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Über ein "gebrochenes" bezie­hungs­weise "ungebro­chenes" Geschichts­be­wußt­sein

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 25-32

Aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S.25-32

Von konser­va­tiver Seite wird in jüngster Zeit immer wieder nach einem „unge­bro­chenen” Geschichts­be­wußt­sein gerufen und vor allem den Sozial­de­mo­kraten vorgeworfen, sie hätten nur ein „gebro­chenes” Verhältnis zur deutschen. Vergan­gen­heit. Aber, fragt Hans Robinsohn, ist angesichts der vielfäl­tigen Gebro­chen­heit unserer Geschichte ein solches „unge­bro­chenes” Bewußtsein von ihr überhaupt erlaubt und wahrhaftig?

Geschichte – „Sinngebung des Sinnlosen”

1.

Wenn heute immer wieder von einem gefährdeten Geschichtsbewußtsein gesprochen wird, wenn insbesondere bestimmten Kreisen, Personen, Gruppen vorgeworfen wird, sie hätten ein „gebrochenes Geschichtsbewußtsein”, sollte einmal untersucht werden, was das eigentlich ist oder sein kann: ein Geschichtsbewußtsein.
Geschichte ist ein geistiges Produkt. Es ist die Betrachtung und die Darstellung einer ungeheuren Ansammlung von früherem, von unabänderlichem oder als unabänderlich empfundenem Geschehen. Dabei wird in solchen Darstellungen oft angenommen, alles Frühere läge dem Späteren zugrunde, alles Spätere folge aus dem Früheren. Das ist die Verführung, aus einer Zeitfolge ohne weiteres eine Ursache-Wirkung-Beziehung zu machen. Kausalitätsverknüpfungen ergeben sich jedoch nicht aus dem Stoff der Geschichte, also den überlieferten Geschehnissen. Sie sind eine notwendige Voraussetzung, wenn man diesen Stoff über einen Zeitablauf hinaus geordnet darstellen will. Ein Ereignis, ohne seine Entstehungsgründe und ohne seine Folgen mitgeteilt, ist nicht etwa ein Teilchen von Geschichte. Dazu wird es erst durch einen Zusammenhang mit Früherem und Späterem, mit ganzen Komplexen von Ursachen und Wirkungen. Dieser Zusammenhang ergibt sich vermittels einer Deutung. So trifft der Titel des Buches von Theodor .Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, das Problem genau. Die Unzahl der Ereignisse ist ohne Sinn; der Sinn ergibt sich erst aus der Gewichtung und Ordnung des Materials, was nur durch eine Deutung der Zusammenhänge möglich wird.
Der Historiker als ein Deuter ist dabei allerdings nicht frei, sondern dem Ethos der Wissenschaft verpflichtet, nach Erkenntnis der Wirklichkeit zu streben. Will er diese Erkenntnis durch seine Deutung vermehren, dann darf er nichts verschweigen und nichts zurechtbiegen, um seine These etwa überzeugender, seine Folgerungen schlüssiger zu machen Obwohl es keine historische Wahrheit geben kann – im Sinne des „Wie es wirklich gewesen ist”‚ muß er ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher sein; ein schöpferischer Wissenschaftler – kein Politiker!

Bewußtsein des Zusam­men­hangs

2.

Geht man von dieser Auffassung von Geschichte aus, dann ist Geschichts bewußtsein nichts anderes, als daß einem bewußt ist, wie das, was früher war, sich früher ereignete, mit dem zusammenhängt, was später folgte und was heute ist. Dieses Bewußtsein bezieht sich meistens auf die Vergangenheit eines Teilgebiets, auf eine Stadt, auf ein Volk, auf einen Staat oder eine Region. Auch bezieht es sich zumeist auf einen einzelnen Zeitabschnitt, wie die zwei oder drei vergangenen Jahrhunderte, oder auf das Zeitalter der Entdeckungen, auf die Renaissance oder auf die Zeit des Absolutismus. Wer sich nun dessen bewußt wird oder ist, daß er und seine Gruppe, sein Volk oder gar seine Zeitgenossenschaft in die Zusammenhänge mit Vergangenem eingebunden ist, der hat ein Geschichtsbewußtsein.
Was hat er damit wirklich? Was bringt die Kenntnis der vermuteten Zusammenhänge mit sich, die stets nur annäherungsweise eine Erkenntnis der Wirklichkeit sein kann? Man wird davon nicht besser, weiser, stärker oder zielbewußter. Im Gegenteil – allzu starke Beschäftigung mit der Vergangenheit, eine wachsende Hinneigung zu der einen oder anderen Sinngebung, eine überhandnehmende Tendenz zum Historismus bringt eher die Gefahr näher, handlungsschwach, urteilsunfähig zu werden. ( Man lese dazu Nietzsches zweite „Unzeitgemäße Betrachtung“!)

