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Zukunfts­po­litik

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 105-107

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S. 105-107

Carl Amery, Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Rowohlt Verlag Reinbek 1976, 222 Seiten, l9, 19,80 DM.
Erhard Eppler, Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen; 2. überarbeitete Auflage, Deutscher Taschenbuchverlag München 1976, 165 Seiten, 4, 80 DM.

Amery macht einen „konsequenten” Materialismus zur Grundlage seiner Schrift. Dieser Materialismus unterscheidet sich vom bisherigen dadurch, daß er die Materie nicht als tot, sondern als lebendig nimmt. Konsequenter Materialismus offenbart die Abhängigkeit des Menschen von der irdischen Materie, er wird ökologisch. Die Ökologie ist die Wissenschaft von den Lebensformen und -möglichkeiten auf der Erde. Ihre Grunderkenntnis ist, daß die Erde nicht den Menschen allein gehört. Die Erde ist eine Gemeinschaft vieler in Kreisläufe eingebundener Arten von Lebewesen auf großem, aber begrenztem Raum. In dieser Gemeinschaft sind alle aufeinander an-gewiesen. Tritt eine Art die andere unter die Füße, so brechen die Kreisläufe zusammen, sie erzeugen keine Aufbaustoffe mehr und gehen an ihren Abfällen zugrunde: Leben insgesamt wird unmöglich.
Diese Einsicht erledigt die bisherige menschbezogene (,‚humanchauvinistische“) Weltbetrachtung und -behandlung. Amery deckt die ökologischen Schandtaten der Menschen auf, angefangen von der Bodenversalzung durch künstliche Bewässerung in den Zweistromländern über die Abholzung von Wäldern, mit der nicht erst Rom, sondern schon Athen begonnen hatte, bis zur systematischen Ausplünderung der Erde durch das Industriesystem; wozu nicht zuletzt eine industrialisierte, die Böden verderbende Landwirtschaft zu zählen ist, die schon im 19. Jahrhundert mit dem Baumwollanbau begann. Industrielle Heldentaten – Rodung von Urwäldern, Weltraumfahrten und Atomkraftwerke – erweisen sich als ökologischer Schwachsinn; umgekehrt wirft der ökologische Ansatz ein neues Licht auf bisher verkannte Kulturen, die ihren Frieden mit der Erde hatten: die Jäger und Sammler, die Jahr-zehntausende in natürlichem Gleichgewicht lebten, und die Dorfkulturen, die ein beständiges auf Austausch begründetes Verhältnis zur Erde gewannen, von dessen Erträgen alle anderen Menschen lebten, auch die, die über die Misthaufen – diese Zeugen eines geglückten Kreislaufs – die Nase rümpfen. In dieser Sicht erscheinen die Bauernkriege als Verteidigung der Erde gegen die zerstörerische Ausbeutung durch die verstädterte Zentralmacht – die Frontstellungen von Wyhl und Brokdorf sind nicht neu. Die Sieger sind dieselben geblieben, zum Schaden von uns allen.
Ohne Kreislauf nimmt der Abfall zu, die Regierungen werden zu Müllbeseitigungsunternehmen. Das Industriesystem erzeugt auch menschlichen Abfall, seit dem Beginn struktureller Arbeitslosigkeit mehr als bisher, wo nur die ausgeflippten Außenseiter waren. Selbst Landschaft wird durch Zerstörung unbrauchbar und zum Abfall, die Wüste wächst. Die sogenannte Entwicklungshilfe trägt die technische Wüste in heile Länder; die Folgen einer Vernichtung des Amazonasurwaldes sind noch nicht abzusehen.
