Publikationen / vorgänge / vorgänge 26

Deutsche Aufklärer und „Jakobiner”

Menschenbild und Menschenrechte im 18. Jahrhundert in Deutschland

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S.58-64

1. Geschichts­bilder

Man betrachtet die Untertanen wie Schafe, denen man gut genug vorsteht, wenn man sie nur soweit füttert, daß sie Wolle bekommen können, die man ihnen abschert.

Charitophile Nomokrates, 1796

Die schulmäßige Darstellung des 18. Jahrhunderts wird von zwei Interpretationsweisen bestimmt: unter dem Aspekt der politischen Geschichte wird es als Jahrhundert der Kabinettskriege, herausragender Monarchen wie Friedrich dem Großen oder Maria Theresia charakterisiert. Unter dem Aspekt geistesgeschichtlicher Entwicklung wird von dem „Jahrhundert der Aufklärung” gesprochen. Schlagworte wie „kalter Rationalismus”, „oberflächliche Vernunftgläubigkeit”, „überzogener Fortschrittsoptimismus” verschütten oft die Breite und Lebendigkeit des tatsächlichen Diskurses der Aufklärer.
Beide Darstellungsweisen verkürzen in so starkem Maße, daß die entstehenden Geschichtsbilder klischeeartige ideologische Züge annehmen. Im ersten Fall hat die Beschränkung auf politische Höhengeschichte eine glorifizierende Betonung des Handelns und der Entscheidung der Mächtigen zum Inhalt. Ihnen wird mit dieser Sichtweise individuelle Autonomie unterlegt. Die Handlungsmuster und Wertvorstellungen der Kultur in der sie lebten, in der ihre Umwelt dachte, die sie selbst in ihrer Person verarbeiteten, die Strukturbedingungen und Entwicklungsformen der Gesellschaft, die den Handlungsspielraum begrenzten und vorgaben, kurz die gesellschaftsgeschichtlichen Grundlagen der Macht, über die ein absolutistischer Herrscher des 18. Jahrhunderts verfügen konnte, werden darin nicht faßbar gemacht. Ein solches Geschichtsbild der Heroisierung klammert das gesellschaftliche und mentale Umfeld aus, läßt stattdessen die Ideologie „autonomer” Macht der Herrschaftsträger entstehen.
Im zweiten Fall, der einseitig auf rationalistische Positionen verkürzten Aufklärung, handelt es sich um eine Aversion gegen reflektierende Verarbeitung von Umwelt und Erfahrung, gegen „vernünftige” Analyse, die von der Möglichkeit des „Fortschritts” ausgeht. Diese Haltung entwickelt sich zu einer weltanschaulichen Tradition, die für die politische Geschichte Deutschlands außerordentlich bedeutsam wurde. Ihre Wurzeln liegen in der politischen Mentalität, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Zeichen der gesellschaftspolitischen Restauration, des Metternich’schen Systems, und dem sie begleitenden mythisch-symbolischen Weltbild der politischen Romantik entstand. Die dominanten Traditionen waren in Deutschland nach der Niederlage der Revolution von 1848/49 bis 1945 nicht die der aufklärungsbereiten und zu demokratischer Selbstbestimmung und Mitverantwortung des Individuums drängenden Gesellschaftskonzeption Fants, sondern die aufklärungsfeindlichen Mythen nationalistischer Prägung. Man kann annehmen, daß in der oberflächlichen Abschätzigkeit, mit der heute noch manchmal die Aufklärung abgetan wird, Reste dieser Tradition wirken.

