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Rechtsstaat mit Grauzonen

Zur verfassungsrechtlichen Entwicklung der Bundesrepublik.

aus: vorgänge nr.26, (Heft 2/1977), S.3-7

Im Jahre 1932 sagte der Staatsrechtler Carl Schmitt, der in den folgenden Jahren durch sein Engagement für das NS-System besonders hervorgetreten ist: „Eine Verfassung ist schnell gemacht. (…) Aber wenn sie einmal da ist, so wird man sie nicht leicht wieder los; sie ist dann nämlich eine Quelle der Legalität.” Solche Legalitäten sind „Schutzwälle für verschiedenartige Interessen, die sofort hinter den neuen Schutzwällen Deckung nehmen werden”(1).
Solange die CDU die Regierung in der Bundesrepublik führte, hat sie versucht durch Grundgesetzänderungen, insbesondere durch das Einfallstor Notstandsbestimmungen solche Schutzwälle zu schleifen. Aus ihren Reihen kam die Forderung nach einer „Total-Revision” des Grundgesetzes. Noch am 21. April 1970 beantragte die CDU/CSU-Fraktion des Bundestages die Einsetzung einer Enquete-Kommission mit dem Auftrag, zu prüfen, „ob und wie weit das Grundgesetz den gegenwärtigen Erfordernissen angepaßt werden muß „(2). SPD und FDP haben den Auftrag der damals eingesetzten Kommission begrenzt: Die „Anpassung” des Grundgesetzes sei unter „Wahrung seiner Grundprin-zipien” zu prüfen(3). Die Arbeit der Kommission hat nicht zu dem erwarteten Ergebnis geführt. Die wenigen nach 1970 durchgeführten Grundgesetzänderungen weisen hin auf eine neue Phase in der Entwicklung der Bundesrepublik.

Eine „Neben­ver­fas­sung” für die Exekutive?

Diese Phase wird durch folgende Tendenz gekennzeichnet: Die Verfassung der Bundes-republik bleibt äußerlich unangetastet und gilt auch weiterhin für den „Normalfall”; dane-ben aber entsteht zur „Sicherung des sozialen Friedens”, zur Bekämpfung von Wirtschaftskrisen und ihren Auswirkungen und im Bereich der sogenannten Inneren Sicherheit gleichsam eine N e b e n v e r f a s s u n g dadurch, daß Einrichtungen der Exekutive in immer größerem Ausmaß sich Befugnisse anmaßen oder kraft Gesetz Befugnisse erhalten, Sonderbehandlungen oder Maßregelungen durchzuführen, die die Grundrechte in ihrer Substanz bedrohen. Die hergebrachten Freiheitsrechte werden für die Normallage als Schutzwälle gefeiert; derjenige aber, der in die Situation kommt, „Deckung” zu suchen, erfährt, daß Regierung und Verwaltung Instrumente entwickelt haben, die „Schutzwälle” – wenigstens teilweise – zu durchlöchern oder wirkungslos zu machen.
Die normative Verfassung wird unterlaufen durch Maßnahmen, die gesetzliche Regelungen „strapazieren” oder die in einer „zweifelhaften Legalität”, „am Rande” oder „etwas außerhalb der Legalität” erfolgen. Bezuggenommen wird dabei häufig auf Generalklauseln oder auf andere bewußt unklar gelassene gesetzliche Bestimmungen. Die Häufigkeit, mit der gegenwärtig von „Grauzonen des Rechts” die Rede ist, signalisiert das Entstehen einer Nebenverfassung. Grauzone bedeutet dabei zum Teil eine Umschreibung der Tatsache, daß die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dadurch außerkraft gesetzt wird, daß Akte der Verwaltung nicht aufgrund gesetzlicher Ermächtigung erfolgen, sondern als Maßnahme der Gefahrenabwehr dargestellt und durch Berufung auf den Schutz des Staates oder die Sicherung der freiheitlich demokratischen Grundordnung legitimiert werden. Bundesanwalt Siegfried Buback hat – als er auf die Frage nach neuen Zuständigkeitsregelungen zwischen Bund und Ländern in der Strafverfolgung antwortete – Tenden-zen der Entwicklung zu einer solchen Nebenverfassung bestätigt: „Da brauchen wir keine Zuständigkeitsregelung. Der Staatsschutz lebt davon, daß er von Leuten wahrgenommen wird, die sich dafür engagieren. Und Leute, die sich dafür engagieren, Herold (der Präsident des Bundeskriminalamtes) und ich, die finden immer einen Weg. Und wenn Sie eine gesetzliche Regelung haben und sie einmal strapazieren müssen, funktioniert sie ja meistens doch nicht“(4).
Da es sich vorerst nur um Tendenzen zur Bildung einer Nebenverfassung handelt, ist es angemessen, von der Bundesrepublik Deutschland als einem Rechtsstaat mit Grauzonen zu sprechen. Damit kann der Begriff „Doppelstaat” vermieden werden, der von Ernst Fraenkel zur Analyse des deutschen Faschismus entwickelt worden ist.(5) Bernhard Blanke hat, unter Bezugnahme auf Fraenkel, vor der Gefahr der „Entwicklung eines neuen ,Doppelstaates” gewarnt.(6) Das Problem einer solchen Entwicklung ist im Begriff „Rechtsstaat mit Grauzonen” enthalten; das Mißverständnis oder die Fehldeutung, das bei der Verwendung des Begriffs „Doppelstaat” dadurch entstehen kann, daß mögliche Tendenzen mit einem vorschnellen und globalen Faschismusverdacht gleichgesetzt werden, kann so ausgeschlossen werden(7). Das ist wichtig; denn der Versuch, Grauzonen des Rechts, mit anderen Worten gleichsam „,entrechtlichte` Bereiche zu schaffen durch Sonderbefugnisse für den Inhaber der vollziehenden Staatsgewalt”, ist zunächst lediglich der Griff nach einem bewährten Instrument der Konservativen gegen verrechtlichte Politik(8).