Welchen Nutzen hat Geschichte?

Die Frage nach dem Nutzen der Geschichte – dies Wort von allen seinen kommerziellen Anklängen befreit – ist meist irreführend und unbefriedigend beantwortet worden. Goethes Wort zum Beispiel, das Beste an der Geschichte sei „der Enthusiasmus, den sie erzeugt!“, haftet ganz an Geschichte als Erzählung von großen Männern und Taten, an der, wie Nietzsche formuliert, „monumentalischen” Geschichte. Sie mag den Einzelnen erheben, aber mit Geschichtsbewußtsein ist wohl doch nicht die Anfeuerung des Tatendrangs durch die Besinnung auf große Männer gemeint.
Durch Geschichtsbewußtsein soll ein klareres Urteil über Politik vermittelt werden. Man soll durch es die Wurzeln seiner Existenz kennen und schätzen lernen, und dadurch an Kraft gewinnen. Aus der Geschichte soll man lernen, wie man politisch zu entscheiden und zu handeln hat. Jedoch – die Lehren der Geschichte sind die Lehren, die wir in sie hinein-interpretieren. Sie ergeben sich aus den Sinnzusammenhängen, die wir zu erkennen vermeinen und die uns durch „Deutung” nahegebracht werden. Es gibt aber stets verschiedene Deutungen, und jeder sucht sich diejenige aus, die ihm einleuchtet, die ihm also gemäß ist.

Das subjektive Element

Die Geschichte lehrt uns also nur das, was wir zu lernen vermögen, was uns einsehbar ist und uns überzeugt. Geschichtliche Wahrheit als Wiedergabe faktischer Wirklichkeit ist unerreichbar, – man hält für wahr, was man versteht, und man versteht das am besten, was einem am nächsten liegt. Das hat Griliparzer mit dem bei Nietzsche zitierten Satz gemeint: „Was ist denn Geschichte anders als die Art, wie der Geist des Menschen die ihm undurchdringlichen Begebnisse aufnimmt, das, weiß Gott ob Zusammengehörige verbindet, das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt!” Auch Schiller erwähnt dies subjektive Element, wenn er sagt, daß sich dem Historiker jede Erscheinung „zu einem übereinstimmenden Ganzen – das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist – als ein passendes Glied einreiht”.

Was heißt „unge­bro­chenes” Geschichts­be­wußt­sein?

3.

Diese die Geschichtserkenntnis relativierende Betrachtungsart schließt ein politisierendes Geschichtsbewußtsein aus, das vorgibt, objektiv richtig und geeignet zu sein, aus ihm politische Konsequenzen zu ziehen. Bezeichnenderweise lassen sich die konservativen Rufer nach Geschichtsbewußtsein nur wenig über den Inhalt dieses Bewußtseins aus. Was ist ihnen denn bewußt? Wie sehen sie die Geschichte zum Beispiel des deutschen Volks? Welche Deutung haben sie dafür, daß das deutsche Volk viel später als seine Nachbarn einen Nationalstaat bildete und ihn nach knapp drei Generationen wieder verlor – als einziges der europäischen Völker? Oder beschäftigt sie diese Frage garnicht? (Es ist ja entscheidend, welche Fragen man stellt, wenn man auf Antworten wartet.) Genügt es ihnen daher, affirmativ alles gut zu heißen, was gewesen ist, in einer Verpiattung Hegels ein Geschichtsbewußtsein zu pflegen und anzupreisen, nach dem alles Gewesene wertvoll ist, eben weil es war?
Nur etwas derartiges kann man sich bei dem Schlagwort vom „ungebrochenen Geschichtsbewußtsein” vorstellen. Wer die Vergangenheit undifferenziert bejaht, wer es ablehnt, sie durch das Prisma der Kritik zu betrachten, der sieht sie eben ungebrochen. Wer dagegen eine pessimistisch-skeptische Einstellung bevorzugt und vorgibt, keine Entwicklung erkennen zu können, hat überhaupt kein Geschichtsbewußtsein, weil ihm die geschichtlichen Abläufe als naturhaft vorgegeben erscheinen – der Mensch ist nun einmal böse, Kriege wird es immer geben!