In den letzten zwanzig Jahren ist die Erforschung der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts in Gang gekommen, die vorwiegend vom neuentstehenden Bürgertum getragen wurden. In der Absicht, gerade längerfristig strukturelle Aspekte herauszuarbeiten, entstanden eine Reihe von Arbeiten, die unser Bild von den Lebensbedingungen, den Strukturen und Wertmustern der Gesellschaft modifizierten.
So hat Beinhard .Koselleck in seiner Untersuchung „Kritik und Krise“(1) die Bedeutung der „Moral” für die politische Entwicklung zu bestimmen versucht. Er formulierte die These, daß die Wertmaßstäbe, die unter dem Begriff der Moral allmählich von den Aufklärern entwickelt wurden, zwar zunächst nur für den vorpolitischen inneren, privaten und geschlossenen Bereich bürgerlicher Existenz gelten sollen, indirekt sich jedoch als Wertsystem mit allgemeingültigem Anspruch zu einem „Gerichtshof der Vernunft“ über die Handlungspraxis bestehender absolutistischer Herrschaft aufwarfen. Diese neue Moral wurde von den Aufklärern zur Grundlage ihrer Geschichtsphilosophie des Fortschritts gemacht, sie sollte die politische Herrschaft der „Vernunft“begründen.
Ergänzend hierzu hat Jürgen Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“(2) gezeigt, das die entstehende bürgerliche Gesellschaft im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine neue Öffentlichkeitsform, die eigene Strukturmerkmale aufweist, hervorbrachte. Im Unterschied zur repräsentativen Öffentlichkeit der feudalen Gesellschaft, beruht diese auf dem „Diskurs“ der sich auf gleicher Ebene als Individuen gegenübertretenden bürgerlichen „Privatleute“. Der Idealtypus des „autonomen“ Individuums steht im Spannungsfeld der bürgerlichen Öffentlichkeitsformen wie dem literarischen Diskurs, der Lesegesellschaften, patriotischen und ökonomischen Vereinigungen und andererseits dem Ort seiner intimen Privatsphäre, für die die Harmonie familiärer Vertrautheit Leitbild wird.
Daß diese neuentstehende Rolle des „bürgerlichen Privatmannes“von Anfang an problematisch war, nur selten eine „idealische“ Harmonie der Rollensegmente von „Mensch und Bürger“zuließ, zeigt die Beschäftigung mit den Schwierigkeiten der Existenz als Person und den Formen, Ursachen und Gründen individueller Leidenserfahrungen in der literarischen Öffentlichkeit. Die Flucht in die Idylle der Natur, die Innerlichkeit der aufkommenden Lektüre der neuentstehenden bürgerlichen Literatur, vor allem des Romans, sind neue Formen der Erfahrungsverarbeitung, der Herstellung „innerlicher Ausgeglichenheit“. „Langeweile“ und „Melancholie“(3) werden zum Problem, dem sich die Aufklärer widmen. Das richtige Verhältnis von „Gesellschaft und Einsamkeit“ zu finden, so wird erkannnt, ist nicht nur eine Frage individueller Gestaltung der Geselligkeit, sondern auch eine Frage der Lebensumstände. Klaus Dörner (4) hat darzulegen versucht, daß erst mit der Durchsetzung der „Vernunft“ als Maßstab öffentlich anerkannten Denkens und Verhaltens die Diffamierung der „Unvernunft“, die Ausgliederung des von der „Normalität“, vom gewohnten alltäglichen Verhalten abweichenden Denkens und „sonderbarer“ Wahrnehmung möglich geworden ist. Der „Wahn“ hat nichts „Seherisches“ mehr, disqualifiziert vielmehr das Individuum, das ihn äußert, als pathologisch. Die „Wahnsinnigen“werden aus dem öffentlichen Lebenszusammenhang, der auf „Vernunft“ und „Normalität“ beruht, ausgestoßen. Die Psychiatrie entsteht im 18. Jahrhundert als die Institution, die sich den Menschen widmet, die an der „vernünftigen Normalität“gescheitert sind oder aufgrund ihrer psychischen Disposition nicht in der Lage waren, den Verhaltensregeln der Alltagskultur zu entsprechen.

In den Jahren nach 1960 begann sich die „Jakobinerforschung“ zu intensivieren. Sie suchte nach revolutionären Ansätzen und Bewegungen, die in den neunziger Jahren, zur Zeit der Französischen Revolution, eine am Denken der französischen Jakobiner orientierte Umwälzung auch in Deutschland anstrebten, und brachte Dokumente zutage, die den Willen zu gesellschaftlicher Veränderung belegen. Heinrich Scheel (5) hat mit seinen Studien einen Jakobinerbegriff geprägt, der darin alle auf Veränderungen drängenden und gegen bestehende Herrschaftspraxis opponierenden Kräfte aufnimmt. Walter Grab (6), einer der führenden Vertreter dieses Forschungsansatzes in der Bundesrepublik, versuchte zwischen liberalen Aufklärern und volksverbundenen „Jakonbinern“ zu unterscheiden, die revolutionär, demokratisch und für den „Kampf“ als Mittel der politischen Umwälzung agitierten. Gegen die Brauchbarkeit diese Begriffs für die auf „Fortschritt“ und gesellschaftlichen Wandel drängenden Bewegung in Deutschland sind allerdings erhebliche Zweifel vorzubringen.