Vermehrung „entrecht­lichter” Bereiche im Staats­schutz

Die Entstehung von Grauzonen des Rechtsstaats durch bewußte Vermehrung gleichsam „entrechtlichter” Bereiche der Exekutive finden wir besonders im Staatsschutz:

  • Wenn nicht das Bundesverfassungsgericht (wie in Art 21 Grundgesetz festgelegt) über das Verbot politischer Parteien, sondern – dies ist während der Großen Koalition unter der Hand dadurch entschieden worden, daß vereinbart wurde, „das Instrument des Parteiverbots endgültig aus der Hand zu legen“(9) – die Exekutive in der Form von zwar nicht rechtlich geltend gemachten, in der Realität jedoch sehr wirksamen offiziellen Ver-rufserklärungen und empfindlichen Nachteilen für Parteimitgliedschaft entscheidet(l0).
  • Wenn das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts über die Verwirkung von Grundrechten, das in Art 18 Grundgesetz festgelegt wurde, dadurch unterlaufen wird, daß nahezu alle in Art 18 genannten Grundrechte auf andere Weise, häufig sogar von der Exekutive wirkungslos gemacht werden können.(11)
  • Wenn bei Hausdurchsuchungen für einen bestimmten Personenkreis die Ausnahmebe-stimmung „Gefahr im Verzug” so „strapaziert” wird, daß Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl für diesen Personenkreis zur Regel werden, und wenn der von der Innenministerkonferenz am 11. 6.1976 beschlossene „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder” in § 19 Abs. 2 der Polizei jederzeit zum Zwecke der Gefahrenabwehr das Betreten einer Wohnung gestattet, sofern Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß dort Personen Straftaten verabreden, vorbe-reiten oder verüben, sich Personen ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen oder sich verurteilte Straftäter verbergen, oder sie der Prostitution dienen.
  • Wenn die 1968 durch das Gesetz zu Art 10 Grundgesetz gesicherte minimale Kontrollmöglichkeit für den Fall des Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis durch neue Instrumente unterlaufen werden kann und wenn die Verwendung von Peilmikro-phonen, Wanzen oder Richtfunkgeräten (mit denen noch stärker als durch die Über-äwachung gemäß Art 10 in die Intimsphäre eingegriffen werden kann) durch die in das Gesetz aufgenommene Erlaubnis, „nachrichtendienstliche Mittel” anzuwenden, legalisiert wird, d.h. die Sicherheitsbehörden in dieser Hinsicht den Kontrollinstanzen entzogen werden(12).
  • Wenn Geheimdienste, die keine polizeilichen Befugnisse haben, weil diese durch Gesetz ausgeschlossen sind oder weil die gesetzliche Ermächtigung fehlt, polizeiliche Befugnisse wahrzunehmen, die fehlende Kompetenz dadurch ersetzen, daß sie eine „offene Beschat-tung” durchführen, d.h. eine ständige Begleitung, die nicht mehr der. Observation dient, sondern den Betroffenen unter psychischen Druck setzen soll und damit – zumindest auf der objektiven Tatseite – den Tatbestand der Nötigung erfüllt.(13)
  • Wenn die ungehinderte Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen durch Erfassung und Speicherung von Besuchern beschnitten wird.
  • Wenn die Wahrnehmung des Versammlungs-, Demonstrations- und Vereinigungsrechts für die Beteiligten aufgrund von immer großzügiger durchgeführten erkennungs-dienstlichen Behandlungen oder aufgrund von Foto- oder Filmaufnahmen zu empfind-lichen Nachteilen führt und deshalb nicht mehr erfolgt.