Patri­o­tismus ohne Verdrängung der eigenen Schat­ten­seiten

Eine so positive Hinwendung zur Vergangenheit des eigenen Volkes, wie sie die Propagandisten eines „ungebrochenen Geschichtsbewußtseins” zu besitzen vorgeben, preisen und fördern wollen, ist jedoch im höchsten Maß künstlich, wirklichkeitsfremd und gerade daher, worüber noch zu sprechen sein wird, das Erbe einer schlechten politischen Tradition. Das Vaterlandsgefühl anderer Nationen beweist sich darin, daß alle Perioden des geschichtlichen Werdens zusammengenommen ein Gefühl der Zuneigung, des Stolzes und der Bewunderung erzeugen, wobei die Schwächen und Fehlleistungen keineswegs unterdrückt werden, Franzosen zum Beispiel schätzen das Zeitalter Ludwigs XIV als Vorherrschaft französischer Sprache, Dichtung und Sitten in ganz Europa bis zu fernen Rußland. Sie bewundern die große Revolution mit ihren Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit genauso wie die Siegeszüge Napoleons und seiner Marschälle. Aber man ist in Frankreich weit davon entfernt, die Schattenseiten seiner Geschichte zu verbergen, die schreienden Ungerechtigkeiten und sozialen Mißstände während der absoluten Monarchie, die Schrecken des Jakobinertums und der kurzen Zeit des Terrors (wenige Monate, verglichen mit zwölf Jahren Hitler-Tyrannei!), Man verdrängt dort ebenso wenig die Fassadenherrlichkeit und Korruption der Zeit Napoleon III oder mancher Perioden der dritten Republik, Kurz: Kritik an der Vergangenheit gilt nicht als Nestbeschmutzung!

Die Lebenslüge der Konser­va­tiven

4.

Unseren Konservativen hingegen ist ein partielles Geschichtsbewußtsein zu eigen: Gut war stets nur das, was von den „Oberen” kam, seien es nun Lehnsherren und der Adel, oder die Landesfürsten, die Könige und Herzöge, oder schließlich die Feldherren und Minister. Die ganze vaterländische Geschichtsschreibung ist eine ungebrochene Verfälschung der Vergangenheit. Dies ungebrochene Geschichtsbewußtsein existiert nur aufgrund einer Lebenslüge, die da sagt, daß alle Fehlschläge in der Geschichte des deutschen Volkes von Fremden, von bösen Feinden (besonders inneren), von Verschwörungen auswärtiger Staaten oder geheimnisvoller Mächte verursacht waren. Selbstkritik ist ausgeschlossen!
Auch diese Vergangenheitsbetrachtung ist eine Art der Deutung, aber eine, die geflis-sentlich alles ignoriert, was sich nicht in die konservative Geschichtsauffassung integrieren läßt. Ein ungebrochenes Ja zur deutschen Vergangenheit ist nur denkbar bei größter Vergewaltigung des Erinnerungsvermögens. Denn niemand auf der rechten Seite des politischen Spektrums geht wirklich so weit, auch die Jahre von 1933 bis 1945 über-wiegend positiv zu werten. Die deutsche Rechte distanziert sich, von einigen Extremgruppen abgesehen, vom Nationalsozialismus. Sie möchte ihn am liebsten aus der Geschichte ausklammern und Hitler sowie alle die Seinen zu historischen „Unpersonen” machen. Da das nicht möglich ist, versucht man, diese Periode zu verdrängen, aus der Erinnerung auszulöschen. Entweder bagatellisiert man sie als Betriebsunfall der deutschen Geschichte, was immer das sein mag. Oder man bezeichnet sie als einen rätselhaften Akt der Vorsehung, womit man ihr jedwede Rationalität und politische Bedeutung entzieht.