2. Menschen­bild und Leidens­er­fah­rung

„Ärgern Sie sich nicht“, sagte er, „es ist ja nur eine Hure.“ „Mag sie Hure sein“, antwortete ich, „sie ist ein Mensch, und ihr Kind ist ein Mensch, ein unschuldiger Mensch, der nie eine Sünde tat. Es ist himmelschreiend, wenn ein Mensch den anderen so peinigt. Halt Kerl! Ich gebe es nicht zu.“

Christian Gottfried Salzmann:
Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend, 1784

Rousseaus „Emile“ erschien 1762. Das Buch entwickelte sich in den literarisch aufgeschlossenen Kreisen der deutschen Aufklärung zu einer Modelektüre. Die Bereitschaft, die darin angesprochene Thematik der Erziehung und ihr Verhältnis zur zeitgenössischen Kultur zu reflektieren, war groß. 
Offenbar hatte sich aus der allgemeinen Kulturentwicklung ergeben, daß die Frage danach, wozu der Mensch sich entwickeln könne, nahe lag. Zwar war in der Moraldiskussion, wie sie in den moralischen Wochenschriften seit 1724, dem Erscheinungsjahr des „Patriot”, in Deutschland geführt wurde, immer die Frage nach möglichst guter ;,Einrichtung der Kinderzucht“ gestellt worden. Der Wunsch nach Minderung des Elends, nach „Verbesserung” der Bedingungen der Existenz des Menschen war formuliert worden, aber nun trat etwas Neues ins Gesichtsfeld.
Das Problem war: Unter welchen Bedingungen kann der Mensch seine Person entfalten, sich zu seiner Individualität entwickeln? Der Begriff des Menschen wurde ins Verhältnis zu den kulturellen Bedingungen gebracht, in denen er seine „Natur“ ausbilden konnte. Der „Mensch” wurde unter dem Aspekt seiner Entwicklungsgeschichte neu gesehen. Die sozialen Merkmale und die damit verbundenen Rollenbilder der Geburtsstände, wie sie in der Hierarchie der altständischen Feudalgesellschaft festgelegt waren, verloren ihre Ausschließlichkeit. Die natürliche Qualität des „Menschen” trat dazu in Widerspruch.
Was es bedeutete, wenn dem Knecht eine Identität als „Mensch” zugebilligt wird, die zu entfalten er ein Recht hat, wenn er nicht als Objekt des Herrn, als „Arbeitstier” gesehen wurde, sieht man aus den Bemühungen „empfindsamer” Aufklärer wie Pestalozzi. Sein leidenschaftliches Engagement gilt den „Unterprivilegierten”, den in Armut und Elend lebenden Kindern. Ihrer Entfaltung als „Mensch”, ihrer Befreiung aus sozialer Abhängigkeit, die keine individuelle Identität zuließ, war sein Lebenswerk gewidmet.

„Oder ist unser Jahrhundert mit seinem ewigen Empormodeln zur Unempfindlichkeit mehr als alle Jahrhunderte schuldig, daß unser Herz tot und wir nicht mehr sehen, nicht fühlen die Seele, die in dem Sohn unseres Knechts lebt und mit uns nach der ganzen Befriedigung seines Menschseins dürstet? Nein der Sohn der Elenden, Verlorenen, Unglücklichen ist nicht da, bloß um ein Rad zu treiben, dessen Gang einen stolzen Bürger emporhebt! Nein dafür ist er nicht da! Mißbrauch der Menschheit, wie empört sich mein Herz!“(7)