Schlei­chende „Ermäch­ti­gungen” im Wirtschafts­ver­fas­sungs­recht

Solche Beispiele findet man nicht nur im Bereich des Staatsschutzes, sondern auch im Wirtschaftsverfassungsrecht. Art 109 Grundgesetz hat der Exekutive weitgehenden Spielraum gewährt. Allerdings finden wir in diesem Sektor in der Regel weniger eine anordnende Exekutive, sondern spezielle Kooperations- und Gestaltungsformen, die gerade deshalb funktionieren, weil sie auf einem Verzicht auf Rechtszwang beruhen. Gesprächsrunden, spezielle Sachverständigengremien oder Planungsstäbe treffen durch Orientierungsdaten, Stillhalteabkommen oder auf ähnliche Weise häufig Entscheidungen, die die Grundrechtsträger stärker treffen können als die klassischen Eingriffe der Staatsgewalt.

Gefähr­li­ches „Spiel” mit der fdGO als sogenannter „Wert­ord­nung”

Legitimiert werden solche Eingriffe mit Werten. Im Bereich des Wirtschaftsverfassungsrechts geht es um Wachstum, Vollbeschäftigung, Währungsstabilität und ähnliches; kurz: um Bekämpfung der im Kapitalismus stets wiederkehrenden Wirtschaftskrisen. Im Be-reich des Staatsschutzes geht es um Sicherheit, und Gefahrenabwehr, um den Bestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Diese freiheitliche demokratische Grund-ordnung wird nicht mehr bestimmt als Eckstein, der den verfassungsrechtlichen Rahmen setzt, innerhalb dessen Auseinandersetzungen ausgetragen werden, sondern als eine Wertordnung, die als eine Legalität mit besonderer Qualität dem Grundgesetz als normativer Ordnung gegenübergestellt, besser übergeordnet wird. Ulrich K. Preuß hat in Anlehnung an den von Otto Kirchheimer entwickelten Begriff der „zweistufigen Legalität” im Hinblick auf das Grundgesetz von einer „zwei-stufigen Verfassung” gespro-chen(14). Preuß hat dargelegt, daß mittels einer solchen übergeordneten Wertordnung in einer spezifischen Dialektik von Regel- und Ausnahmerecht die normative Ordnung des Grundgesetzes außerkraft gesetzt werden kann. Mit anderen Worten heißt das: Der Begriff „freiheitlich demokratische Grundordnung” ist seines verfassungsrechtlichen Kerns beraubt und zu einem generalklauselartigen Kampfbegriff gemacht worden, durch den der politische Gegner zum Verfassungsfeind, in letzter Konsequenz rechtlos werden kann. Nach dem Grundgesetz soll es solche Rechtslosigkeit, durch die jemand außerhalb des Rechts gestellt wird, nicht geben. Auch der Grundsatz „Demokratie nur für Demokraten” gilt nur in der Form und unter den spezifischen Verfahrensregelungen, die im Grundgesetzund in Gesetzen festgelegt sind. Auch diejenigen, die das Grundgesetz nicht anerkennen, stehen – soweit in ihre demokratischen Staatsbürgerrechte eingegriffen werden soll – unter dem Schutz des Grundgesetzes(15).
Es wird angesichts der Verwendung des Begriffs „freiheitlich demokratische Grundordnung” als einer generalklauselartigen Kampfformel gegen-über dem politischen Gegner in Zukunft darauf ankommen, den normativen Kern des Begriffs stärker herauszuarbeiten und der Verwendung der „freiheitlich demokratischen Grundordnung” als einer Überlegalität entgegenzustellen.(16)

Vorbeugende Notstands­vor­sorge?