Unkri­ti­sches Bwußtsein

Ähnliche Techniken wendet man auch auf frühere Perioden an. Im Verhältnis zur wilhelminischen Zeit verharrt man gern auf den Thesen aus der Weimarer Zeit. Man leugnet insbesondere das Ausmaß der deutschen Verantwortung für das Zustandekommen und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Man bestreitet die imperialistischen Kriegsziele des Deutschen Reichs. Die gehässige nationalistische Reaktion auf die Forschungs-arbeiten von Fritz Fischer zeigte, wie erstarrt das unkritische Bewußtsein war und ist. Auch heute wird noch vielfach angenommen und verbreitet, daß Deutschland 1918 „im Felde unbesiegt” war. Kritik an der deutschen Kriegführung und Friedenszielpolitik ist dem historisch ungebrochenen Bewußtsein entzogen.
Ebenso unkritisch wird auch die These weiter aufrechterhalten, der Versailler Vertrag sei ein, wenn nicht der alleinige Hauptfaktor für die Entwicklung zum Dritten Reich. Schließlich rühmt man die unvergleichlichen militärischen Leistungen der deutschen Armeen in zwei Weltkriegen. Hätten wir nur ein ganzes Rudel von Rudeln gehabt, wer weiß, dann wäre vielleicht der Zweite Weltkrieg gar nicht verloren worden.
Sieht man genauer hin, enthüllt sich, wie unecht dies Geschichtsbewußtsein ist. Da sucht man sich aus, was einem paßt, und verarbeitet die Geschehnisse der Vergangenheit unbekümmert und gewalttätig, indem man einfach alles umdeutet oder wegläßt, was nicht zu dem deutschnationalen Weltbild paßt.

Geschichts­be­wußt­sein für politische Zwecke – Propaganda

5.

Beschäftigung mit Geschichte, Sinngebung der Vergangenheit ist notwendig. Ohne sie fehlt eine wesentliche Orientierungsmöglichkeit. Aber wir brauchen ein Geschichts-bewußtsein, das nicht „von der Parteien Gunst und Haß verwirrt” ist, oder das als Argumentenkiste für politische Zwecke funktioniert. Wer z.B. heute das Ende der Weimarer Republik nicht dem Rechtsradikalismus, sondern mitentscheidend dem Linksradikalismus zur Last legt, argumentiert politisch, jedoch mit dem Anspruch, damit eine geschichtlich „wahre” Erkenntnis zu vertreten. Ja, wenn es so einfach wäre! Die Ursachen eines so komplexen Phänomens, wie es die faktische Ablösung eines liberalen Staatswesens durch eine autoritäre Tyrannei ist, sind entsprechend vielfältig, und nur eine bis zur Fälschung gehende Vereinfachung kann es sich so leicht machen.

Erkenntnis und Kritik

Im Gegensatz zu solchen historisch kostümierten Propagandastücken Erkenntnis steht ein Geschichtsbewußtsein, das sich um Erkenntnis bemüht, und das und Kritik garnicht anders als kritisch sein kann, wenn es mit der Fülle vorhandener Materialien, wirklichen und behaupteten Fakten konfrontiert ist. Nur eine Orientierung durch viele verschiedene Quellen, vermittels höchst verschiedener Methoden, unter Heranziehung auch der Erkenntnismöglichkeiten vieler anderer Wissenschaften, wie z.B. der Soziologie und der Psychologie, nur eine Zusammenschau mannigfacher Geschichtsdeutungen kann zu einem Geschichtsbewußtsein führen, das so vielfältig gebrochen ist, daß alle Seiten und Facetten unserer Geschichte darin aufblitzen und leuchten.
Jede Sinngebung der deutschen Geschichte wird in gewissem Ausmaß subjektiv sein und keine kann beanspruchen, zu zeigen, wie es wirklich gewesen ist. Beschäftigung mit der Vergangenheit ist innig verwoben mit dem Beurteilen und Auswählen dessen, was wichtig ist – und die Kriterien dieser Auswahl liegen beim Betrachter. Jeder Betrachter stellt die Frage, auf die er Antwort haben möchte. So schreibt Golo Mann in seiner Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts:

„Die zentrale Frage einer deutschen Geschichte scheint mir zu sein: was haben die Deutschen aus der Tatsache ihres Daseins und Zusammenlebens gemacht? Unter sich selber, und mit anderen, gegen andere Nationen? Durch welche Kanäle wurden ihre Kräfte als Nation geführt, gefördert, zurückgedrängt? Zu welchen Zwecken ihre überschüssigen Energien gebraucht?”