Die Qualität „Mensch” zu sein, enthielt ein natürliches Recht auf Entfaltung der Person und ein „glückliches” Leben, das allen zukam: die Gleichheit des Rechts auf freie Entfaltung. Aber, so erkannte diese Generation von Aufklärern, um dies zu ermöglichen mußte die herkömmliche Erziehung verbessert werden. Unter diesem Anspruch entwickelte sich die pädagogische Reformbewegung.
Philanthropen, Menschenfreunde, nannten sich die aufgeklärten Pädagogen, die sich seit etwa 1770 um die Grundlegung der neuen Erziehung bemühten. Johann Bernhard Basedow war der streitbare Initiator des Dessauer „Philanthropinums”, das 1774 als Versuchsschule begründet wurde. „Vernunft” und „Herz”, intellektuelle wie psychische Identität, sollten sich entwickeln können. Die gelehrte Erziehung, wie man sie bis dahin kannte, die man vorallem wegen des sturen Auswendiglernens des „toten” Lateins ablehnte, der man vorwarf, daß sie die Kinder verkrüppelte, sie abstumpfen ließ, wollten die Philanthropen durch Lernformen und Stoffe ersetzen, die Lebendigkeit individueller Entfaltung zuließen, Kreativität förderten, die „Bildung” der ldentität der Person, des „Herzens”, der „Seele” ermöglichten. Die finanziellen Mittel, die diesen Reformern zur Verfügung standen, waren zu gering, um Schulreformen und -gründungen in breiterem Umfang durchführen zu können. Man hätte dazu über die Kompetenz moderner Staatlichkeit verfügen müssen. So blieben die Versuche mit neuen Erziehungsmethoden zunächst weitgehend auf das persönliche Wirkungsfeld der Pädagogen beschränkt, die sich in Dessau Erfahrungen erwarben, wie beispielsweise Johann Heinrich Campe oder Christian Gotthilf Salzmann. Allerdings verbreiteten sich die Entwürfe und pädagogischen Versuche über die reiche im Zusammenhang damit entstehende pädagogische Literatur.
Pestalozzi, der Schweizer, wollte einen Anfang einer Erziehung für die Schichten begründen, denen bisher als Analphabeten jegliche Bildung verwehrt war. Armen Kindern und Waisen galt seine besondere Fürsorge: „Elementare Bildung” und Befreiung aus unmittelbarer Not sollten diesen Kindern zu ihren Rechten auf Entfaltung ihrer Person verhelfen.

3. Menschen­rechte und Politik

Meine Republik fängt erst an, wenn die Menschheit gar keiner Regierung mehr bedarf, wenn jeder seine Acker baut oder seine Schuhe mache und sich nicht träumen läßt, daß er mehr tue, wenn er die Leitung der öffentlichen Geschäfte übernehme als wenn er Schuhe mache.