Angesichts der skizzierten Bildung von Grauzonen halte ich es für ebenso wichtig, das Schwergewicht der Argumentation und der Kritik auf die Verletzung verfassungs-rechtlicher oder gesetzlicher Verfahrenssicherungen zu legen. Die genannten Beispiele betreffen nicht das, was man den Normal-fall nennt, sondern die Ausnahme. Es handelt sich um „notständische Ersatzfunktionen”, um „vorbeugende Notstandsvorsorge”, die an die Stelle der klassischen Ausnahmebefugnisse der Exekutive getreten sind(17). Diese vorverlegten Notstandsmaßnahmen sollen den „Ausbruch eines solchen offenen Ausnahmezustandes (. ..), die Krise, die tödlich werden könnte”, verhindern.(18)
Liberale und Linke haben gegen Notstandskompetenzen opponiert, weil die Geschichte zeigt, daß Ausnahmebefugnisse immer die Gefahr enthalten, mißbraucht zu werden. Notstandsbefugnisse sind das Einfallstor für eine Nebenverfassung. So wurde mittels einer extensiven Auslegung von Art 48 Weimarer Reichsverfassung die normative Verfassung ausgehöhlt durch die auf eben diesen Artikel gestützte Nebenverfassung. Durch vorverlegte Notstandsbefugnisse kann das Grundgesetz der Funktion nach in ähnlicher Weise ausgehöhlt werden, wie einst die Weimarer Verfassung durch das Regiment der Notverordnungen zerstört und zur Transformation in ein faschistisches System reif gemacht worden ist.
Das Entstehen einer Nebenverfassung auf der Grundlage von Ausnahmebefugnissen kann nur dadurch verhindert werden, daß Ausnahmezustand und Normalzustand klar getrennt werden: „Das Friedensrecht darf nicht vom Kriegsrecht materiell unterwandert werden (…). Der Obergang vom normalen Friedensrecht zu dem nur im Kriegsfall zu rechtfertigenden Ausnahmerecht muß an ein Verfahren gebunden sein, das jeden Mißbrauch ausschließt“(19). Bei der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung konnten – wenigstens zum Teil – derartige Verfahren in der Form von Feststellungsbeschlüssen oder -erklärungen durchgesetzt werden.

Die Siche­rungs­funk­tion der formalen Verfah­rens­re­geln und Feststel­lungs­er­klä­rungen

Die Grundsätze für die Trennung von Ausnahmerecht und Recht der Normallage gelten auch für die vorverlegten Notstandsbefugnisse. Solche Verfahrenssicherungen und Feststellungserklärungen können den Klassenkampf von rechts – wie er in der Schaffung „entrechtlichter” Bereiche für Sonderbehandlungen der Exekutive zum Ausdruck kommt – nicht aufheben. Formale Verfahren und ausdrückliche Feststellungserklärungen sind jedoch ein Erschwernis; sie bedeuten Legalitätszwäng. Sie sind zugleich ein Mittel, um die Durchbrechung von Grenzlinien bewußt zu machen. Sie erleichtern es, eine Abwehrfront aufzubauen. Sie verändern zwar die Klassenkonstellation nicht, aber sie sind ein Vorteil für denjenigen, der in der Defensive steht.
Diese Sicherungsfunktion formaler Verfahrensregeln und ausdrücklicher Feststellungserklärungen wird häufig verkannt. Das geschieht, weil es in Deutschland keinen wirk-lichen Kampf um Habeas-corpus-Rechte gegeben hat. Deshalb wird in unserem Lande die Funktion solcher formalen Sicherungsrechte nicht genügend erkannt. Vielfach ist nicht einmal klar, daß erst aufgrund der Suspendierung von Art 114 Weimarer Reichsverfassung durch die Notverordnung vom 28. Februar 1933 die rechtliche Schranke beseitigt wurde, die dann der Gestapo den Weg freimachte zur Einlieferung Mißliebiger in Konzentrationslager. Von diesem Zeitpunkt an kam es nicht mehr auf das Formerfordernis des richterlichen Beschlusses an. – Aber auch jeder, der heute einmal festgenommen worden ist, weiß, was die „bloß” formale Verfassungsverfahrensregelung bedeutet, daß spätestens am Ende des nächsten Tages ein Richter über die Festnahme zu entscheiden hat.
Die am Beispiel der Habeas-corpus-Rechte in Erinnerung gerufene freiheitssichernde Funktion von Verfassungsverfahrensbestimmungen und Feststellungserklärungen wird gegenwärtig – aufseiten der Linken – durch zwei Positionen in frage gestellt. Einmal dann, wenn kritische Linke durch eine Überbewertung der Legitimationsfrage oder durch den globalen Hinweis auf die Bewegungsgesetze des Kapitals eine Repressionsmaßnahme erklären und damit dazu beitragen, daß die Gegenseite Legalitätszwänge lockern oder sogar zur Seite schieben kann. Zum anderen dann, wenn in der Polemik gegen Art 21 und Art 18 Grundgesetz die Sperrwirkung solcher verfassungsrechtlichen Verfahrenssiche-rungen, wie sie in Art 21 Abs. 2 Satz 2 und Art 18 Satz 2 Grundgesetz zum Ausdruck kommt, ignoriert oder heruntergespielt wird(20). Das Zurückdrängen der Exekutive durch diese Verfahrens- und Feststellungszwänge ist ein Versuch von historischem Rang. Durch diese Zuständigkeitsregelung sollte die Regierung daran gehindert werden, den Begriff „freiheitlich demokratische Grundordnung” selbst in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu definieren.