Die Ökologie ersetzt das idiotische Bestreben, um jeden Preis – auch um den der Übervölkerung und Umweltzerstörung – zu wachsen, durch die nüchterne Frage nach den Möglichkeiten von Raum und Zeit. Wieviel Menschen können in einem Gebiet wohnen? Welche Lebensbedingungen sind auf Dauer möglich? So viel steht fest, daß in der Bundesrepublik keine 60 Millionen Menschen unter den heutigen Bedingungen weiterleben können. Vorsichtige Schätzungen bewegen sich um 40 Mio mit dem Lebensstandard von 1937. Ein Abbau zentralisierter Erzeugungsstätten und der Übergang zu kleineren selbstgenügsamen Versorgungseinheiten, geringerer Wohndichte und kleineren Betrieben sind nicht zu umgehen. Auch muß in längeren Zeiträumen gedacht werden als in Wahlperioden. Wir müssen lernen, in Generationen zu denken, denn wir sind nicht berechtigt, über die Lebensgrundlagen unserer Nachkommen zu verfügen. Mit dem Weiterfließen der Rohstoffe kann in solchen Zeiträumen ebenso wenig gerechnet werden wie mit dem des amerikanischen Weizens.
Wehe dem, der sich darauf nicht einrichtet. Es kennzeichnet den Widersinn und den bereits vollzogenen Bankrott unserer Bürodemokratie, daß sie diese Seinfragen tabuiert. Aus der Lebensqualität machte sie einen Superkonsumbonbon. So wartet der diktatorische Überstaat auf die Krisen, die seine Stunde bringen werden.
Nur die Versöhnung mit der Natur, die Wiedereinsetzung der Materie in ihre Rechte kann noch einen Ausweg bieten. Der Mensch muß seine natürliche Kreativität wiederentdecken und im Austausch und Frieden mit der Natur leben. Wie das praktisch vorsichgehen soll, läßt Amery letztenendes offen. Seine als Beispiel genannten Vorschläge ergeben kein Handlungsrezept, der Rat zu einem Bündnis zwischen Kirchen, Gewerkschaften und nationalen Minderheiten hat wenig Aussicht auf Verwirklichung – auch sind diese Bündnispartner noch nicht stark genug, solange sie keinen Zugang zu den Schaltstellen der Macht haben.
Den Wert seines Buchs mindert das nicht. Die Analyse ist eindringlich genug. Sie zwingt zum Nachdenken, und das ist besser, als wenn Amery einen fertigen Plan hätte, der das Nachdenken erübrigte. Sein Buch ist mit hinreißendem Schwung, der schon sein voriges Buch „Das Ende der Vorsehung – die gnadenlosen Folgen des Christentums” auszeichnete, geschrieben: was Wunder bei dem ehemaligen (?) Romancier. Es ist wichtig, daß wichtige Bücher gut geschrieben und lesbar sind. Viele inhaltlich gute Arbeiten können sich nicht durchsetzen, weil sie schlecht geschrieben sind. Bei Amery ist auch stilistisch alles gut bis auf – für mein Gefühl – vermeidbare Fremdwörter. Warum sagt er statt Rückblick Retrospektive, statt Menschenfeindlichkeit Antihumanismus, statt Durchdringung Perpetration? Das erschwert vielen Lesern unnötig den Zugang. Für die Taschenbuchausgabe sollte Amery das ändern. Wir sollten überhaupt überlegen, ob wir die Ökologie nicht umtaufen in Erdwissenschaft, denn wir brauchen einen Begriff, der sich selbst erläutert.