Andreas Georg Friedrich Rebmann, 1797

Immanuel Kant, der Königsberger Philosoph, verdankt seine einflußreiche Stellung als maßgeblicher Theoretiker der Aufklärung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vor allem der Tatsache, daß er der Frage nachging, wie das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen zu denken sei. Seit etwa 1770 beschäftigte er sich mit der Beziehung von „Moral” und „Recht”, die die „Freiheit” des Menschen erst begründen könne, und setzt sie in Verhältnis zur Idee des „Fortschritt des Menschengeschlechts”. „Mündigkeit” ist einer seiner Leitbegriffe. Das Handeln des „autonomen” Individuums ist aber nur vorstellbar, wenn durch die Moral vernünftige Normen begründbar sind, die in freier Willensentscheidung realisiert werden können. Selbstbestimmung, Befreiung aus der Vormundschaft der feudalen Vormünder ist nur durch den „Gebrauch der Vernunft” erreichbar. Das Konzept gesellschaftlicher Evolution verlangt die Begründung einer Rechtsordnung, einer Verfassung, die das Verhältnis der Menschen untereinander beschreibt, um die naturrechtlichen Freiheiten, die Gleichheit der Entfaltungsmöglichkeiten zu sichern. Kant definiert in der „Kritik der reinen Vernunft” Freiheit als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen” (A 553).
Um die Voraussetzung von „Freiheit”, nämlich „Mündigkeit”, allmählich in der Gesellschaft zu verbreiten, kommt der Vermittlungsfunktion der Öffentlichkeit eine entscheidende Wirkung zu. In seinem berühmten Aufsatz von 1784 „Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?” sagt Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit”. Die Erringung der „Mündigkeit” der Menschen ist nur als Selbstaufklärung der reflektierenden Individuen denkbar, die Öffentlichkeit ist die Institution, in der sie kommunizieren, sich eine Meinung über die gesellschaftlichen Einrichtungen bilden, die Richtigkeit , von Auffassungen über ihre soziale Realität vergleichen. Um diesen für die „Mündigkeit” konstitutiven Diskurs pflegen zu können, muß es gestattet sein, als „Privatperson” sich frei zu äußern: „Meinungsfreiheit” ist ein naturrechtlich begründetes Prinzip, an dessen Ausübung der Mensch nicht gehindert werden dürfe.
In Preußen gab es zur Zeit Friedrichs des Großen und seines liberalen, aufgeklärten Kultusministers Zedlitz bis 1786 faktisch „Meinungsfreiheit”. Danach, unter dem neuen Minister Wöllner, war sie, wie im übrigen Deutschland, durch die Maßnahmen der Herrschaftsträger bedroht: Zensur, Verfolgung von Personen, die eine mißliebige oder gar herrschaftskritische Meinung öffentlich zum Ausdruck brachten.
Kant wurde von fast allen engagierten Aufklärern gelesen: Georg Forster, Friedrich Schlegel beispielsweise; Fichte sagte, diese Lektüre habe eine Revolution in seinem Kopfe bewirkt. Seine Anhänger hatten großen Einfluß auf die gesellschaftlichen Reformen, die um 1800 in Preußen und in den meisten anderen Staaten Deutschlands durchgeführt wurden. Selbst an einer Reihe von katholischen Universitäten fand er Anhänger: Anton Josef Dorsch und Eulogius Schneider, ein wirklicher „Jakobiner”, sind zu nennen.
Das Interesse an seinem Denken beruhte darauf, daß er eine Theorie der Gesellschaft entwickelte, die Moral, Freiheit, die „natürlichen” Rechte des Menschen und eine darauf aufbauende Rechtsordnung systematisch darstellte, eigentlich eine Weltanschauung war, die Neubegründung einer gerechteren, auf freier Entfaltung mündiger Individuen basierenden „bürgerlichen Gesellschaft” implizierte. Seine Konzeption war Utopie und faszinierte, weil sie die Richtung für Reformmöglichkeiten beschrieb(8). Die Politisierung der aufgeklärten Intelligenz erfolgte in Deutschland in mehreren Phasen. Während der „Jugendbewegung” des „Sturm und Drang”, von 1769 bis etwa 1776, hatte man emphatisch „Freiheit” gefordert. Gemeint war vor allem die Freiheit des Individuums zu genialer, schöpferischer Tat, zu produktiver Aktion. Goethes „Prometheus” ist Ausdruck dieser Stimmung. Aber die Freiheit der Person zu eigener Willensentfaltung stand in Widerspruch zur faktischen Herrschaftspraxis, zur absoluten Macht der Obrigkeit, die dem Untertan gebot, was er zu tun hatte. Wenn allerdings ein Fürst seine Macht gegen die Gesetze des Landes und das „Herkommen” mißbrauchte, sich tyrannisch zeigte, das Lebensrecht der Untertanen durch Wilkür gefährdete, so galt ihm der Zorn der auf-geklärten Intelligenz: „in tyrannos” begründete ihre Opposition. Lessing behandelte das Problem „unmoralischer”, intriganter Gewaltanwendung in „Emilia Galotti”, Schiller schrieb „Kabale und Liebe”. Die Macht mußte vor den Normen der Moral bestehen können, die Sicherheit der Untertanen wurde zum Anspruch.

Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg regte viele Zeitgenossen zur Reflexion über die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft an, über Herrschaft, die das „Glück” der Menschen ermöglichen würde. Die Sympathie für die Freiheitskämpfer scheint nicht selten gewesen zu sein. Johann Benjamin Erhard berichtet, daß sein Vater, ein Nürnberger Handwerker, ein Drahtzieher, die politischen Ereignisse und Kämpfe mit Aufmerksamkeit verfolgt und für die Sache der „Freiheit” Partei ergriffen habe. Von Kant wird berichtet, daß er in einer Gesellschaft einmal mit seinem späteren Freund Green, einem englischen Kaufmann, der seine Nation beleidigt sah, in einen heftigen Streit geraten sei, als er für die Amerikaner Stellung genommen hatte, und deren politische Positionen im Rahmen allgemeinerer Prinzipien des Fortschritts rechtfertigte.
Die Vermietung zwangsweise „gepreßter” Soldaten durch den Landgrafen von Hessen an die englische Krone zum Einsatz gegen die Amerikaner empörte die Aufklärer, die mündige Selbstbestimmung für ein „Menschenrecht” hielten. Rebmann, Seume, Pezzl, Görres empörten sich, denn es zeigte sich, daß einem Fürsten Leben und Wohlergehen seiner Untertanen gleichgültig war, solange er aus dem „Diensthandel” . seine Finanzlage verbessern konnte.

