abgeschafft werden. An ihre Stelle tritt eine der Schuld des Täters, den Erfordernissen der Sicherung der Gesellschaft und der Resozialisierung des Verurteilten angemessene Zeitstrafe bis zu 15 Jahren. Damit wird für den Richter der verhängnisvolle Zwang beseitigt, bei Mord automatisch die Höchststrafe verhängen zu müssen, ohne den näheren Umständen des Einzelfalls gerecht werden zu können.
  3. Dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft ist Rechnung zu tragen. Wer nach der Verbüßung der Strafe noch eine Gefahr für andere Menschen ist, wird in Sicherungsverwahrung genommen werden.
  4. Es muß endlich ernst gemacht werden mit der Idee des modernen Strafvollzugs, wonach der Täter während seiner Strafverbüßung und einer eventuellen Sicherungsverwahrung nicht nur eingesperrt, sondern durch therapeutische Hilfen auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden muß.
  5. Die Teilnehmer des Symposions halten die bisher durch die Ministerpräsidenten der Länder geübte Begnadigungspraxis für unzulänglich. Es ist daher auch für Täter, die wegen Mordes verurteilt worden sind, die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung zu schaffen. Hierüber sollen die Gerichte in einem rechtlich geregelten Verfahren allein aufgrund der Beurteilung der Täterpersönlichkeit und nicht unter den Gesichtspunkten von Vergeltung und Abschreckung entscheiden.

Verweise

1 Helga Einsele: „Die Wirkung der lebenslangen Haft auf Frauen”; Referat am 11.in Hamburg, zugänglich durch „stern”.
2 Peter-Alexis Albrecht: „Die soziale Reintegration Lebenslänglicher im Spannungsverhältnis von Recht und Gnade”. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Heft 5, 1973.
3 Abgedruckt in Heft 21 der Vorgänge, S 123. Aufgrund dieser Abgeordneten des Bundestages zugeleiteten Stellungnahme zum Thema wurde ich als Vorsitzende der Humanistischen Union zu dem Experten-Symposion eingeladen; außer mir waren sieben weitere HU-Mitglieder anwesend, darunter vier Fritz-Bauer-Preisträger.
4 Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1977.
5 Aus dem schriftlich vorliegenden Statement von Professor Bresser für das Symposion „Lebenslang oder nicht?”
6 NJW 1976, Heft 21/22. 7 Schriftlich vorliegend beim „stern”.

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