Wer faßbarere Vorschläge sucht, greift zu Epplers Buch. Eppier entwirft ein Programm für 1980, dem er einen ersten Teil mit grundsätzlichen Betrachtungen voranstellt. Er geht nicht soweit zurück wie Amery, aber dafür mehr in Einzelheiten, was ebenso zwingend ist. „Zehn Tage Verzug” (beim Beginn einer neuen Bevölkerungspolitik) „würden den Tod von einer Million Kindern verursachen … hier beginnt die Apokalypse” (S 13). Eppier nennt als kritische Punkte der Gegenwart: Erschöpfung und Vernichtung der Rohstoff- und Nahrungsmittelquellen, Verlust der Rohstoff- und freiheit für Regierungen und wachsende Kurzsichtigkeit, strukturelle und Jugendarbeitslosigkeit und Inflation, wachsende Staatsverschuldung und Unzuträglichkeiten bei der Verteilung der Güter der Welt. Politik steht vor ihrem Tod, wenn sie Krisenmanagement zurück statt Krisenbewältigung voran betreibt.
Eppier meint, wenn die Hoffnung über die Angst siegen sollte, müßten mehr Wahrheiten gesagt werden. Im Fall der Ostpolitik habe das Volk diese Wahrheiten vertragen und hinzugelernt: Warum nicht auch bei der Wirtschaftspolitik? Der Fall ist in der Tat vergleichbar.
Eine Sache des Herzens ist für Eppier der Konservatismus. Er unterscheidet zwischen einem Konservatismus der Strukturen und einem der Werte: der erste will Machtverhältnisse, der zweite die Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie bewahren. Eppler bekennt sich zu den Wertkonservativen und kann sich so, ohne überlebte Verhältnisse verteidigen zu müssen, zu den Konservativen zählen, woran ihm gelegen zu sein scheint. Man spürt den Parteipolitiker und Kirchenmann -bei solchen Aussagen. Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust, nämlich auch noch die des scharfsichtigen Intellektuellen. Dieser Zwiespalt zieht sich durch das ganze Buch.
So hält Eppier der Gesellschaft, die ihr „soziales Netz” rühmt, mit Recht vor, daß Solidarität nicht der Unfallwagen nach sozialem Unglück sei, sondern die Gemeinsamkeit, die solche Unfälle vermeide und jeden seinen Beitrag leisten lasse – aber mit Aussagen wie „die Bundesrepublik Deutschland kann sich in Bezug auf Freiheit und soziale Gerechtigkeit mit jedem Land der Erde messen” (S 63), sinkt Eppler unter sein eigenes Niveau herab auf das seiner Parteifreunde in ihren Sonntagsreden. Hat er wirklich noch nichts von Berufsverboten gehört?
So gut seine Formel ist, man dürfe nicht bei der Machbarkeit des Machbaren stehen bleiben, sondern müsse das Notwendige machbar machen, so schief sieht er dabei die realen Verhältnisse. Ihm stellt sich die Frage, wie weit zu diesem Zweck der Politiker den Wähler aufklären könne und müsse. Für Eppier ist also der Politiker aufgeklärt und der Wähler dumm. Dies Verhältnis hat sich doch nach dem Ausscheiden Epplers aus der Regierung umgekehrt. Heute sind es die aufgeklärten Wähler, die vor der Dummheit der Politiker verzweifeln und sich von ihren Parteien lossagen und keine Partei finden, die ihre intellektuellen und politischen Ansprüche befriedigen kann.
Eppier konkretes Programm ist beherzigenswert. Es läßt das Augenmaß eines erfahrenen politischen Realisten erkennen. Jeder sollte es lesen und sich für seine Verwirklichung einsetzen. Es besticht trotz zugegebener Unvollständigkeit durch seine
Konkretheit und das sichere Gefühl für die Gefahrenpunkte unserer Gesellschaft und für deren wirksame Inangriffnahme.
Eppier hält sein Programm für machbar. „Es läßt sich, wenn man will, innerhalb dessen verwirklichen, was man unser System zu nennen pflegt” (5150). Möge Eppier damit Recht behalten. Ich glaube es nicht. Die Parteien und das Parlament haben sich als unfähig erwiesen, gegen die kurzsichtigen und falsch verstandenen Interessen der Industrielobby und der BILD-Öffentlichkeit zu handeln. Letzte Beispiele sind das Abwässerabgabengesetz und das Arzneimittelgesetz. Die Regierung regiert nicht mehr, sie reagiert nur noch.
In Epplers Begriffen ausgedrückt fragt es sich, ob das Vierparteiensystern ein zu bewahrender Wert oder eine überalterte Struktur ist. Sollte nicht wenigstens die 5% Klausel abgeschafft werden? Dazu äußert Eppier sich nicht. Stattdessen fordert er die Bürger auf, ihren Ärger kreativ zu verarbeiten und in Anstöße an die lahmgewordenen Mammutorganisationen – Gewerkschaften, Kirchen, Parteien – umzusetzen. Aber wird damit nicht das Konzept der Parteiendemokratie auf den Kopf gestellt? Sollen sich nicht gerade die politisch regen und nicht die politisch trägen Bürger in den Parteien zusammentun? Gewiß sind wir alle für die Demokratie verantwortlich. Solange aber die vier Parteien ein Machtmonopol beanspruchen, können sie nicht den Schwarzen Peter der Verantwortung auf den Bürger zurück-schieben. Der könnte es nämlich eines Tages leid sein, an einem stecken gebliebenen Karren herum zu zerren, und lieber umsteigen. Wo notwendige Reformen ausbleiben, bleiben nur Umwälzung oder Abstieg.
Diejenigen, die die Notwendigkeit sehen, aber dem handlungsunwilligen System den Rücken stärken, indem sie ihm bescheinigen, daß „eine Revolution in dieser Gesellschaft unmöglich” (S 151) sei, müssen sich fragen lassen, ob sie damit nicht dieselben Reformen torpedieren, für die sie sich so überzeugend einsetzen. Ich empfehle Eppler, den ersten Teil seines Buches über die Nähe der Apokalypse zu lesen. Daß das Notwendige machbar zu machen ist, gilt auch für die Revolution.

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