Der Ausbruch der Französischen Revolution brachte die politischen Konsequenzen der Begriffe „Freiheit und Gleichheit” bei der „gebildeten” Intelligenz vollends zum Bewußtsein. Die Sympathie mit den Zielen der Revolutionäre teilten viele: Klopstock, Schiller, Herder beispielsweise. Kant beobachtete die Ereignisse als Beweis für die Richtigkeit seines geschichtsphilosophischen Konzepts, des Fortschritts des Menschengeschlechts, begrüßte grundsätzlich deren Leitwerte: Aufklärung, Freiheit, Gleichheit, Moralität des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
In Deutschland gab es zwar regionale Aufstände, die ihre Ursachen in Teuerungs- und Hungerkrisen oder der Nichtbeachtung gewohnten Rechts durch die Obrigkeit hatten, wie in Sachsen oder einigen Reichsstädten. Es ging dabei um die Bewahrung des „Herkommens”, des „alten Rechts” der traditionalen Gesellschaft.
Zu einer Revolution kam es nicht. G. F. Rebmann, Aufklärer, Demokrat, dann nach 1800 Richter in Mainz, sah 1796 die Gründe:

„In Frankreich waren nur zwei Hauptinteressen, das Interesse des Hofs, dessen was zum Hof gehört, des Adels, der Geistlichkeit, und das Interesse des Volks, der Bürger. Daher entstanden zwei Parteien, die miteinander kämpften. In Deutschland hingegen haben wir 300 kleine Höfchen, zweierlei Religionen und statt einer gleich leidenden Nation mehrere ungleichartige, durch Religion, Sitten, Regierungsform getrennte, hie und da ganz leidlich regierte Völker, die nie gleichen Schritt halten können und werden, ehe eine gänzliche, jetzt noch nicht zu erwartende Konsolidation erfolgt“(9).

In Mainz gab es Ansätze zu einer „Revolution” des neuen Typs. 1792 hatte sich eine „Gesellschaft der Volksfreunde” gebildet. Aufgeklärte Intellektuelle wie Georg Forster oder Friedrich Cotta schlossen sich in ihr zusammen, um die altständische Gesellschaft zu revolutionieren. Die Bevölkerung des Mainzer Gebiets sollte aufgeklärt werden. welche Vorteile, weiche „Verbesserungen” ihr eine auf „Vernunft”, „Freiheit” und „Menschenrecht” gegründete neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen brachte. In einer programmatischen Rede in der „Gesellschaft der Volksfreunde” am 15. November 1792 formulierte dies Georg Forster folgendermaßen:

„Frei sein und gleich sein, der Sinnspruch vernünftiger und moralischer Menschen, ist nunmehr auch der unsrige geworden. Für den Gebrauch seiner Kräfte des Körpers und des Geistes fordert jeder gleiches Recht, gleiche Freiheit; und nur die Verschiedenheit dieser Kräfte selbst bestimmt die verschiedene Art ihrer Anwendung und Nützlichkeit”(10)