Das sind viele Fragen, die neutral gefaßt sind und nicht die Frage zu enthalten scheinen, warum und wieso es so kam, wie es gekommen ist, – dennoch kann die Antwort nicht ohne Sinngebung gefunden werden. Und Golo Manns Darstellung ist – abgesehen davon, daß in seinem Werk „die Geschichte” (also personalisiert) wandelt und handelt – voller Urteile über Personen, Schichten, Stände und Parteien.

Distanz und Interesse

Das kann nicht anders sein – eine wertfreie Geschichte wäre die Darstellung der Sinnlosigkeit. Eine sinnvolle Geschichtsdarstellung muß nicht nur Urteile enthalten, sondern auch Tendenzen aufweisen und Ähnlichkeiten wie Entsprechungen feststellen Auch das ist ein Ergebnis des Sichtens, Auswählens, Vergleichens und Beurteilens durch den Betrachter.
Soll seine sich aus alledem ergebende Deutung brauchbar und überzeugend sein, dann muß er Distanz zum Stoff haben und darf nicht etwas beweisen wollen, woran er politisch interessiert ist. Man kann weder von ihm noch von denen, die sich durch ihn informieren, verlangen, Geschichte jenseits von Gut und Böse, gewissermaßen mit dem Auge Gottes, zu betrachten. Aber man kann ein Interesse im Sinn des „Interesse”, des Dazwischen- und Dabei-Sein-Wollens, der seelischen Anteilnahme erwarten. Das schließt politische Standpunkte nicht aus, wohl aber Zweckentfremdung der Geschichte zur Förderung politischer Überzeugungen.

Nietzsches drei Arten von Geschichts­be­trach­tung

6.

Nietzsche unterscheidet drei Arten von Geschichtsbetrachtung: die monumentalische, die schon erwähnt wurde, die antiquarische und die kritische. Die antiquarische ist die des Konservators, des Menschen, der die Vergangenheit, ihre Gewohnheiten und Werte liebt, bewundert und zu bewahren sucht. Hier liegt die Verbindung zum Konservatismus nahe. Politisch gesprochen, wird vorallem aus einer solchen Anhänglichkeit zur Vergangenheit ein reaktionäres Geschichtsbewußtsein entstehen und so in die Politik hineinwirken.
Von der kritischen Betrachtungsart sagt Nietzsche, der Mensch müsse „die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können; dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt”, kurz, ohne Nietzsches Bildersprache, indem er sie kritisch betrachtet. Wenig später heißt es: „Die Kenntnis der Vergangenheit (ist) zu allen Zeiten nur im Dienst der Zukunft und der Gegenwart begehrt, . . . nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft . . .”

Fragen an die Vergan­gen­heit – um der Zukunft willen

In diesem Sinne sind Fragen an die Vergangenheit zu stellen, um einer lebenskräftigen Zukunft willen.
Wie kam es zu der verspäteten Entwicklung des deutschen Volks? Wieso hielt man im Mittelalter und noch später so zähe fest an dem Gedanken eines übernationalen Reichs als Erbe des Imperium Romanum, dessen konkrete Gestaltung die deutsche Vorherrschaft in nichtdeutschen Ländern mit sich brachte? Wie kam es, daß nur in Deutschland sich Jahr-hunderte hindurch keine Zentralautorität bildete, sondern Partikular–gewalten das deutsche Volk zersplitterten? Wie kam es schließlich – um die Frage zu wiederholen – zum einzig dastehenden Verlust der nationalen Einheit, als sie, spät genug, einmal erreicht worden war?