Strategien des Kampfes gegen den Abbau des „juris­ti­schen Beiwerks”

Grauzonen des Rechts entstehen dadurch, daß verfassungsrechtliche und gesetzliche Verfahrenssicherungen und Feststellungserklärungen Schritt für Schritt abgebaut oder bei der Inanspruchnahme bzw. Ermächtigung neuer vorverlegter Notstandsbefugnisse nicht geschaffen werden. In einer Situation, in der der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag und heutige Bundestagspräsident Karl Carsteus rechtsstaatliche Verfahrenssicherung als „juristisches Beiwerk” abtut(21) und in der die Linke insgesamt mehrundmehr in die Defensive gedrängt wird, kommt es darauf an, die Stoßrichtung des gegenwärtigen Angriffs zu erkennen. Politische Kräfte, ohne deren Einsatz Verfassungs-bestimmungen ihre Bedeutung verlieren, müssen ihr politisches Ziel im Auge behalten. Der kritische Jurist aber, der bei einem in rechtlichen Formen erfolgenden An-griff der Gegenseite nicht in juristischen Positivismus zurückfallen will und abstrakt die Kon-struktion einer materialistischen Verfassungstheorie anstrebt, oder der auf die materielle Entwicklung, auf das Entstehen von politischen Gegenkräften setzt oder abstrakt dem „politischen Prozeß selbst” vertraut(22), gibt sich auf und wird zum nur zuschauenden Intellektuellen, wenn er nicht die Aufgabe wahrnimmt, im juristischen Bereich das zu analysieren, was ist und was man dagegen tun kann. Die Ausweitung der Grauzonen und die Gefahr der Entstehung eines neuen Doppelstaates können nur politische Kräfte verhindern. Gerade deshalb kommt es darauf an, aufzuzeigen, in welcher Weise die vorverlegten Notstandsbefugnisse der Exekutive das Grundgesetz in der Funktion so aushöhlen können, daß der Aktionsspielraum im Sinne der demokratischen Teilhabe am politischen Prozeß und die Geltung der Grundrechte für jedermann bedroht ist.
In den ersten Nachkriegsjahren gab es noch eine kritische Auseinandersetzung mit der Tatsache, daß von Sozialdemokraten durch extensive Auslegung der Weimarer Reichs-verfassung (man dachte nicht nur an Art 48, sondern auch an die schon 1923 unter Friedrich Ebert erprobten Ermächtigungsgesetze und die 1923 vom Reich exekutierte Auflösung von gewählten Landesregierungen in Sachsen und Thüringen) die Instrumente geschaffen worden sind, die später gegen die demokratische Republik und dann auch gegen die SPD eingesetzt wurden. Heute wird vielfach nicht einmal die Frage verstanden, daß die Grauzonen, von denen hier die Rede ist, das Grundgesetz in ähnlicher Wiese auzuhöhlen vermögen. Doch das Schicksal unserer Republik hängt davon ab, wie viele von jenen, die sich heute noch nicht bedroht fühlen, bereit sind, den Kampf gegen die Nebenverfassung aufzunehmen, die heute in einem Rechtsstaat mit Grauzonen entsteht.