Ideologie und Zielrichtung der Revolutionäre gingen vom Bild des „vernünftigen” und „moralischen” Menschen aus, dessen freie Entfaltung, jenseits der geburtsständischen Schranken und Privilegien der feudalen Gesellschaft, ermöglicht werden müsse. Das Leitbild der Aufklärung, „Mündigkeit” des Individuums und naturrechtliche Gleichheit zum freien „Gebrauch seiner Kräfte”, waren die entscheidenden Elemente ihrer Utopie.
Aber alle Ansätze zur Veränderung der Gesellschaft scheiterten am weitgehenden Desinteresse der in der traditionellen Kultur lebenden Bevölkerung, der bäuerlichen und handwerklichen Schichten, die die sozialen Zwänge des Gehorsams gegenüber dem „Herrn”, die Ungleichheit der Person für „natürlich” oder „gottgewollt” hielten. Die Debatten der „Gesellschaft der Volksfreunde”, an deren Zusammenkünften maximal 500 Personen teilnahmen, darüber, was „Vernunft”, „Freiheit” und „Gleichheit” für die Neugestaltung der Gesellschaft zu bedeuten habe, erreichten sie nicht. Ihre Kulturgewohnheiten waren prinzipiell verschieden von den Diskursformen der
aufgeklärten bürgerlichen Öffentlichkeit, in denen die „Klubisten” dachten und sich verständigten. Die politischen Ansprüche, die aus dem naturrechtlichen Menschenbild der Aufklärung begründet wurden, mußten ihnen fremd bleiben, solange sie im Weltbild der altständischen Ordnung dachten, die Ungleichheit von Stand, Korporation, Herr-Knecht-Beziehung, des sozialen Zwangs der „althergebrachten Gewohnheit” im voraufgeklärten Christentum legitimiert war. Die Vermittlung, was mit den. Begriffen wie „Mündigkeit” gemeint sei, wurde von den Mitgliedern der Gesellschaft versucht, man glaubte beispielsweise im Bauernkalender ein adäquates Medium zu haben. Insgesamt aber scheiterten die Aufklärer an ihrem Versuch, dem Menschenbild des „mündigen” Individuums eine politische Form zu geben. Die Mainzer Revolutionäre fanden kein revolutionäres Subjekt, das die Umwälzung zu einer Gesellschaft aufgeklärter Menschen mitgetragen hätte. Zudem blieb die Unterstützung, die man sich von der französischen Besatzungsmacht versprochen hatte, weitgehend aus.

Als 1793/94 die ideologischen Ziele der französischen Revolution immer mehr durch die Ereignisse einer Schreckensherrschaft, des „terreur” zur Durchsetzung der Moral, in Frage gestellt wurden, wandten sich viele anfängliche Sympathisanten ab. Fortan geriet jeder, der sich in irgend einer Weise positiv mit dem epochalen Ereignis auseinandersetzte, beispielsweise das Programm von den Werten des aufgeklärten Weltbildes her zu rechtfertigen versuchte, in den Verdacht, ein „Jakobiner” zu sein. Die deutschen Fürsten hatten staatliche Gegenmaßnahmen gegen den geistigen Einfluß organisiert, der von der aufgeklärten Intelligenz in Richtung auf gesellschaftliche Veränderung ausging: gezielte publizistische Propaganda und strenge Zensur sollten die Ausbreitung der „Neuerungssucht” einschränken. Das öffentliche Klima wurde dadurch geprägt. Als „Jakobiner” oder „Kantianer”, beide Begriffe verwendeten die Vertreter der „aristokratischen Partei” gleichermaßen in diffamierender Absicht, wurden alle beschimpft, die so gefährliche Worte wie „Menschenrechte” als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens, folglich auch als Grenzen herrschaftlicher Gewalt, zu rechtfertigen wagten.
Selbst Kant geriet unter Druck. Obwohl er in seinen Schriften immer betont hatte, daß der Untertan sich der einmal bestehenden Obrigkeit unterwerfen müsse, ihr zum Gehorsam verpflichtet sei, galt er bei den Vertretern der Gegenaufklärung als mißliebig. Die staatliche Kritik machte sich vor allem an seinen religionsphilosophischen Schriften fest, denn man hatte den Legitimationswert eines nicht durch aufgeklärtes Denken gefilterten Christentums für die Einbindung der breiten Bevölkerung in die alte gegesellschaftliche Ordnung erkannt. So schrieb im März 1794 der preußische König Friedrich Wilhelm II an seinen Minister Wäliner lapidar: „Mit Kants schädlichen Schriften muß es auch nicht länger fortgehen.”
Tatsächlich waren in einigen Gegenden Deutschlands Flugschriften verbreitet worden, die die politische Umwälzung intendierten 1794 kursierte biespielsweise eine Programmschrift, die von der Schweiz aus vertrieben wurde, mit dem Titel: „Erklär- und Erläuterung der Rechte und Pflichten des Menschen, zur Gründung des bürgerlichen Glücksstandes abgefasst und angenommen in der Volksversammlung zu…“ Sie enthielt Artikel, die von der Darstellung der Menschenrechte ausgingen:

„Gott und das Gesetz; Von den Grundgesetzen der menschlichen Gesellschaft; Von der Gleichheit der Rechte der Menschen; Von der Entstehung und dem Endzweck des gesellschaftlichen Lebens gleicher Menschen; Von der Widerrechtlichkeit der Leibeigenschaft; Von der Gesetzgebenden Gewalt und dem bürgerlichen Gesetze überhaupt; Von den unabänderlichen Gesetzen in Rücksicht des Bürgers gegen seine Mitbürger.”

Ausgehend von naturrechtlichen Grundrechten des Menschen sollte in diesen Schriften die Neubegründung der Gesellschaft durch Bürger initiiert werden, die sich ihrer Rechte und Pflichten bewußt wären und sich in einer Volksversammlung ihre Gesetze selbst geben mußten: Sicherheit des Eigentums, Unverletztheit der Person unter den Gesetzen des Staats und Mitwirkung bei „Gebung und Aufhebung der Gesetze” und bei der „Aufstellung der Beamten” waren solche Prinzipien.
Der Nürnberger Arzt Johann Benjamin Erhard versuchte in seiner Schrift „Ober das Recht des Volkes zu einer Revolution” zu begründen, daß das Volk dann berechtigt sei, die alte Herrschaft zu beseitigen, sich zum Subjekt der Veränderung zu machen, wenn ihm von den Fürsten die Grundrechte vorenthalten werden. Im ersten Kapitel dieser Abhandlung faßt er unter Menschenrechten: Rechte der Selbständigkeit, Freiheit und Gleichheit:

        „1. Befolgung der Forderung meines Gewissens in dem,
             was nur mich betrifft.
         2. Mitteilung der Gedanken.
         3. Selbstgebrauch der Kräfte.
         4. Unbeschränktes Eigentum über den Körper,
         5. Unbeschränkte Freiheit im Wandel.
         6. Ein den Menschen als Person ehrendes Betragen.
         7. Gleiche Vorteile mit anderen, sich Rechte zu erwerben.
         8. Freier Gebrauch seiner Rechte
             oder das Recht, Verträge zu schließen.
         9. Gleicher Anspruch auf Lebensgenuß“(11)

Verweise

1 Reinhard Koselleck: Kritik und Krise, 1959.
2 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962.
3 Vgl dazu auch Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft,1969.
4 Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, 1969. – Zum Problem „Normalität” und „Narrheit” bietet die Behandlung der Beziehung von Phantasie und Narrenrolle Aufschluß: Wolfgang Promies: Die Bürger und der Narr, 1966.
5 Heinrich Scheel: Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, 1965; derselbe: Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, 1965; ders. (Hg): Die Mainzer Republik. Protokolle des Jakobinerklubs, 1975. Außerdem: Klaus Träger (Hg): Mainz zwischen Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution 1792-93,1963.
6 Walter Grab: Jakobiner in Hamburg, 1965; ders: Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten Französischen Republik, 1966; ders: Norddeutsche Jakobiner, 1967. Mit differenziertem sozialgeschichtlichem Ansatz: Axel Kuhn: Jakobiner im Rheinland, 1976.
7 Johann Heinrich Pestalozzi in einem Brief an den bernischen Landvogt Tscharner.
8 Zu Kants Gesellschaftstheorie vgl Richard Saage: Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, 1973. – Für Kants Haltung zur Französischen Revolution ist aufschlußreich, wie er sich den Prozeß der Realisierung des Fortschrittsentwurfs vorstellte; dazu Peter Burg: Kant und die Französische Revolution, 1974.
9 Andreas Georg Friedrich Rebmann: Vollständige Geschichte meiner Verfolgung und meiner Leiden, Amsterdam 1796, S358.
10 Georg Forster: Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken, 1792, in: Sämtliche Schriften, Bd IV, S 415.
11 Johann Benjamin Erhard: Über das Recht des Volkes zu einer Revolution, 1795; wiederveröffentlicht bei Hanser München 1970, Zitat: S 37.

nach oben