Deutsche Wirklich­keits­ver­ken­nung

Beschäftigt man sich mit solchen Fragen, kommt man nicht an dem Element der Wirklichkeitsverkennung vorbei, das in der deutschen Geschichte eine so große Rolle spielt. Ganz auffallend oft hat man in Deutschland die Welt, so wie sie ist, mit der Welt verkannt, wie sie sein soll. Und auffallend oft sollte sie so sein, wie sie – angeblich – einmal gewesen war. Ein Geschichtsbewußtsein – rückwärtsgewandt – von Wirklichkeitserkenntnis nicht gebrochen – hat möglicherweise zu einer viele Generationen zählenden Verzögerung der Entwicklung beigetragen. Eine Anhänglichkeit an das Gewesene mag den Blick für das Zukünftige getrübt haben.
Sehr oft hat diese Wirklichkeitsverkennung eine Beziehung zu irgend einem Idealismus – man vertiefe sich in die ersten Auftritte von Demokraten Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in West- und Süddeutschland, man denke an die Politik der Liberalen um 1848! Manchmal auch ist die Weltverkennung willensgläubig. Man glaubt, mit Willenskraft Berge versetzen und siegen zu können, weil man siegen muß.
Man kann solche Fragen und die Andeutung ihrer Beantwortung verwerfen. Man kann andere Fragen stellen – sinnvoll sind sie nur, wenn ihre Beantwortung zu einer Orientierung in der Gegenwart zu führen vermag und damit auch kritisch auf politische Zielsetzungen einwirkt. Daß dabei das Ethos der Wissenschaftlichkeit gewahrt werden muß, ist eine Forderung, an die zu erinnern heute, wie es scheint, nicht mehr selbstverständlich ist.

Überna­ti­o­nale Geschichts­be­trach­tung

7.

Geschichtsbewußtsein zu wecken ist in erster Linie eine Sache der Schulbildung. Darüber im einzelnen sich auszulassen, ist hier nicht der Ort. Auch ist ein Nichtpädagoge dafür kaum zuständig. Sicher scheint mir je. doch zu sein, daß Interesse für Geschichte in heutiger Zeit, in der alle Kulturkreise und Völker aufeinander sehr direkt einwirken und aufeinander angewiesen sind, nicht erweckt werden kann durch Hochglanzbilder aus der deutschen Vergangenheit. Eine nationalzentrische Geschichtsbetrachtung ist nicht mehr am Platz. Wenn Kenntnisse der Vergangenheit vermittelt und erworben werden sollen, dann müssen Beziehungen zwischen den Völkern und Kulturkreisen aufgedeckt werden. Ein Geschichtsbewußtsein ist nur etwas wert, wenn es Wertbewußtsein bildet. Dazu gehört jedoch Distanz, Überblick und kritische Auseinandersetzung. Letztere muß grundsätzlich den Unterricht begleiten und gerade zu Selbstkritik beim Einzelnen und zu kritischer Einstellung der eigenen Vergangenheit gegenüber führen. Das Geschichtsbewußtsein, das von Konservativen und Nationalisten gewünscht wird, kann durch „vaterländischen Unterricht” nur verfehlt werden.

Kritisches Ja zur eigenen Geschichte

Nur wer auch Nein zu diesem oder jenem aus der eigenen Geschichte sagen darf, nur der kann mit Vernunft und Gefühl auch Ja zur Geschichte seines Volks sagen! Und nur, wer bei der Bildung seines Geschichtsinteresses lernt, sorgsam und vorurteilsfrei zu urteilen, wird dabei auch lernen, in der Gegenwart und für die Zukunft Stellung zu beziehen, „mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich!”

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Wollte man an den deutschen status quo selbst anknüpfen, wenn auch in einzig ange-messener Weise, d.h. negativ. Immer bliebe das Resultat ein Anachronismus. Selbst die Verneinung unserer politischen Gegenwart findet sich schon als bestaubte Tatsache in der historischen Rumpelkammer der modernen Völker. Wenn ich die gepuderten Zöpfe verneine, habe ich immer noch die ungepuderten Zöpfe. Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich , nach französischer Zeitrechnung, kaum im Jahre 1789, noch weniger im Brennpunkt der Gegenwart.
Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung …
Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. (…) Man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen …

Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843).

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