Verweise

1 Carl Schmitt, „Gesunde Wirtschaft im starken Staat” in: Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnamverein), 1932, Heft 21 5 30f.
2 Deutscher Bundestag, Drucksache VT/653.
3 Bundestags-Drucksache VI/1211 u 739; s dazu Jürgen Seifert, Grundgesetz und Restauration, Darmstadt 1975, 544.
4 Spiegel-Gespräch: „Der Rechtsstaat auf dem Hackklotz” in: Der Spiegel, Jg 30, Nr 8, 16. 2. 1976, 5 34.
5 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat; deutsche Ausgabe Frankfurt am Main/Köln 1974; amerikanische Ausgabe: zuerst 1940.
6 Bernhard Blanke, „Staatsräson‘ und demokratischer Rechtsstaat” in: Leviathan, Jg 3, Heft 2, 1975, S 167.
7 Vgl dazu Uwe Günther und Friedhelm Hase, „Bericht über den Rechtspolitischen Kongreß der Vereinigung Demokratischer Juristen am 9.10. 1976 in Frankfurt/Main” in: Demokratie und Recht, 1976, Heft 4, 5 416–418; die Berichterstatter, die dem Bericht über einen Vortrag von mir weniger Raum zubilligen als der von ihnen auf dem Kongreß nicht vorgetragenen Kritik an meinem Referat, in dem ähnliche Thesen vorgetragen wurden wie in diesem Beitrag, haben mich mit der Unterstellung eines „vorschnellen und globalen Faschismusverdachts” entweder völlig mißverstanden oder versuchen mich aus politischen Gründen als Repräsentant einer „ultra-linken” Position hinzustellen.
8 Siehe dazu Jürgen Seifert, Kampf um Verfassungspositionen, Köln/Frankfurt am Main, 1974, 5 10 und 11.
9 Siehe dazu Robert Leicht, „Trotz böser Erfahrungen kein Anlaß zur Resignation” in: Süddeutsche Zeitung, 28.1.1977, Nr22,S4.
10 Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29.10.1975; abgedruckt in: Erhard Denninger (Hrsg), Freiheitliche demokratische Grundordnung, Bd II, Frankfurt am Main 1977, 5 692 ff; auf diese im Zusammenhang dieses Beitrages wichtige Sammlung weise ich besonders hin.
11 Siehe dazu Jürgen Seifert, „Das Auslegungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts bei der Verwirkung von Grund-rechten”, in: ebda, Bd 1, 5 225 ff.
12 Siehe dazu „Memorandum der Humanistischen Union zum Entwurf eines Gesetzes über den Verfassungsschutz im Lande Niedersachsen” in: Vorgänge 19, 5 115 ff; das Memorandum hat durch die Überwachungsaktion des Verfassungsschutzes im Fall Dr. Traube erneut Aktualität erlangt.
13 Siehe dazu meine „Anmerkung” in: Kritische Justiz, Jg 7, Heft 2/1974, 5 208 f und die Ergänzung dazu „Offene Beschattung“ durch die Sicherungsgruppe” in: ebda, Jg 8, Heft 1/1975, S 99f.
14 Ulrich K. Preuß, Legalität und Pluralismus, Frankfurt am Main 1973, 5 9 ff; Otto Kirchheimer, „Legalität und Legitimität” in: Herrschaft. Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat, Frankfurt am Main 1967, 5 10.
15 Siehe dazu Jürgen Seifert, „Wer bestimmt den ‚Verfassungsfeind‘?” in: Peter Brückner, Diethelm Damm, Jürgen Seifert: 1948 schon heute oder Wer hat Angst vorm Verf assungsschutz?, Frankfurt am Main 1976, 5 95.
16 Ulrich K. Preuß, aaO (Anm 14), 5 16 ff spricht von „Superlegalität”; vgl in diesem Zusammenhang meinen Beitrag „Verfassungsgerichtliche Selbstbeschränkung” in: Mehdi Tohidipur: Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik; Frankfurt am Main 1976, 5 116-135.
17 Helmut Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, 5 59.
18 Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, Berlin 1973, 5 260.
19 Vereinigung Deutscher Wissenschaftler eV (Hrsg), Der permanente Notstand, Memorandum von Helmut Ridder und Ekkehart Stein, Göttingen 1963, 5 13; s auch Jürgen Seifert, Der Notstandsausschuß, Frankfurt/Main 1967, insb 5 95.
20 Siehe dazu die nicht unproblematischen Ausführungen von Helmut Ridder, aaO (Anm 17), 5 64 zum Verf ahren gegen die SRP und die Anerkennung der heutigen KPD durch den BGH, S72.
21 Deutscher Bundestag, Sitzung vom 15.11.1974, zitiert nach Denninger, aaO (Anm 10), Bd II, 5 580; siehe dazu die Entgegnung von B. Hirsch, ebda, 5 585.
22 So Uwe Günther und Friedhelm Hase aaO (Anm 7), 5 418.

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